Brot für den Tag 36

Impuls von Hans-Karl Seeger

Montag 27.11.2006

Weh dem sündigen Volk, der schuldbeladenen Nation, der Brut von Verbrechern, den verkommenen Söhnen! (Jes 1,4)

Wir wissen nicht, ob Karl Leisner diese Jesajastelle im Konzentrationslager gelesen hat; wenn es aber so war, hat er dabei sicher an die Nationalsozialisten gedacht. Fünfeinhalb Jahre hat er im KZ verbracht.

Nach der Befreiung durch die Amerikaner am 29. April 1945 gab es bei den meisten KZlern keine Gedanken an Rache und Vergeltung. Bereits sechs Tage nach seiner Verhaftung (9.11.1939) schrieb Karl Leisner im Gefängnis in Freiburg auf freie Seiten seines Breviers:
„Sogenannte Vorführung (Engelgasse über dem Einwohnermeldeamt). Ich bin vollkommen ruhig, ja froh; denn ich bin mir meines reinen Gewissens und sau­berer Gesinnung bewußt. Und wenn ich vor Gottes klarem Richter­blick beste­hen kann, was können Menschen mir dann schon antun!
Gott, ich danke Dir für alle Wohltaten, die Du so reichlich über mich ausge­gossen. Ja, ich danke Dir für die Tage der schweren Krankheit, und jetzt wie­derum für die Tage der Unfreiheit und Gefan­genschaft. Alles hat seinen Sinn, Du meinst es überaus gut mit mir.
Aus ganzem Herzen bitte ich Dich für alle, die mir nicht gut gesinnt, und bitte Dich um Verzeihung für sie.“

Freitag, 17. November 1939:
„Noch nie waren mir die himmlischen Dinge so nahe und vertraut! Die Tage äußerer Unfreiheit sind herrliche Tage des inneren Freiwerdens für Gott, der allein der Hort und die Burg der Freiheit ist. – Das große Wartenkön­nen ist die göttliche Kunst!“

Diese Haltung bewahrte Karl Leisner bis zum Ende seiner KZ-Zeit. Während der Messe am 25. Juli 1945 im Waldsanatorium Planegg gedenkt er unter anderen auch des am 28. Februar 1945 verstorbenen Capos Jakob Koch. Das ist sehr bemerkenswert; denn Ca­pos, selbst Gefan­gene des KZ, haben die ihnen unter­stellten KZler in der Regel sehr schlecht behan­delt. Jakob Koch bildete eine Aus­nahme. Was Karl Leisner jemals unter seinen Missetätern erlit­ten haben mag, verzeiht er ihnen im Schlußsatz seiner letzten Tagebucheintra­gung am 25. Juli 1945, dem Fest des heiligen Jakobus: ‚Segne auch, Höchster, meine Feinde.’

Eine solche Haltung zeigen auch andere KZler.

Karl Adolf Groß in „Fünf Minuten vor Zwölf“:
„Keiner von uns [KZlern] möchte in ihren [SS-Männer] Schuhen stecken, die knirschenden Reitstiefel sinken im Kurs, gefragt sind jetzt die ungefügen Holzschuhe, in welchen den Menschen wohler zumute ist. Nein, ihrem Schicksal entgehen sie nicht. Selbst der Biblizist, der die Rachsucht verurteilt, verlangt um der Ge­rechtigkeit willen, daß jeder einzelne vor ein ordentliches Gericht gestellt und abgeurteilt werden muß, sofern er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, es sei durch An­stiftung oder Ausführung.“