Brot für den Tag 26

Impuls von Hans-Karl Seeger

Donnerstag 10.6.2004

Mehr als sie alle habe ich mich abgemüht – nicht ich, sondern die Gnade Gottes zusammen mit mir (1. Kor 14,10)

„Natur und Gnade“ war für Karl Leisner ein wichtiges Thema. Seine „Wissenschaftliche Arbeit“, die einer heutigen Diplomarbeit ent­spricht, stellte er unter das Thema „Vom Sinn und Geheimnis des Wachsens im Leben von Natur und Gnade“. Auch seine gesamten Tage­bücher durchzieht der Grundsatz des großen Theologen Thomas von Aquin „gratia supponit naturam [Die Gnade setzt die Natur voraus]“.

Was das Zusammenspiel von Na­tur und Gnade bewirkt, zeigt Karl Leis­ners Tagebuchein­trag vom 27. November 1935:
Eine große Freude am Leben ist mir heute wieder so ganz ursprünglich neu aufgebrochen. Heute morgen war ich müde und nicht recht bei der Sache in den Kollegs. Heut nach­mittag wurde ich „wach“ bis in die Fingerspitzen hinein im Augustin-Kolleg bei [Professor Peter] Wust. Augusti­nus – der ganz große Mensch mit urgewaltigen Elementar­kräften in sich, mit der heißen Leidenschaft im Blut, heißer Leidenschaft zum Weib, unermeßlicher Wissensgier, und doch das „ewige Kind“ da­bei, das immer wieder den rechten Weg findet. In all seiner heißen Leidenschaft und Glut brannte aber am heißesten und unstillbarsten die große Sehnsucht nach Gott. So geht uns oft im Lichte dieses ganz großen Menschen Augustin sein Spruch vom „Cor inquietum [unruhigen Herzen]“ auf.
Augustin, schon als junger Kerl von 16/17 Jahren griff ich nach sei­nen „Confessiones“, verstand sie aber nicht, weil ich mich nicht verstand. Ich stellte unwillkürlich eine Lebensforschung an und heiße Gedanken an vergangene Glut (und doch ist sie noch in dersel­ben Kraft in mir, in Seele und Leib). – Sehnsucht in unendliche Fer­nen, zu dem ganz tief Menschlichen, zum Weib, zur Frau, zur Jung­frau. Wie eine Welle überströmt mich die gebändigte Jungmanneskraft in all ihrer Gesundheit, schlummernde Kräfte schreien auf, wachen – und auch mein Cor inquie­tum [unruhiges Herz] ist voller heißer Lie­besglut zu al­len Menschen und durch sie und über sie und in ihnen zu Gott, dem ewig Dreieinen. Aufs neue packt mich die Freude an allem, wie in den Glanztagen der herrlichen Exerzitien. Ich fasse tiefer des heiligen Thomas [von Aquins] Wort „Gratia supponit naturam [Die Gnade setzt die Natur voraus]“ – Die Natur in ihrer ganzen Kraft und Glut und Leidenschaft und Hingerissenheit, in ihrer ganz geschöpfli­chen Urkraft – hell auf wache ich – Gott ruft all meine Kräfte wach – wach – wach sein, hellhörig! Scharfsinnig, mutig – klar, auf, auf!!
Ich spanne die Muskeln, ich atme tief, ich richte mich grad: Mensch, du, ha, wach auf: was steckt in dir, hol’ alles raus, erziehe dich, veredle dich – aufgebrochen!! Heijo, ja heijo! Ahoi!
Jubelnd stürze ich mich ins volle Leben, Deo trino Duce et Impera­tore [mit dem dreifaltigen Gott als Führer und Herr­scher]!! Ich kann gar nicht mehr schläfrig sein. Augu­stinus’ Wachheit und Glut und Leidenschaft hat mich ge­packt!!