Impuls von Hans-Karl Seeger
Dienstag 7.10.2003
Herr, wir möchten, daß unsere Augen geöffnet werden (Mt 20,33)
Vielen Menschen fällt es schwer zu begreifen, wie blinde Menschen im Leben zurechtkommen. Es gibt aber auch die Augen des Herzens (vgl. Epheser 1,18), deren Blindheit wir meist gar nicht bemerken. Erst wenn es uns wie Schuppen von den Augen fällt, erkennen wir, was wir nicht gesehen haben.
In der Zeit des Nationalsozialismus hat Karl Leisner schon sehr früh mehr gesehen als andere junge Menschen seines Alters.
Am 18. Oktober 1933 schrieb er seinem früheren Religionslehrer Dr. Walter Vinnenberg:
„[…] In der Schule geht’s mir schulisch gesehen gut. Aber – der ganze Betrieb ekelt mich an mit der ewigen Staatsakterei und dergleichen mehr. Dann haben wir von Dr. [Wilhelm] Verleger, dem Obermotz des ‚Nösölöbö’ (N.S.L.B.[Nationalsozialistischen-Lehrerbundes]) als Mitglieder ‚der schwarzen Schar’, wie er uns höflichst tituliert, und von den Hitler-Jugend-Führern nicht gerade die beste und schönste Behandlung. Immer wieder sucht man uns was anzutun, wo’s nur eben geht. Ich sage ‚grundprinzipiell’ gar nichts mehr zu Politik usw.: die ‚Bande’ sucht einem Fallen zu stellen, wo’s geht. Aber, auf’n Kopp gekippt sind wir nun doch noch nicht. Ich lasse mir wenig dadurch die gute Laune verderben und lese [Giovanni] Papinis ‚Lebensgeschichte Jesu’, ein wundervolles Buch. (Ich glaub’, Du wiesest mich mal darauf hin; und da entdeckte ich es im Antiquariat bei Hintzen für 3,00 Reichsmark nagelneu. Sofort hab’ ich’s mir reserviert.) Das tut einem im tiefsten Herzen gut so’n Buch. […]
Was hältst Du übrigens von der ganzen außenpolitischen Sachlage? Wie meinst Du, soll man den Stimmzettel [zur Reichstagswahl am 12. November 1933] oder muß man ihn ankreiden? – Ich will doch mal [den Belgier] Jacques [Gilbert], von dem ich gerade einen feinen Brief und – meinen verbessert zurück – bekam, fragen, was das Ausland und er davon hält. Der Jacques ist ein Prachtkerl; das tut mir verflixt nicht leid, daß wir den mitgenommen oder besser – daß er mit uns gekommen ist [nach Baltrum]. – Mit frohem Gruß an Deine Eltern und Angehörigen besonders aber für Dich, Dein Karl“