Augenloses Schauen

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Karl Leisner am 15. Juli 1945 auf dem Krankenbett im Waldsanatorium Planegg

 

 

 

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Foto Wikipedia

Czesław Miłosz (* 30.6.1911 in Šeteniai/Litauen, † 14.8.2004 in Krakau/Polen) – Dichter u. Literaturnobelpreisträger

 

 

Das Gedicht „Augen“ von Czesław Miłosz erinnert an Karl Leisners Gedanken auf dem Krankenbett im Waldsanatorium Planegg. In der Übersetzung von Christian Heidrich beginnt das Gedicht:
Augen
Meine verehrten Augen, es steht nicht gut um euch.
Ich erhalte von euch undeutliche Skizzen.
Wenn aber Farben, dann vernebelt.
Dabei wart ihr eine Meute königlicher Jagdhunde,
Mit der ich an manch einem Morgen loszog.
Ihr meine zupackenden Augen, viel habt ihr gesehen
An Ländern und Städten, Inseln und Ozeanen.
[…]

Das Gedicht schließt mit dem Satz:
Augen, bin ich fixiert auf den einen hellen Punkt,
Der immer weiter wird und mich umschließt.

Vollständiges Gedicht in: Otto Betz, Augenloses Schauen, in: Christ in der Gegenwart Nr. 28/2014 S. 318

Ohne dieses Gedicht zu kennen, beschrieb Karl Leisner für sich eine ähnliche Situation:

Planegg, Samstag, 16. Juni 1945
Zwischendurch schaue ich herrliche Bilder aus Dr. [Wilhelm] Cor­mans „Europa“-Buch des At­lantis­verlages – Zürich. Ich bin auf Fahrt und stau­ne, und freue mich. Nur eins: Du ar­mes Eu­ropa, zurück zu Dei­nem Herrn Jesus Chri­stus! (Dort ist Deine Quelle für das Schönste, was Du trägst.) Zurück zu den fri­schen Quellen an göttli­ch wah­rer Kraft!! Hei­land, laß mich ein wenig Dir dabei In­stru­men­tum sein, o ich flehe Dich an!

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Hürlimann, Martin: Europa: Bilder seiner Land­schaft und Kultur, Zürich 1943

 

 

 

Planegg, Montag, 18. Juni 1945 [Tgb. 27, 26f.]
Spülung mit Lugolscher Lö­sung, frischer Ver­band. Eine Wohltat! Schaue aus dem Eu­ropa­buch England (was für ein herrli­ches Land!!), Irland (still und grün und arm), Schottland. Nach­mittags Schwe­den (einzig!), Däne­mark, Nor­wegen, Finnland und Hol­land.[1] Das Herz geht mir auf vor heller Freude. So, jetzt Schluß, hab’ mich zu sehr ange­strengt heut’ nach­mit­tag!![2] Denke immer an Profes­sor Dr. [Josef] Hö­fers Rat: „Leben Sie wie eine Pflanze!“ – – –

[1] Die Bilder der genannten Länder befinden sich im mittleren Teil des Buches (Hürlimann 1943: 108–182). Vermutlich hat Karl Leisner sich an den beiden vor­aufgehenden Tagen vorwie­gend im vorderen Teil des Bu­ches (Hürlimann 1943: 1–107) die Bilder aus Griechenland, Italien, Spanien und Frankreich ange­schaut. Im letzten Teil des Bildbandes (Hürlimann 1943: 183–283) befinden sich vor allem Fotos aus Osteuropa, aber auch aus Deutsch­land, Österreich und der Schweiz.
[2] vermutlich nicht nur wegen des Anschau­ens der Bil­der, sondern auch aufgrund der Größe (23 × 31 × 2,5 cm) und des Gewich­tes (1.500 gr) des 262seitigen Buches

Eine unendliche Fülle geschauter Eindrücke hat sich dem todkranken Karl Leisner eingeprägt. Hungrig waren seine Augen – was haben sie alles aufgenommen, welch reichen Schatz haben sie in seinem Gedächtnis versammelt! Und nun tauchen sie in der Erinnerung wieder auf: Fahrten und Wanderungen, Landschaften und Städte, unvergeßliche Momente. Dazu gehört auch seine Vision von Europa, die sich durch sein ganzes Leben zieht. Wie es heute um Europa steht, davon konnte er damals nur träumen.

Link zu Karl Leisner und Europa