Einleitung des Seligsprechungsprozesses für Karl Leisner vor 40 Jahren

Nachdem Karl Leisner am 12. August 1945 in Planegg gestorben war, schrieb Bischof Clemens August Graf von Galen aus Münster am Dienstag, 4. September 1945, an Vater Wilhelm Leisner in Kleve:
Sehr geehrter Herr Leisner!
Zum Tode Ihres lieben Sohnes, des hochwürdigen Herrn Karl Leisner, möchte ich Ihnen, Ihrer Frau und Ihren Kindern meine herzliche Teil­nahme aussprechen, – oder eigentlich meinen Glückwunsch: denn ich glaube sicher, Sie haben dem Himmel einen Heiligen geschenkt! So sa­gen alle, die mit ihm in Dachau waren, daß seine fromme und frohe Tap­ferkeit dort in all dem Leid ihnen Erbauung und Trost und Vorbild gewe­sen ist. Wie gütig hat Gott ihn geführt, so daß er trotz seines schweren Lei­dens die lange Haft ausgehalten hat, um schließlich doch noch das er­sehnte Ziel des Priestertums zu erreichen! Ich freue mich, daß ich durch Erteilung und Gestattung der hl. Weihen habe beitragen können zu seinem Glück und seiner Glorie.
Mit Gruß und Segen für die ganze Familie
† Clemens August, B. v. M. [Bischof von Münster]

Nach dieser Aussage wundert es nicht, daß mit Familie Leisner viele Menschen Hoffnung auf eine Seligsprechung oder gar Heiligsprechung hatten. Und doch war es ein langer Weg, bis es am 23. Juni 1996 zur Seligsprechung in Berlin kam.

Es wurde nicht still um Karl Leisner, nachdem er am 18. August 1945 in Kleve beerdigt worden war. Schon die Gestaltung seines Grabes interes­sierte zahlreiche Menschen, und die Zahl der Besucher war groß.

Immer mehr Menschen nahmen vom Leben und Leiden Karl Leisners Kenntnis, als 1950 die von P. Otto Pies SJ verfaßte Biographie „Stephanus heute“[1] erschien. Dieser war im Priesterblock 26 des KZ Dachau Spindnachbar und Freund von Karl Leisner.
[1] Stephanus heute. Karl Leisner. Prie­ster und Opfer, Kevelaer: Butzon & Bercker 1950, 7. Auflage 2008 kommentiert von Hans-Karl Seeger 

Bereits in den 1950er Jahren machten sich Priester aus Karl Leisners Weihekurs Gedanken über eine mögliche Seligsprechung.

Als für 1966 in Xanten eine große Viktortracht geplant wurde, bemühte sich Dr. Franz Kloidt zu­sammen mit PAX-Christi darum, in der erweiter­ten Krypta des Domes die Gräber der neuzeitlichen Martyrer Karl Leisner, Heinz Bello und Gerhard Storm aufzunehmen.

Auf Vorschlag von Pfarrer Josef Perau beschloß der Priesterrat am 17. Dezember 1973, den Bischof von Münster Heinrich Tenhumberg um die Einlei­tung des Seligsprechungsverfahrens zu bitten. Josef Perau berichtet in einem eigenen Artikel, wie alles begann (s. unten).

Parallel zu der Initiative von Pfarrer Perau lief noch eine weitere. Als Dechant Theodor van Aa­ken, der Karl Leisner gut gekannt hatte, im Som­mer 1973 verstarb, war das für den damaligen Propst Viktor Roeloffs von St. Mariä Himmelfahrt in Kleve erneut ein Anlaß zu versuchen, einen „Freundeskreis Karl-Leisner“ ins Leben zu rufen. So lud er zu einer Zusammenkunft am 6. Novem­ber 1973 ins Kolpinghaus ein und bat darum, Er­innerungen an Karl Leisner niederzuschreiben und Erinnerungsstücke und Dokumente zur Verfügung zu stellen. Aus diesen Anfängen erwuchs eine große Aktivität vieler Menschen im In- und Aus­land, so daß am 3. Oktober 1975 der „Internationale Karl-Leisner-Kreis“ (IKLK) gegründet wurde. Der IKLK hat sich sehr für die Seligsprechung Karl Leisners eingesetzt. An erster Stelle ist der langjährige Geschäftsführer des IKLK, Wilhelm Haas, zu nennen. Er motivierte viele Menschen, aktiv im IKLK mitzuarbeiten. Die Prozeßführung im Bistum Münster lag bei Domkapitular Dr. Paul Hellbernd. Dank gilt aber vor allem den stillen Helferinnen und Helfern.

Anläßlich der Vollversammlung der deutschen Bi­schöfe baten 67 deutsche Bischöfe am 22. Septem­ber 1977 Papst Paul VI. um die Eröffnung des Seligsprechungsprozesses. Der Bischof von Münster, Heinrich Tenhumberg, stellte am 3. Dezember 1977 den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens bei der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungs­prozesse. Am 7. Dezember 1977 fand bei der Ge­neralaudienz die Einleitung des Seligsprechungs­prozesses durch Papst Paul VI. statt. Der General­postulator Pater Antonio Cairoli OFM ernannte mit Schreiben vom 5. März 1978 den damaligen Vorsitzenden des Internationalen Karl-Leisner-Kreises, Pfarrer Heinrich Kleinen, zum Vizepostulator. Papst Jo­hannes Paul II. eröffnete am 15. März 1980 den Seligsprechungsprozeß. Am 6. Mai 1981 eröffnete der Bischof von Münster Dr. Reinhard Lettmann den Schriften- und Informationsprozeß. Viel Arbeit machte die Übersetzung der Akten und Zeugenaus­sagen ins Italienische. 12 Bände kamen zusammen.

Nun wurden immer wieder Unterschriften gesam­melt, die den Wunsch nach Seligsprechung zum Ausdruck brachten. So überreichte im März 1984 der Bund der Historischen Schützenbruderschaften dem Papst eine Petition mit 1000 Unterschriften. Am 13. März 1985 überbrachte eine deutsche Pil­gergruppe 20.000 Unterschriften. Insgesamt sind weit über 100.000 Unterschriften zusammenge­kommen. 1987 wurde Pfarrer Willi Walterfang Vorsitzender des IKLK; auf einer Pilgerfahrt nach Rom setzte er sich sehr für die Seligsprechung ein.

Als man in Rom erwog, als Martyrer nicht nur Menschen anzusehen, die unmittelbar durch Ge­waltanwendung zu Tode gekommen waren, sondern auch sol­che, die durch Nachwirkungen der Gewaltanwen­dung gestorben waren, erfolgte am 18. Mai 1990 die Fort­setzung des Prozesses unter dem Titel eines Mar­tyrers. Pericle Kardinal Felici schrieb an den Bischof von Münster: „Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß nunmehr seitens der Diözese Münster ein ent­sprechender Prozeß geführt wird, durch den man die Wahrheit der Behauptung des Martyriums des Dieners Gottes beweisen kann.“ Am 23. Oktober 1991 übergab Weihbischof Friedrich Ostermann in Rom Kardinal Felici die Akten des Martyrerpro­zesses.

Der Fortgang eines solchen Prozesses wird auch von Unwägbarkeiten begleitet. Schon 1980 hatte sich der Seligsprechungsprozeß nach Auskunft des Postulators Pater Cairoli durch Personalwechsel und durch Erkrankung von Sachbearbeitern in der Kongregation verzögert. Nach dem Tod von Pater Cairoli wurde Pater Redemptus Valabek OCarm Postulator. Eine weitere Verzögerung erfolgte 1991 durch den Unfall von Pater Redemptus Valabek. Dompropst Dr. Heinz Mussinghoff, der damalige Vizepostulator des Seligsprechungsprozesses und jetzige Bischof von Aachen, schrieb dazu im Juni 1994 nach seiner Rückkehr aus Rom:
„Unser Anwalt Dr. Andrea Ambrosi hat die Positio super martyrio in der Causa S. D. Karl Leisner fertiggestellt. Sie geht jetzt in Druck, muß dann noch mit einem Schreiben des Relators Pater Am­brosius Eßer OP versehen werden und wird dann der Kongregation vorgelegt. Damit beginnt dann der Entscheidungsprozeß. Ich hoffe, daß alles zü­gig läuft.“

Den Herren Ambrosi und Eßer gebührt beson­derer Dank für ihren Einsatz. Die geleistete Arbeit wird sichtbar im Band II der „Positio super marty­rio“, der im DIN A4-Format 1428 Seiten umfaßt.

Nach Zustimmung der verschiedenen Gremien hat der Papst am Freitag, dem 12. Januar 1996, in Rom bekanntgegeben, daß er Karl Leisner selig­sprechen werde. Bei dieser Audienz war Monsig­nore Martin Hülskamp zugegen, der als Vizepostulator die letzte Phase des Prozesses begleitet hat. Die Seligsprechung von Karl Leisner erfolgte gemeinsam mit der von Propst Bernhard Lichtenberg am 23. Juni 1996 in Berlin (s. Aktuelles vom 22. Juni 2010 – Seligsprechung Karl Leisners vor 20 Jahren).

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Wie alles begann – Pfarrer Josef Perau berichtet

„Wir hoffen alle, daß Karl Leisner am 23. Juni 1996 in Berlin mit Propst Bernhard Lichtenberg seliggespro­chen wird. Dann käme das zum Abschluß, was Du im Priesterrat angestoßen hast. Könntest Du das für einen Rundbrief des IKLK einmal zusammen­fassen?“
Dieser Bitte unseres Präsidenten Hans-Karl Seeger vom 27.11.95 kann ich nachkommen, da ich mich an den Anstoß, den ich zuerst selber erhalten mußte, und an die Schritte, die ich daraufhin un­ternommen habe, noch gut erinnere und zudem die Dokumente aufbewahrt habe, an Hand derer die einzelnen Phasen des Geschehens genau verfolgt werden können.
Da steht am Anfang mein Leserbrief an die „Rheinische Post“, der im Anschluß an die De­monstration gegen die Lockerung des § 218, die am 10. Mai 1973 in Kleve stattfand, unter der Überschrift Fragen an die „Humane Bürgerin­itiative“ veröffentlicht wurde:
„Am Donnerstag wurde in Kleve vor und in der Stiftskirche an die Teilnehmer der Demonstration für die Achtung vor jedem menschlichen Leben eine Stellungnahme der „Humanen Bürgerinitiati­ve“ verteilt, die mit folgenden Sätzen beginnt: ´Plötzlich scheint man Achtung vor dem menschli­chen Leben zu haben. Warum hat die Gesellschaft, besonders der kirchliche Apparat, während des zweiten Weltkrieges so wenig Einsatz angesichts der Massenvernichtung gezeigt? Sich nur dann zu engagieren, wenn keine Gefahr droht, dürfte nicht beispielhaft sein.´ Haben jene, die solche Behaup­tung wagen, schon einmal von einem Karl Leisner gehört, der statt in der Klever Stiftskirche im KZ Dachau seine Primiz feierte und als Toter nach Kleve zurückkehrte, weil er sich engagierte, als Gefahr drohte? Hat man ihnen nie erzählt, wie überfüllt die Stiftskirche war, als Bischof Clemens August von Galen auf ihrer Kanzel stand, der un­erschrockene Kämpfer gegen die Mißachtung des Rechtes und des Lebens? Allein dadurch, daß sie sich unter diese Kanzel stellten, mußten manche mit Nachteilen für Beruf und Fortkommen rech­nen. Kann man sich heute noch vorstellen, daß nur der „kirchliche Apparat“ es war, der es ermög­lichte, daß deutsche Fachgelehrte im Oktober 1934 die „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“ veröffentlichen konnten, die erste und schärfste Konfrontation mit den Mächtigen des Dritten Rei­ches? Bischof von Galen ließ sie drucken als „Amtliche Beilage zum Kirchlichen Amtsblatt für die Diözese Münster“. Ich habe 1937 mit den ande­ren Seminaristen vor den Türen des Münsterschen Domes die heimlich gedruckte und gleich be­schlagnahmte Enzyklika Papst Pius XI. „Mit bren­nender Sorge“ verteilt, alle Priester der Diözese haben sie von den Kanzeln verlesen. Es ging in ihr um das gleiche Grundrecht eines jeden Menschen auf Leben und Freiheit, das heute wieder in Frage gestellt wird. Wir haben gewiß nicht genug getan und uns die Frage nach der Erlaubtheit des Tötens im Krieg vielleicht zu leicht gemacht. Aber es stimmt nicht, daß die Achtung vor dem menschli­chen Leben bei uns „plötzlich“ kommt und daß wir uns nur engagieren, „wenn keine Gefahr droht“.“
Bei der genannten Demonstration hatte ich mich den Teilnehmern zugesellt, die von der Christus­königskirche aus in einem „Schweigemarsch“ zur Stiftskirche zogen – ein zweiter Zug kam von der Unterstadtkirche herauf. – Unterwegs waren meine Gedanken bei Karl Leisner, mit dem zusammen ich Ostern 1934 ins Collegium Borromaeum, das Münstersche Theologenkonvikt, eingetreten war, er unmittelbar nach dem Abitur, ich nach vier Se­mestern in Salzburg. Zwei spannungsreiche Jahre, in denen es immer deutlicher wurde, daß Hitler sich nicht an die Vereinbarungen des Konkordates zu halten gedachte, und die Gleichschaltung aller Le­bensbereiche immer brutalere Formen annahm, hatten wir dort unter einem Dach verbracht, bei den großen Glaubenskundgebungen um Bischof Clemens August Seite an Seite gestanden, bis wir Ostern 1936 getrennt wurden, als Karl für zwei Außensemestser nach Freiburg ging und ich ins Priesterseminar hinüberwechselte.
Nun zogen wir auf dem Weg, den er früher so oft vom Elternhaus aus gegangen war. Wenn er noch lebte, wäre er heute sicher dabei, ja, er ist unsicht­bar bei uns, dachte ich. Es mußte wohl sein, daß mir gerade in dieser Stunde das erwähnte Flugblatt in die Hand gedrückt wurde, um mich erkennen zu lassen, daß es höchste Zeit ist, die Gestalt Karl Leisners vor dem Vergessen zu bewahren und da­durch zugleich das Bild der Kirche seiner Zeit vor den sich breitmachenden Verfälschungen zu schüt­zen.
Es mußte wohl ferner so sein, daß ein paar Tage später, gegen Ende der Sitzung des Priesterrates vom 14. Mai 1973, Bischof Heinrich Tenhumberg uns auf das am darauffolgenden Sonntag zu verle­sende Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Frage der Priesterberufe hinwies und uns aufforderte, uns um die Weckung und Formung geistlicher Berufe zu bemühen. Immer noch innerlich erregt von dem in Kleve Erlebten, konnte ich die Frage nicht un­terdrücken, wie es zu erklären sei, daß bei diesem Bemühen ein besonders in unserem Bistum sich doch geradezu aufdrängender Hinweis auf Karl Leisner nirgendwo zu finden sei. Weder im Bor­romaeum noch im Priesterseminar hätte ich bisher ein Bild von ihm entdeckt. Sein Name fehle auf dem Plakat an unseren Kirchentüren „Am Werk der Kirche mitarbeiten!“, er fehle unter den „Porträts engagierter Christen“, die unseren Ju­gendlichen auch als Poster angeboten würden. Einmal in Fahrt, stellte ich auch die Frage, wie weit der Seligsprechungsprozeß gediehen sei, den – Gerüchten zufolge – der Weihejahrgang von Karl Leisner, zu dem auch der Bischof gehörte, veran­lassen wollte. Es sei merkwürdig still darum ge­worden. „Ja, das wollte Heinrich Tellen in die Hand nehmen, und der ist uns ja gestorben, küm­mere du dich doch einmal darum, du warst Karls Freund“, meinte der Bischof und eilte zu seinem nächsten Termin.
Schon am nächsten Tag, am 16. Mai 1973, schrieb ich ihm, ich hätte mit der Diözesanstelle „Berufe der Kirche“ Kontakt aufgenommen zwecks Auf­nahme von Karl Leisner in die Reihe der Porträts engagierter Christen und hätte mit Karls Mutter und seiner Schwester Maria in Kleve schon einige für dieses Vorhaben passende Sachen ausgesucht, in einem alten Koffer von Karl seien alle Tagebü­cher, Briefe, Bilder und Urkunden gesammelt. Dann komme ich auf den Seligsprechungsprozeß zu sprechen:
„Leisners bewahren noch vier Originalbriefe von Clemens August auf. Es ist 1956 versäumt worden, Fotokopien davon für den Seligsprechungsprozeß (siehe Kirchliches Amtsblatt 1956, Nr. 25, Art. 202) nach Münster zu schicken. Maria Leisner will das nachholen. Wenn ich bedenke, daß das schon so lange her ist und man seitdem nichts mehr da­von gehört hat, möchte ich am liebsten gar nicht mehr von einem solchen Prozeß für Karl sprechen. Aber durch eine Unterlassung könnten wir schul­dig werden. Bischof Clemens August schrieb am 4. September 1945 an Vater Leisner: ‚Ich glaube si­cher, Sie haben dem Himmel einen Heiligen ge­schenkt’. Da legt ein Glaubenszeuge für den ande­ren Zeugnis ab. Die Heiligen sind aber nicht nur für den Himmel da. Sie wurden erwählt als Zei­chen für viele. Welch anderen Sinn hat die Hei­ligsprechung als den, daß die Kirche das Zeichen Gottes in einem Leben erkennt und anerkennt und es öffentlich aufrichtet? Werden für den Prozeß immer noch Wunder gefordert? Dann wäre zu fra­gen, ob eine solche Forderung erlaubt ist ange­sichts der Worte Jesu bei Mt 16,1-4. Ist dieses Le­ben, das in der äußersten Finsternis und Verlas­senheit an dem Wort festhielt ´Wir haben an die Liebe geglaubt´ (Pies, Seite 141) und mit einem Gebet für seine Mörder endete, nicht Wunder und Zeichen genug? Ist das Zeichen dieses Lebens nicht besonders uns Priestern gegeben und denen, die auf den Beruf zugehen? Die Orientierung daran könnte vor manchen Selbsttäuschungen und Trug­vorstellungen über den Sinn unseres Berufes be­wahren.
Deshalb: Was muß konkret getan werden, damit ein Seligsprechungsprozeß eingeleitet wird? An wen muß eine Eingabe gemacht werden? Bekäme eine solche Eingabe nicht ein besonderes Gewicht, wenn sie vom Priesterrat, von der Leitung des Seminars und des Borromaeums ausginge? Andere Diözesen könnten sich anschließen.
Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Noch leben viele Zeugen. Noch kannst Du Deine Autorität einsetzen. Auch andere Bischöfe, etwa Hildesheim, würden sicher mitmachen. Die alten Dachauer, die Heimatpfarrei in Kleve, die Schönstattfamilie, alle werden sich melden, wenn nur einmal offiziell von der Kirche etwas geschieht.
Übrigens hast Du stark übertrieben, als Du Montag erklärtest ‚Du warst sein Freund’. Wir waren Theologen aus dem gleichen Klever Land und hatten einander sicher ganz gern. Aber ich hatte doch verhältnismäßig wenig Kontakte mit ihm. Er war fünf Jahre jünger. Ich hatte meine ‚Freunde’, er die seinen. Du hast ihm sicher viel näher gestanden. Das nur, damit deutlich wird, daß ich keineswegs voreingenommen bin. Es geht nicht um ihn, es geht um die Kirche.“

Der Bischof antwortete am 29. Mai 1973:
„Hab vielen Dank für Deinen Brief vom 16. Mai 1973. Deine Frage und Anregung im Priesterrat hat mich gefreut …“

Auf meine Frage, was konkret getan werden müsse zur Einleitung eines Seligsprechungsprozesses, schreibt er:
„Bringe doch die ganze Angelegenheit demnächst noch einmal wieder im Priesterrat zur Sprache. Wenn Clemens August am 4. September 1945 an Vater Leisner schrieb: ‚Ich glaube sicher, Sie ha­ben dem Himmel einen Heiligen geschenkt’, dann sollten wir zum mindesten alles tun, um durch die Sammlung von Zeugnissen und Dokumenten, ins­besondere auch von Zeugenaussagen, einen Seligsprechungsprozeß vorzubereiten. Wir könnten also einen Vorprozeß einleiten. Für die Einleitung eines solchen Vorprozesses genügt an sich ein entspre­chendes Dekret des Bischofs nach Beratung in den zuständigen Gremien (vor allem im Geistlichen Rat). Die Einleitung eines Seligsprechungsprozes­ses kann u.U. auch sofort erwirkt werden. Das ist gar nicht so schwierig, wie wir bei Schwester Euthymia, bei Clemens August von Galen und an­deren gesehen haben. Versuche also bitte, zunächst einen Beschluß des Priesterrates herbeizuführen. Vielleicht können die Niederrheiner im Diözesan­rat auch etwas tun. Ich werde von mir aus die Angelegenheit sehr nachdrücklich unterstützen.“
Daraufhin bat ich am 1. Juni 1973 in einer Eingabe an den Geschäftsführenden Ausschuß des Priester­rates, die von mir in der Sitzung vom 14. Mai ge­stellte Frage nach dem Seligsprechungsprozeß Karl Leisners „in die Tagesordnung einer der nächsten Sitzungen des Priesterrates aufzunehmen und even­tuell einen entsprechenden Beschluß herbei­zuführen“.

Fünf Monate danach, am 7. Dezember 1973, sah ich mich veranlaßt, mich nochmals an den Bischof zu wenden:
„Die nächste Sitzung des Priesterrates wird am 17. Dezember sein, dem Tag, an dem Karl Leisner in Dachau zum Priester geweiht wurde. Ich möchte Dich darauf aufmerksam machen, damit Du viel­leicht eingreifst, wenn Gefahr droht, daß der ihn betreffende Antrag vom 1. Juni 1973, der schon zweimal auf der Tagesordnung stand, wieder ein­mal durch unangemeldete Debatten verdrängt wird. Das wäre mehr als peinlich …
Als ich meinen Antrag stellte, hatte ich selber noch einige Bedenken angesichts der überkommenen Form des Seligsprechungsprozesses. Inzwischen habe ich diese zurückgestellt; eine Kirche, die, wenn auch auf unvollkommene Weise, ihre Glaubenszeugen ehrt und sie als Leitbilder und Für­sprecher empfiehlt, scheint mir das kleinere Übel gegenüber einer solchen, die mehr und mehr in Gefahr gerät, ihr Gedächtnis zu verlieren. (‚eine etwas unglückliche Formulierung’, wie Bischof Heinrich Maria Janssen mit Recht feststellte, nach­dem sie mir auch schon in den schriftlichen Antrag geraten war. Statt ‚scheint mir das kleinere Übel zu sein’, hätte ich besser geschrieben: ‚ist mir lieber’.) Hoffentlich findet der eine überzeugende Mehr­heit.“

Am 17. Dezember 1973 hielt ich vor dem Plenum des Priesterrates folgendes Plädoyer:
Zunächst danke ich den Mitbrüdern, daß sie sich am heutigen Jahrestag der Priesterweihe im KZ Dachau mit meinem seine Seligsprechung betref­fenden Antrag vom 1. Juni 1973 beschäftigen wollen. Ich denke, wir dürfen mit gutem Gewissen uns die Zeit dazu nehmen, nachdem wir nicht mit ihr gespart haben bei unseren langen Diskussionen über Paragraphen und Statuten, Kompetenzen, Strukturen und Methoden. Die relative Wichtigkeit dieser Dinge soll nicht bestritten werden, aber wir werden ihrer doch mehr und mehr überdrüssig, weil wir ja genau wissen, daß dadurch kein neues Leben in der Kirche geweckt wird.
Glaube entzündet sich nur an Glauben, wird durch „Kommunizieren“ weitergegeben, wie unser Re­gionalbischof zu sagen pflegt. Es stimmt hoff­nungsvoll, daß man neu nach Zeugen des Glaubens Ausschau hält. Ein Zeichen dieses neu erwachten Interesses ist die Herausgabe von Poster und Kurz­porträts engagierter Christen durch die Hauptstelle für kirchliche Berufe in Freiburg. Karl Leisner war sicher solch ein engagierter Christ. Deshalb habe ich zunächst angeregt, sein Porträt in diese Reihe aufzunehmen. Über diese mehr privaten oder doch halboffiziellen Aktivitäten hinaus scheint mir aber die kirchliche Gemeinschaft als solche die Pflicht zu haben, durch ihre offiziellen Organe diejenigen ihrer Glieder, die von Gott zu besonders starken Zeugen gläubiger Existenz erwählt wurden, öffent­lich herauszustellen, für sie zu danken und sie als Leitbilder und Fürsprecher zu empfehlen. Die Kir­che kennt dafür nur ein Verfahren, den Se­ligspre­chungsprozeß. Dieser Prozeß ist sicherlich reform­bedürftig. Wir würden aber etwas versäu­men, wenn wir warten wollten, bis er nach unse­rem Geschmack ist. Schon jetzt können wir viele von denen, die Karl Leisner näher gekannt haben, nicht mehr befragen, weil sie inzwischen gestorben sind.
In Berlin wurde die erste Etappe des Prozesses für Dompropst Lichtenberg abgeschlossen. Neben das Vorbild dieses älteren Priesters (geboren 1875, zum Priester geweiht 1899), der ähnlich wie Bi­schof Clemens August die Kraft der religiösen Tradition des 19. Jahrhunderts bezeugt, kann unse­re Diözese das des jungen Diakons und Priesters stellen, der von jenen geistlichen Bewegungen geformt wurde, welche die damals junge Genera­tion erweckten und zum Widerstand befähigten: die liturgische Bewegung und die Jugendbewegung in ihrer Altenberger Prägung, und der schon als Gymnasiast und später im Arbeitsdienst mitten in den politischen und religiösen Auseinandersetzun­gen der neuen Zeit stand.
Ein Kernspruch aus seinen Tagebüchern lautet: „Das ist meines Lebens letzter Sinn: Christus zu leben in dieser Zeit! Christus, wenn Du nicht bist, dann möchte ich nicht sein. Du bist, Du lebst, nimm mich hin, verfüge ganz über mich.“
Er hat dieses Wort nicht zurückgenommen, als an­ders über ihn verfügt wurde, als er es sich geträumt hatte, als statt der Erfüllung seines apostolischen Tatendrangs die reine Passion der Krankheit und der mehr als fünfjährigen KZ Haft von ihm gefor­dert wurde.
Die Mithäftlinge bezeugen, daß in dieser schweren Situation, in der der Selbsterhaltungstrieb den Menschen so leicht zum blinden Egoismus treibt, seine strahlende Selbstlosigkeit erst recht zum Leuchten gekommen sei. Pater Otto Pies schreibt in seiner Biographie, er habe auch in den finster­sten Stunden nicht von dem Wort gelassen: „Wir haben an die Liebe geglaubt“ (1. Joh 4,16). Die Kraft, dabei zu bleiben, habe ihm die tägliche Le­sung im NT, die Nähe des eucharistischen Brotes, das er als Diakon immer bei sich tragen durfte, und das Vorbild der Mutter des Herrn gegeben, der er sich als Niederrheiner in Kevelaer und später als Mitglied der Schönstattbewegung besonders anver­traut hatte.
Er, der den Nationalsozialismus haßte wie wenige, der fürchterlich unter der ihm zugefügten Entwür­digung und Freiheitsberaubung gelitten hat, hat sein Leben beschlossen mit dem Gebet für seine Mörder: „Segne, Höchster, auch meine Feinde.“
Bischof Clemens August, der ihn als Diözesan­jungscharführer besser kannte als die anderen Theologen, hat es sicher nicht als fromme Phrase gemeint, als er den Eltern schrieb: „Zum Tode Ih­res Sohnes möchte ich Ihnen meine herzliche Teil­nahme aussprechen, — oder eigentlich meinen Glückwunsch: denn ich glaube sicher, Sie haben dem Himmel einen Heiligen geschenkt! Ich freue mich, daß ich durch Erteilung und Gestattung der hl. Weihen habe beitragen können zu seinem Glück und zu seiner Glorie.“
Nach meiner Meinung können wir es also sehr wohl verantworten, wenn wir uns zu dem Antrag entschlössen, der Bischof möge den Seligspre­chungsprozeß einleiten.
Durch die heimliche Priesterweihe im KZ in Ge­genwart von Priestern aus allen unterdrückten Völkern ist die Gestalt Karl Leisners zu einem Symbol des christlichen Widerstandes und des unbesiegten Glaubens geworden weit über unsere Diözese hinaus. Vergangenheit läßt sich nie ein­fach kopieren, aber in der heutigen Verunsiche­rung des Priesterbildes und der festgefahrenen Jugendarbeit könnte sein Leben und sein Einsatz dem, der unvoreingenommen ist, sicher wertvolle Orientierungshilfe geben. Die Kirche hat ihm mit zwei Gefährten ein Grab in der Martyrerkrypta in Xanten geschenkt, „ad Sanctos“. Ein großartiges Zeichen, das durch die Seligsprechung noch ein­deutiger würde.
Nach dieser Einstimmung überreichte ich den schriftlichen „Antrag an den Priesterrat der Diöze­se Münster betr. Einleitung des Seligsprechungs­prozesses von Karl Leisner“. Der Kernsatz lautet: „Ich möchte heute – am 29. Jahrestag der Priester­weihe von Karl Leisner in Dachau – offiziell den Antrag stellen: Der Priesterrat möge den Bischof bitten, den Seligsprechungsprozeß von Karl Leis­ner einzuleiten.“ Die Begründung weicht nur un­wesentlich von der im Plädoyer vorgetragenen ab. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten der anschließenden Debatte, nur noch an den Bei­trag unseres Historikers Professor B. Kötting, der auf die Möglichkeit einer Seligsprechung „als Mar­tyrer“ hinwies. Das Sitzungsprotokoll ist in Mün­ster sicher noch vorhanden. Daß der Antrag ein­stimmig angenommen wurde, wird auch durch ein mir noch vorliegendes Einladungsschreiben von Propst Viktor Roeloffs vom 19. Februar 1974 zu einer Sitzung des „Freundeskreises Karl Leisner“, aus dem später der IKLK wurde, belegt. Darin heißt es: „Inzwischen wurde vom Priesterrat der Diözese Münster der Antrag einstimmig ange­nommen, den Bischof zu bitten, den Seligspre­chungsprozeß von Karl Leisner einzuleiten.“
Hülm, den 3.1.1996                    Josef Perau