Als Karl Leisner am 22. März 1934 am Gymnasium in Kleve sein Abitur machte, herrschten noch andere Verhältnisse als heute. Unter der Überschrift „Im Strom der Lemminge – Rheinland-Pfalz hat sich auf den Weg zum Abitur für alle gemacht und gibt inzwischen die Themen für das Abitur lange vorher bekannt. Die Hochschulreife gerät so zu einer Farce“, berichtete Walter Oldenbürger in der F.A.Z. vom 9. März 2017 über die heutige Situation der Schüler und deren Abitur. Er schildert zunächst ein Vorkommnis, das inzwischen kein Witz mehr ist:
Im März 2015 erkundigte sich ein angehender Abiturient aus Nordrhein-Westfalen beim Schulministerium, ob er auf Grund der „Informationsfreiheit“ die Abiturthemen bereits vor dem Tag der Klausur bekommen könne. Damals ein Witz, der allgemeine Heiterkeit hervorrief. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Walter Oldenbürger auf, was seines Erachtens alles falsch läuft, warnt vor dem „Abitur für alle“ und beklagt die immense Zahl von Studienabbrechern und psychisch erkrankten Studierenden sowie die Tatsache, daß sich die „Inflation der,Spitzenzensuren’“ an der Universität „ruinös“ fortsetzt, wodurch die tatsächlich Begabten in ihren Möglichkeiten einschränkt werden und „leistungsorientierte Professoren“ als „lästige Störenfriede“ gelten.
Karl Leisner gehörte zu den besten Schülern seiner Abiturklasse, dennoch konnte er mit seinem Abiturzeugnis noch nicht sofort studieren; denn in der NS-Zeit war es üblich, Abiturienten noch „zappeln“ zu lassen, bevor sie die zum Studium an der Universität notwendige Bescheinigung der Hochschulreife bekamen. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, erlangte für die angehenden Theologiestudenten eine Ausnahme bezüglich der Zulassung. Somit konnte Karl Leisner im Mai 1934 sein Studium beginnen.
Willi Astrath:
1934 wurde nämlich nur einem Teil derer, die das Abitur bestanden hatten, gleichzeitig auch die Hochschulreife zuerkannt; diese Erteilung aber war in den meisten Fällen abhängig von der politischen Einstellung, nicht von den Leistungen; also erhielten sie viele Aspiranten des geistlichen Standes nicht. Nach langen Verhandlungen gelang es Bischof Clemens August, für Theologen eine Sonderregelung zu erzielen. Die zuständigen Schulen konnten den Abiturienten bescheinigen, daß sie für das Studium der Theologie geeignet waren. Mit dieser Bescheinigung konnten sie sich in der Katholisch-theologischen Fakultät immatrikulieren lassen, aber nicht in einer anderen.[1]
[1] Astrath, Wilhelm: Die Geschichte des Collegium Borromaeum von seiner Gründung 1854 bis zum Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg. In: 100 Jahre Bischöfliches Collegium Borromaeum zu Münster 1854–1954, Münster 1954: 39–106, hier 87f.
Rolf Eilers:
Das Gesetz „gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen [vom 25. April 1933]“, das erstmals auf den Abiturjahrgang 1934 angewandt wurde, war ein Druckmittel für die Oberstufenschüler zum Eintritt in die HJ. Damit war der Versuch gegeben, Mitglieder katholischer Jugendorganisationen vom Studium auszuschließen, es sei denn, sie studierten Theologie.[1]
[1] Eilers, Rolf: Die nationalsozialistische Schulpolitik, Opladen 1963: 181
Aus der Zeitung Junge Front:
15.000 Abiturienten dürfen studieren
Amtlich wird mitgeteilt: Der Reichsminister des Innern [Wilhelm Frick] hat die Zahl der Abiturienten, denen im Jahre 1934 die Hochschulreife zuerkannt wird, auf 15.000 begrenzt. Die Hochschulreife soll nur denjenigen Abiturienten zugesprochen werden, die geeignet erscheinen, den besonderen durch die Hochschule gestellten Anforderungen nach ihrer geistigen und körperlichen Reife, nach ihrem Charakterwert und ihrer nationalen Zuverlässigkeit zu genügen.
Die Richtzahl von 15.000 verteilt sich auf die einzelnen Länder wie folgt: Preußen 8.984, Bayern 1.670, Sachsen 1.339, Württemberg 611, Baden 574, Thüringen 390, Hessen 340, Hamburg 398, Mecklenburg 172, Oldenburg 122, Braunschweig 122, Anhalt 87, Bremen 105, Lippe 40, Lübeck 34, Schaumburg-Lippe 12. – Die Zahl der Abiturientinnen, denen die Hochschulreife zuerkannt wird, ist nicht besonders bestimmt worden; jedoch darf der Anteil der Abiturientinnen an der Gesamtzahl der Hochschulberechtigten in keinem Land 10 v. H. der zugewiesenen Zahl überschreiten.
Die Zuerkennung oder Versagung der Hochschulreife darf nicht auf dem Reifezeugnis vermerkt werden. Über die Zuerkennung der Hochschulreife ist neben dem Reifezeugnis eine besondere Bescheinigung zu erteilen. Der Abiturient darf bei der Bewerbung um einen praktischen Beruf von dieser Bescheinigung keinen Gebrauch machen; die anstellende Stelle darf die Vorlage der Bescheinigung nicht verlangen.
Die Begrenzung der Zahl der hochschulreifen Abiturienten wird von nachhaltigen und wirksamen Bemühungen begleitet sein, die Abiturienten ohne Hochschulreife praktischen Berufen zuzuführen.
An alle Kreise der Wirtschaft und die Personalstellen der Behörden ergeht der Ruf, durch Bereitstellung von Lehr- und Ausbildungsstellen daran mitzuwirken, daß die im Frühjahr aus den höheren Schulen zur Entlassung kommenden wertvollen jungen Menschen zweckmäßig in das Wirtschaftsleben eingegliedert werden können.
Es wird erwartet, daß auch ein Teil der Berechtigten von der Studienmöglichkeit keinen Gebrauch macht und daß ferner die Hochschulen stärker als bisher an der Ausleseaufgabe mitwirken. Diejenigen Abiturienten, denen die Hochschulreife versagt wird, sollen damit keineswegs als allgemein minderbefähigt gekennzeichnet sein; sie sind nur durch ihre Anlage auf Berufe verwiesen, für die es des theoretischen Studienganges durch die Hochschule nicht bedarf. Daraus ergibt sich, daß es nicht angängig ist, bei der Zuerkennung eine bereits bestehende Berufs-absicht zugrunde zu legen; ferner ergibt sich daraus, daß die Zulassung kein müheloser Vorzug ist, sondern, daß ein hohes Maß von Eigenverantwortung von dem Hochschulberechtigten erwartet und gefordert wird.
In den folgenden Jahren wird eine von Jahr zu Jahr fallweise festzusetzende weitere Senkung der Richtzahl eintreten.
Im übrigen ist vorgesehen, durch neue Auslesebestimmungen die Zahl der Besucher der höheren Schulen, vor allem der Oberstufe, künftig so zu senken, daß ein Eingriff bei den Abiturienten bzw. beim Übertritt in die Hochschule nicht mehr erforderlich ist.
Gleichzeitig wurde ein Organisationsplan der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung veröffentlicht, der geeignete Maßnahmen zur Unterbringung von Abiturienten und Abiturientinnen in praktische Berufe vorsieht. Man ist dabei von dem Gedanken ausgegangen, daß diese Unterbringung nicht dem Zufall und auch nicht ungeeigneten Hilfsmaßnahmen überlassen werden könne. Die Organisation müsse planvoll durchgeführt werden.[1]
[1] Junge Front 1934 – Nr. 1 vom 7.1.1934: 6
Im Tagebuch von Antonius Wissing befinden sich folgende lose eingelegte Zeitungsausschnitte:
Für 10734 Hochschulreife
Erlaß des preußischen Kultusministers [Bernhard Rust]
dnb Berlin, 7. Februar [1934].
Der Preußische Kultusminister Rust hat jetzt in Durchführung des Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen und des Erlasses des Reichsinnenministers [Wilhelm Frick] für das Land Preußen die Zahl der Abiturienten und Abiturientinnen, denen im Jahre 1934 die Hochschulreife zuerkannt werden darf, auf 10.734 festgesetzt (darunter 1.048 Abiturientinnen) und die Regelung der Zuerkennung der Hochschulreife getroffen.
Nach diesem Erlaß erfolgt die Ausstellung der Hochschulreifezeugnisse im Rahmen der den einzelnen Provinzen zugewiesenen Zahlen durch den Oberpräsidenten.[1] Nur auf Antrag des Abiturienten hin wird das Hochschulreifezeugnis erteilt. Der Antrag ist mit der Einwilligungserklärung des Erziehungsberechtigten und mit Angabe des erwählten Studiums dem Leiter derjenigen Schule einzureichen, an der die Reifeprüfung abgelegt werden soll. Die Anträge werden von den Anstaltsleitern im Anschluß an die bestandene Reifeprüfung an den Oberpräsidenten weitergereicht, jedoch hat der Anstaltsleiter unter eigener Verantwortung in jedem Falle zur Frage der besonderen Hochschulreife ausführlich gutachtlich Stellung zu nehmen.
Der Oberpräsident wird von den Anträgen dem zuständigen Gauleiter der NSDAP Kenntnis geben mit der Bitte, etwaige Bedenken gegen die politische Zuverlässigkeit des Antragstellers mitzuteilen.
Den Oberpräsidenten liegt die Sorge ob, öffentliche und private höhere Lehranstalten angemessen zu berücksichtigen. Eine schematische Unterverteilung auf die einzelnen Lehranstalten ist nicht zulässig. Der Oberpräsident wird vielmehr den besonderen Verhältnissen der einzelnen Schulen Rechnung zu tragen haben und deren Leistungsfähigkeit bei der Verteilung berücksichtigen müssen. Die Zubilligung der Hochschulreife an Herbstabiturienten und Nichtschüler, die während des Jahres 1934 die Reifeprüfung bestehen, wird dabei ebenfalls nicht außer acht zu lassen sein. Der Erlaß ermächtigt die Oberpräsidenten, das Zeugnis der Hochschulreife erst dann zu erteilen, wenn sich ergibt, daß die volle Zahl der zugebilligten Hochschulreifezeugnisse voraussichtlich nicht in Anspruch genommen werden wird.
[1] Für Karl Leisner war der Oberpräsident der Rheinprovinz in Koblenz, Hermann Freiherr von Lüninck, zuständig.
Die Meldepflicht der Direktoren und die Zuerkennung der Hochschulreife
dnb Berlin, 22. März [1934]
Nach der Verfügung des Reichsinnenministeriums und der Reichsleitung des Deutschen Arbeitsdienstes sind die Direktoren aller deutschen Schulen verpflichtet, bis zum 20. März 1934 die Namen und Anschriften sämtlicher Abiturienten an den für den Schulort zuständigen Arbeitsgau, bzw. bei den Abiturientinnen an die zuständige Landesstelle zu melden. Da bisher nicht alle Direktoren ihrer Meldepflicht bis zum festgesetzten Termin, am 20. März 1934, nachgekommen sind, fordert die Deutsche Studentenschaft die Direktoren, die die Meldung noch nicht vorgenommen haben, auf, die Namen und Anschriften der Abiturienten dem zuständigen Arbeitsgau, die der Abiturientinnen der zuständigen Landesstelle bis spätestens zum 26. März 1934 zu übersenden.
Alle Abiturienten und Abiturientinnen werden darauf hingewiesen, daß sie bei der Meldung zum Diensthalbjahr eine amtliche Mitteilung über die Zuerkennung der Hochschulreife vorweisen müssen. Alle Abiturienten und Abiturientinnen, die die Hochschulreife erhalten und zu studieren beabsichtigen, und damit zur Ableistung des Diensthalbjahres im Sommer 1934 verpflichtet sind, müssen deshalb diese schriftliche amtliche Mitteilung selbst anfordern, wenn ihnen die Hochschulreife bisher nur mündlich zuerkannt worden ist.
Theologie und Hochschulreife
Ein Schreiben des Reichsministers [Wilhelm Frick] – Voraussetzungen zur Zulassung
München, 12. April [1934]
In einem Schreiben des Reichsministers an die Unterrichtsverwaltung der Länder heißt es, daß das württembergische Kultusministerium, der evangelisch-lutherische Landes[kirchen]rat und der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz [Adolf Kardinal Bertram] übereinstimmend dargelegt haben, daß die Kirchen ihren Bedarf an Theologiestudenten aus der Zahl der hochschulreifen Abiturienten zu decken nicht in der Lage seien. Wenn auch die Zahl der für hochschulreif erklärten Abiturienten nicht so hoch bemessen werden kann, daß die Kirchen mit dieser Zahl ihren Nachwuchsbedarf decken können, so müsse doch andererseits den Kirchen ermöglicht werden, die nötige Zahl von Theologen ins Studium zu bringen. In dem Schreiben wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Kirchen wohl bemüht sein müßten, ihren Nachwuchsbedarf in erster Linie aus den hochschulreifen Abiturienten zu erlangen. Soweit ihnen dies nicht möglich ist, dürfen die Kirchen die am Nachwuchsbedarf fehlende Zahl aus den nichtberechtigten Abiturienten unter folgenden Voraussetzungen ergänzen:
- Kirchen stellen bezirksweise (nach Landeskirchen, Provinzen oder Diözesen) ihren Nachwuchsbedarf zahlenmäßig fest.
- Die Kirchen decken diesen Bedarf in erster Linie aus den Meldungen der hochschulreifen Abiturienten.
- Nichtberechtigte Abiturienten dürfen nur innerhalb der Bedarfszahl (zu 1) unter Abrechnung der zugelassenen hochschulreifen Abiturienten (zu 2) ins Studium der Theologie eintreten.
- Die nichtberechtigten Abiturienten haben (durch Vermittlung der Religionslehrer) eine Bescheinigung des Leiters der Schule, an der sie die Reifeprüfung abgelegt haben, beizubringen, wonach aus der Versagung der allgemeinen Hochschulreife keine schweren Bedenken gegen das Studium der Theologie herzuleiten sind.
- Die gemäß Ziffer 4 beurteilten und von den Kirchenbehörden in die Bedarfszahl aufgenommenen Abiturienten sind zur Einschreibung in die theologischen Fakultäten (nicht in andere Fakultäten) bzw. zur Aufnahme in die den theologischen Fakultäten entsprechenden Anstalten als vollberechtigte Studenten zugelassen. Ob sie zur Tätigkeit als Religionslehrer im staatlichen Amte und zur akademischen Prüfung zugelassen sein werden, bleibt späterer grundsätzlicher Entscheidung vorbehalten. Der Zugang zu anderen Studienbahnen ist ihnen verschlossen.
In einem weiteren Artikel ohne Datumsangabe heißt es:
Beschränkung des Hochschulstudiums – eine Notmaßnahme
Kein Rückgang der Anforderung an die Reifeprüfung
Der Erlaß des preußischen Kultusministers [Bernhard Rust] zur Ausführung der Reichsvorschriften über die Beschränkung des Hochschulzuganges, der jetzt im Wortlaut bekannt wird, enthält über die Verfahrensbestimmungen hinaus noch beachtenswerte Ausführungen des preußischen Kultusministers über den Charakter dieser Maßnahme und die Anforderungen, die an die Abiturienten künftig zu stellen sind. Der Minister weist, wie das VDZ-Büro [? Verband Deutscher Zeitschriftenverleger] meldet, darauf hin, daß die geistige Befähigung allein für die Zuerkennung der Hochschulreife nicht ausschlaggebend sein dürfe, wenn auch selbstverständlich in dieser Beziehung hohe Anforderungen zu stellen seien. Besonderes Augenmerk sei bei der Auswahl vielmehr auf der charakterlichen Eignung, Lauterkeit der Gesinnung, Festigkeit des Willens, Kameradschaftlichkeit, unbedingter nationaler Zuverlässigkeit und Hingabefähigkeit im Sinne der nationalsozialistischen Staatsauffassung zuzuwenden. Nicht minder verdiene die körperliche Tüchtigkeit, wie der Besitz des Reichssportabzeichens, sowie die Bewährung im Volkssport und in den nationalen Verbänden volle Berücksichtigung.
Der von der Reichsregierung angeordnete Eingriff in die Zulassung zum Hochschulstudium stelle lediglich eine Notmaßnahme dar, die sich hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit erübrigen werde, wenn der Zudrang zum Hochschulstudium in ein angemessenes Verhältnis zu dem Bedarf der akademischen Berufe getreten sei. Ein Herabsinken der Anforderungen für das erfolgreiche Bestehen der Reifeprüfung dürfe daher keinesfalls geduldet werden.
Vermutlich wurde den Abiturienten die Hochschulreife zu unterschiedlichen Zeiten zugesprochen.
Tagebucheinträge und Dokumente zu Karl Leisners Abitur und zur Erlangung der Hochschulreife:
Siehe Aktuelles vom 22. März 2014 „Karl Leisners Abitur vor 80 Jahren“
und
Aktuelles vom 4. Juli 2013 „Hochschulreife für Karl Leisner“.