Karl Leisner erlebte die Befreiung des KZ Dachau vom Krankenbett aus. In seinem Tagebuch notierte er:
Dachau, Sonntag, 29. April 1945
Morgens in der Bettruhe Einschläge schwerer Artillerie in der Nähe. Maschinengewehr- und Gewehrfeuer. Die Nacht zuvor schon gute Schießerei. Große Hoffnung! „Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an“ – singe ich spaßhaft und doch ernst.[1] Es wird so. Die weiße Fahne auf Kommandantur etc. – Was wird geschehn? Um 17.30 Uhr die ersten amerikanischen Soldaten. (Vorher Gerücht, das Lager sei übergeben). Riesiger Jubel im Lager, Freudenausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die amerikanischen Soldaten werden zerdrückt. Polen stürmen Jourhaus, zertrampeln das Hitlerbild, zerschmettern die SS-Gewehre. Eine Stimmung, unbeschreiblich. In zehn Minuten flattern die Fahnen der befreiten Nationen.[2] Herrlich! Ich liege schwer krank da. Höre das alles nur von weitem und vom Erzählen. Ziehe mir die Decke übers Gesicht und weine zehn Minuten vor überwältigender Freude. Endlich frei von der verdammten Nazityrannei! Bis auf zehn Tage waren’s fünfeinhalb Jahre hinter Gittern [9.11.1939–29.4.1945]. Ich bin überglücklich. Heil unseren Befreiern! Die Aufregung auf der Tbc-Station [im Block 13] ist groß.[3] Jeder Halbgesunde rennt ins Lager und erzählt hinterher. Die Turmbesatzungen [des Wachturms B] hatten weiße Fahne gehißt. Trotzdem zieht noch einer seine Browning. Alle werden prompt umgelegt. Das ist Recht![4]
Die Nacht schießt eine schwere amerikanische Batterie über’s Lager weg. SS will das Lager wieder erobern, sagt man. Aber alles geht gut! Deo gratias!
Wegen des im Lager herrschenden Flecktyphus durfte nach der Befreiung durch die Amerikaner zunächst niemand das Lager verlassen.
[1] letzte Zeile der zweiten Strophe des Liedes Die Fahne hoch von Horst Wessel. Karl Leisner interpretierte den Inhalt auf seine Weise.
Es war nicht ungewöhnlich, daß auch Gegner des Nationalsozialismus das Horst-Wessel-Lied zitierten, wenn es sich auf die betreffende Situation übertragen ließ. So schrieb Franz Brocks 1935 an stud. theol. Heinrich Tenhumberg:
Ich weiß: Du „marschierst im Geist in unsern Reihen mit“.
[2] Heinrich Auer:
[…] alle Nationen waren [im Nu] mit ihren Flaggen vertreten, 26 an der Zahl, nur eine fehlte: welche deutsche Flagge hätten wir hissen sollen? (Auer 1945: 12).
Johann Steinbock:
Die Deutschen waren die einzigen, die in diesen Tagen keine Fahne hatten (Steinbock 1995: 44).
Edgar Kupfer-Koberwitz:
Überall im Lager wehen jetzt von den Blocks die Fahnen in den Farben aller Länder, die hier vertreten sind. – Wo sind sie nur hergekommen? – Weißer Stoff, – gut: Leinentücher, Bettlaken, – aber die anderen Farben? – Ob die Kameraden sie in den Magazinen der SS fanden? (Kupfer-Koberwitz 1997: 451).
[3] Edgar Kupfer-Koberwitz
Dann wieder Getöse: „Ein Soldat ist im Revier, ein Amerikaner, gleich wird er hier sein!“ Und gleich darauf ist er da, ein Hüne im Stahlhelm, lächelnd, ganz ruhig und Gummi kauend. „Hallo boys!“ sagt er. Sie umringen ihn, jeder gibt ihm die Hand, wer ein paar Worte Englisch kann, sagt sie ihm. Der kleine italienische Advokat, ein älterer Mann, kriecht aus dem Bett, geht hin, gibt ihm die Hand. Er steht neben dem Riesen wie ein Zwerg: „I thank you for all what you have done for us“ [Ich danke Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben], sagt er und schaut mit nassen Augen zu dem großen Soldaten auf. Der sagt: „Oh, das war nicht schlimm, nur so ein kleines Gefecht.“ Und er geht durch den Raum, umringt, alle Hände strecken sich ihm entgegen. Er beginnt zu singen: „It’s a long way to Tipperary, it’s a long way to go …“ Alle singen mit (Kupfer-Koberwitz 1997: 445f.).
Dieses alte irische Music-Hall-Lied schrieb Jack Judge am 31.1.1912. Wenn es von einer Gruppe gesungen wurde, kleideten sich die Sänger wie die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg war es ein Marschlied der Soldaten.
[4] Jürgen Zarusky:
Bei der Einnahme des Schutzhaftlagers wurde, offenbar in zwei kurz nacheinander stattfindenden Aktionen, die gesamte 17 Mann umfassende Besatzung des Wachturms B getötet, nachdem sie sich ergeben hatte. Dabei wirkten in nicht genau zu bestimmender Weise auch Häftlinge mit, die über den Lagerzaun geklettert waren (Zarusky 2008: 122).
Wilhelm Haas:
Dadurch, daß das Wort „Recht“ großgeschrieben ist, deutet Karl Leisner an, daß man diese Aktion der Amerikaner als rechtens im Rahmen des Kriegsrechtes ansehen kann.
Der belgische Zeichner Didgé hat im Comic Victor in Vinculis – Sieger in Fesseln den Tag der Befreiung des Lagers in folgenden Szenen dargestellt: