Barmherzigkeit ist für Papst Franziskus ein wichtiges Thema, das war es auch für Karl Leisner.
Der Wahlspruch des Papstes lautet wie bereits während seiner Zeit als Bischof:
miserando atque eligendo – aus Barmherzigkeit erwählt
Seit 2000 wird der 2. Ostersonntag (Weißer Sonntag) im Festkalender der Kirche zugleich als Sonntag der Barmherzigkeit begangen.
Vom 8. bis 11. Dezember 1933 machte Karl Leisner Exerzitien bei den Jesuiten in ’s-Heerenberg bei Pater Wilhelm Joist SJ. In dieser Zeit, kurz vor dem Abitur, fiel seine Entscheidung, Theologie zu studieren und Priester zu werden.
Bonifatiushaus in ’s-Heerenberg
In dn Exerzitien spielte auch das Thema Barmherzigkeit eine Rolle. In Karl Leisners Notizen aus den Vorträgen heißt es zum Beispiel am Samstag, 9. Dezember 1933:
Wie kann Gott denn für den kurzen Augenblick der Sünde eine solch furchtbare, ewige Strafe [der Hölle] verhängen? Er ist doch der barmherzige Gott!
Den kurzen Augenblick der Tat kann man keineswegs in Vergleich setzen mit der Länge der Strafe. Sehen wir uns einen an, der für Mord lebenslänglich im Zuchthaus sitzen muß:
[…]
Und doch ist Gott unendlich barmherzig. Er verzeiht!
[…]
Über das Wesen und die Wohltat der Beichte. Der Pater spricht von der allumfassenden Barmherzigkeit Gottes und der Liebe Jesu Christi zu uns. – Aus unendlicher Liebe zu uns setzte er dieses heilige Sakrament ein. Es war das große „Ostergeschenk“ des Heilandes an die Kirche. Er kannte und wußte um unsre Schwachheit und aus Liebe setzte er es ein. – Es ist eine psychologische Tatsache, daß der Mensch das Bedürfnis hat, sich in einer Sache, die ihn arg drückt, auszusprechen. Dies wußte der Heiland, in seiner Liebe für uns schuf er so die Beichte.
Wenn das Wort Barmherzigkeit auch nach 1933 in Karl Leisners Tagebüchern nicht mehr so oft vorkommt, so war er doch zeitlebens von einer barmherzigen Haltung geprägt. Wie sonst könnte der letzte Satz in seinem letzten Tagebuch, das er noch im KZ Dachau begonnen hatte, lauten:
Segne auch, Höchster, meine Feinde!
Auch bei Papst Franziskus klang die Barmherzigkeit gleich am Anfang seines Pontifikates auf. Er hatte während des Konklaves das Buch „Barmherzigkeit“ von Walter Kardinal Kasper gelesen.
Daniel Deckers schrieb am 21. März 2013 in der F.A.Z.:
Die Liste der Gratulanten aus Anlass des 80. Geburtstags am 5. März war lang, die Fülle der Geschenke beträchtlich und die für einen ehemaligen deutschen Professor obligatorische Festschrift noch gewichtiger als die beiden ersten. Ein Geschenk freilich hatte sich der vormalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen selbst gemacht: Er schrieb ein Buch, das rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag erschien.
Dann geschah etwas, was mit „glücklicher Zufall“ unzureichend beschrieben ist. Eine Woche nach seinem Geburtstag musste der seit längerem in Rom ansässige Kardinal in ein Hotel ziehen. Das Zimmer, das ihm zugelost worden war, lag dem eines Argentiniers schräg gegenüber. Der Deutsche kannte den Argentinier schon lange und hatte immer viel von ihm gehalten. Vor acht Jahren hatte er ihm und sich sogar gewünscht, dass der Argentinier seinen Wohnsitz in seine Nähe verlegen würde. Daraus wurde nichts. In alter Verbundenheit schenkte er ihm jetzt sein neues Buch in spanischer Übersetzung. Inmitten diverser Verpflichtungen, die höchst unerwartet auf den Argentinier zukamen, nahm dieser sich Zeit, das Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Und anstatt wie geplant am vergangenen Sonntag nach Buenos Aires zurückzufliegen, stellte sich der Mann an ein offenes Fenster und pries das Buch einer in die Millionen gehenden Leserschaft aller Welt als wegweisend und lesenswert an. Walter Kardinal Kasper hatte Jorge Mario Bergoglio alias Papst Franziskus mit seinem Buch „Barmherzigkeit“ aus dem Herzen gesprochen – nicht obwohl, sondern weil das stattliche Werk aus der Not geboren worden war.
Denn als Kasper sich vor Jahren daranmachte, einen Vortragszyklus zu entwerfen, wollte ihm der Vortrag über „Barmherzigkeit“ nicht gelingen. Mochte das Neue Testament in dieser Tugend eine, wenn nicht die zentrale Eigenschaft des Gottes Jesu Christi sehen, hatte die Theologie seit der Antike die längste Zeit einen schlanken Fuß gemacht. Das Ergebnis langer Recherche war für den Wissenschaftler, der mehr als 25 Jahre in Münster und Tübingen Theologie gelehrt hatte, bitter: „Die christliche Spiritualität und Mystik ist in dieser wie in anderen Fragen der Schultheologie um Längen voraus.“
Kasper wäre nicht Kasper, hätte er nicht aus der Not eine Tugend gemacht. Mit der Weisheit des hohen Alters gesegnet, hat er es unternommen, „theologische Reflexion mit geistlichen, pastoralen und auch gesellschaftlichen Überlegungen zu einer Kultur der Barmherzigkeit zu verbinden“. Wem an dieser Stelle schwant, das Buch sei ein weiterer Beitrag zur Unkultur geistloser Banalität auf dem Markt sogenannter religiöser Bücher, der sei beruhigt. Unter den Theologen deutscher Zunge dürfte es mit Ausnahme seines Professor-, Bischofs- und Kardinalskollegen Karl Lehmann niemanden geben, der in abendländischer Philosophie wie auf den verschlungenen Pfaden der theologischen Traditionen so bewandert ist wie Kasper. Den Hürden und Klippen ausweichen gilt nicht – das ist Kasper sich schuldig.
Doch neben die methodische Strenge gegenüber dem Gegenstand tritt in der Durchführung immer wieder die Sache selbst – einfühlsam und anschaulich verwebt Kasper philosophische, biblische und theologische Fäden zu einem dichten Netz, das eine Fülle geistlicher und praktischer Wegweisung enthält.
Entstanden ist ein kleines Vademekum der Menschlichkeit, die sich nicht scheut, auch konkrete gesellschaftliche, politische und kirchliche Fehlentwicklungen zu benennen. Letztere etwa sieht Kasper nicht zuletzt in einem falschen Verständnis von Barmherzigkeit angelegt: Nicht Laissez-faire ist das Heilmittel, sondern das rechte Maß zwischen Legalismus und Laxheit.
Doch nicht nur die Passage über „Kirche unter dem Maß der Barmherzigkeit“ wird Papst Franziskus gelesen haben – auch jene über die klassischen „Werke der Barmherzigkeit“ und deren Bedeutung im Privaten wie im Gesellschaftlichen. Und natürlich jene über die Gottesmutter Maria. Als er Dienstag zum Abschluss des Einführungsgottesdienstes schweigend vor der Marienstatue stand, sang die Schola den gregorianischen Marienhymnus „Salve Regina, mater misericordiae“ (Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit).