Ahnte Karl Leisner sein Schicksal voraus?

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Wer heute Karl Leisners Texte liest, spürt darin dessen gewisse Vorahnung sowohl in Bezug auf die Beantwortung der Frage „Priestertum“ oder „Ehe und Familie“, als auch in Bezug auf das Sterben.

 

Karl Leisner las das Buch „Der Tod im Gehorsam“ von Hanns Rosenberg und identifizierte sich mit dem Schicksal und dem Sterben des legendären Mönches Bernulf und des historischen Kaplans Reinhold.

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Münster, Sonntag, 16. Januar 1938, 2. Sonntag nach Erscheinung
Ich lese den Epheserbrief und ein Schimmer vom Christusgeheimnis geht mir auf.[1] – Ach, ich soll Priester werden, ich ganz, ganz Kleiner, der ich im­mer nur mich, meine Geltung suchte, nicht Christus und sein Werk standen im hellsten Licht der Tat und des Lebens.
[…]
R. [Josef Rommerskirchen] erzählt mir von seiner gro­ßen Liebe sehr fein. – Was soll das. Wir erzählen vom Wachsen junger Fa­milien. Da ist’s wieder angestoßen die Wunde des Leides, des in­nersten Verstummens und der tiefsten Traurigkeit in mir. Stumm liege ich eben auf dem Bett und die namenlose Sehnsucht überkommt mich: Quid faciam? [Was soll ich ma­chen?]
Was will Gott von mir? Kann ich es? – Im Beten der beruhigenden Abend­psalmen des Completorii Dominicae [der Sonntagskomplet: Ps 4; Ps 90/91; Ps 133/134] spüre ich wieder Ruhe und Geborgenheit. Aber Klarheit der Entschei­dung tut not. Ein eigenes „halb zog es (ihn), halb sank er hin“[2] – oder, ja ich glaub’ es nun zu sehen: eine heimliche Führung des Heiligen Geistes führt mich in die Aula [des Collegium Borromaeum], wo der Dich­terfreund Dr. [Paul] Wolffs, der morgen über „Nietzsche und das christ­liche Ethos“[3] spricht, Rosenberg seine Novelle „Der Tod im Gehorsam“[4] oder „Der letzte Akt spielt 1000 Jahre später“ uns vorträgt. Es wird zu einer eigenartigen Weihestunde: Die ganze geistige Situation, des „satten“ Kul­tur-Katholiken ist treffend gezeichnet. Dieser Egoist, ich fühle mich mitge­zeich­net! – O diese „Legende“ von der cellula [Zelle] St. Bernulfi – und nach 1000 Jahren das Leben des Kaplan Reinhold: Der Tod im Gehorsam. – Er­schüttert geh’ ich auf meine cellula – und jetzt kann ich nicht mehr schreiben – ich bin aufgewühlt und erschüttert. Das war ein Ruf der Gnade. Vernimm’ ihn. – Bist du bereit?[5]
[…]
Ich weiß nicht, wenn ich diesen Tag bedenke … Veni, Sancte Spiritus! {Komm, Heiliger Geist!] Dir will ich in Gehorsam folgen. Mein Ich soll in Gehor­sam stehen – und sterben, wenn es sein muß. – Ich weiß nicht, aber …
Chri­stus: Wer sich selbst verliert, wird sein Leben gewinnen! [vgl. Mt 10,39 und öfter]

[1] s. Eph.1,3–23
[2] „Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn“ – Schluß der Ballade Der Fischer von Johann Wolfgang von Goethe
[3] Wolff, Paul: Nietzsche und das christliche Ethos, Regensburg 1940
[4] Rosenberg, Hanns: Der Tod im Gehorsam, Leipzig: St. Benno-Verlag 11958, Hg. Heinrich Theissing, mit Illustrationen von Georg Nawroth
1935 hatte Hanns Rosenberg die Novelle unter seinem Decknamen „Salvian“ veröf­fentlicht.
Klappentext:
Die in der Novelle geschilder­ten Begebenheiten sind keine historischen Tat­sa­chen, zeugen aber von dem Einfühlungsvermögen des Dichters und Histori­kers in die Welt des 10. Jahrhunderts im Land zwischen Saale und Elbe. Ande­rerseits lassen sie in der Darstellung der katholischen Diaspora Anfang des 20. Jahr­hunderts aufleuchten, was das Leben der Diasporakirche prägt: die, wenn auch äußer­lich versunkene, aber durch die Gnade immer noch wir­kende katholi­sche Vergangen­heit und die zum inneren Wandel drän­gende Glaubens­bewäh­rung des einzelnen.
[5] Die Legende erzählt vom Sterben des Mönches Bernulf im absoluten Gehorsam und von seiner Beisetzung, bei der sich die bereits das Kloster stürmenden Feinde bekehren.
Eng verwoben mit dieser Legende ereignet sich etwa 1000 Jahre später Ähn­li­ches. Der schwer lun­genkranke Vikar Rein­hold, Priester in einer elenden Baracken­­sied­lung, widersetzt sich vehement dem dringenden Rat nicht nur seiner Mutter, sondern auch seines Bischofs und seines Arztes, seine seel­sorgerische Tätigkeit aufzugeben und sich in ein Lungensanatorium in der Schweiz zurück­zu­ziehen; statt dessen opfert er sich für die Menschen seiner Gemeinde auf.
Hanns Rosenberg:
Er hat gleich seinem Meister die Seinen bis ans Ende geliebt und sich buch­stäblich für sie hingege­ben. […] So kam es denn, wie es Gottes und damit auch des Vikars Wille war: Kurz nach Weihnachten begann er dahinzu­schwinden, ohne Klage, ohne Schmerz, vor allem aber ohne den leisesten Zwei­fel, sich für das eine Notwendige entschieden zu haben. Zur Stunde sei­nes Erlöschens war seine gesamte Gemeinde um ihn: Er ist, so darf man sagen, in voller Öffentlichkeit gestorben; nicht einmal sein Tod gehörte ihm! Seine letzten ver­ständlichen Worte waren ein priesterlicher Segen für die Sei­nen, für ihre Kinder, für die Versprengten und Verführten, für alle seine Freunde nah und fern.
[… Bei seiner Beerdigung wandten sich sechs Män­ner an den Pfarrer]: „Ent­schuldigen Sie, Herr Pfar­rer, […] Sie werden uns nicht kennen; wir sind aus der Kirche ausgetreten, aber wir möchten es wie­dergutmachen und es auch in aller Öffentlichkeit zeigen und bitten deshalb, den toten Herrn Vikar da auf unseren Schultern zu Grabe tragen zu dürfen, um ihm … zu danken. Er hat unseren Kindern nur Gutes getan; wir werden keine Silbe mehr gegen die Kirche sagen, die solche Priester hat wie den da, und außerdem … außerdem … haben wir gehört, als wenn er freiwillig für uns gestorben wäre …! (Rosen­berg 1958: 45f.).