Ende des Kirchenjahres vor 80 Jahren

2015_11_28_Kirchenjahr

 

Karl Leisner nahm nicht nur das Ende des Kalenderjahres, sondern auch das Ende des Kirchenjahres zum Anlaß, Rückblick zu halten.

Foto Kirchengemeinde St. Martin Nottuln

 

 

Aus einem Gespräch des Chefredakteurs des ökumenischen Vereins Andere Zeiten Dr. Frank Hofmann mit dem Soziologen Hartmut Rosa:
„Sie haben sich auch intensiv mit den Zeitstrukturen der modernen Gesellschaft beschäftigt. Müssen wir uns für Resonanzerfahrungen mehr Zeit lassen, müssen wir langsamer leben?
Eine Zeit lang wurde ich als »Guru der Entschleunigung« gehandelt. Dagegen bin ich inzwischen allergisch. Niemand will einen langsamen Notarzt, eine entschleunigte Achterbahn, einen lahmen Internetanschluss. Man kann nicht pauschal sagen, Beschleunigung ist schlecht, Entschleunigung ist gut. Wir können die Zeit als Faktor nicht isolieren, weder in der Gesellschaft noch im individuellen Leben. Der Zusammenhang zwischen Resonanzbeziehung und Zeit ist ganz anderer Art. Nach meiner Erkenntnis erleben wir in den intensivsten Resonanzmomenten keinen scheinbaren Stillstand der Zeit, sondern ein Öffnen der Zeit, das Zusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als religiöse Erfahrung zum Beispiel: Ich erlebe Jesus als präsent und gleichzeitig als Verheißung.
Mit Andere Zeiten versuchen wir diese Gleichzeitigkeit auf das Kirchenjahr zu übertragen: Wir laden dazu ein, alte Traditionen neu zu erleben, um eine neue Orientierung zu gewinnen.
Das Kirchenjahr finde ich faszinierend. Da scheitern alle Steigerungsprinzipien der modernen Wachstumsgesellschaft. Sie können das Kirchenjahr nicht kürzer machen, nicht effizienter, und auch die Möglichkeit an Innovationen ist beschränkt. Wenige Dinge widersetzen sich so sehr der kapitalistischen Logik wie das Kirchenjahr.“[1]

[1] Andere Zeiten – Magazin zum Kirchenjahr 3/2015: 5, www.anderezeiten.de

Wir leben in einer Zeit, in der der Verlauf des Kirchenjahres eingeebnet wird: Weihnachtsgebäck gibt es bereits im Herbst, Weihnachtsmärkte finden im Advent statt, und ähnlich geht es das ganze Jahr über weiter, ganz abgesehen davon, daß viele Menschen den Inhalt der Feste nicht mehr kennen.
Zum Beispiel hat „Halloween“, was ursprünglich „All Hallows’ Eve (engl.) = Vorabend von Allerheiligen“ heißt und in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November begangen wird, die Aufmerksamkeit für das Hochfest Allerheiligen am 1. November stark in den Hintergrund gedrängt.
Wie sich zum Beispiel eine christliche Alternative zum Halloween-Fest schaffen läßt, zeigt eine Initiative der Pfarrgemeinde St. Marien in Kevelaer:

Link zur RP vom 2. November 2015

Für Karl Leisner hatte das Kirchenjahr eine ebenso große Bedeutung wie das Kalenderjahr, insofern wundert es nicht, wie intensiv er vor 80 Jahren auf das vergangene Kirchenjahr zurückblickte und Vorsätze für das neue Jahr faßte:

Münster, Samstag, 30. November 1935
Heute ist der letzte Tag des Kirchenjahres. Nach den herrlichen Ferien im Groesbeeker Camp [14. bis 25.8.1934] und an der Saar [September 1934] und den Exerzitien [23. bis 27.10.1934 in Münster] bei P. Superior Lambert Claßen[1] SJ begann das jetzt beendete Jahr der Kirche. Das Christ-Königs-Fest [am 28. Oktober] 1934 war ein mächtiges Erlebnis des Kirchenjahres 1934. All mein Sin­nen und Sehnen ballte sich zusammen im Erlebnis der Vorbereitung und der Feier und dem Nach­schwingen dieses Tages:
Ungeheuer leidenschaftlich lebendiger Lebensrhythmus in Kraft und Sehn­sucht jungen Herzens. Es ging um Entscheidung und Klärung, um reifes, allmähliches Erfassen des Berufes. Das punct. VI. [punctum sextum – das sechste Gebot[2]] war noch nicht geklärt und damit auch das Ringen nach ganzer innerer Freiheit, das große Ehrfurchthaben vor jedem Menschen – erst recht vor jedem Mädchen. Noch zu sehr war meine vitale Lebenskraft nicht gemeistert, beherrscht, gezügelt. Ich war noch zu viel verkrampft, Betriebs­mensch.
Als Jahresziel stellte ich mir Überwindung des p. VI. [punctum sextum] und – soweit ich in meiner Schwachheit sehen kann und urteilen darf – es ist mit der Gnade Gottes ein gut Stück bergauf gegangen.

Auch ins Studium dringe ich allmählich tiefer ein. In diesem Jahr nun sei eins mein großes Ziel: Innere Freiheit durch Klarheit und Wahrheit gegen mich selbst und größte Demut und Liebe zu Gott und allen Menschen. Tap­ferste Geduld und straffste starke Selbstzucht! Ausschaltung jeder Selbst­sucht.
„Ich vergesse, was hinter mir liegt, und spanne mich aus auf das vor mir Liegende“ [vgl. Phil 3,13] (neue Jahr). Besonders durch tiefes und erleuch­tetes Studium der Schrift, durch hellstes Mitleben der Liturgie und Beschei­dung, Konzentrierung und Einteilung der Kraft und der Zeit will ich immer tiefer durch Christus hineinwachsen in das ewige Geheimnis des Dreieini­gen Gottes.
Nimm dein Leben, pack’ es an,
Sei Meister deines Geschicks!
Schau auf Gott, aller Anfang,
Folg’ dem Meister deines Glücks![3]
Es war das Jahr, das ich der jüngsten Kirche, unserer Jungschar, besonders durch Schulung der Jungscharführer schenken durfte. Sicher war ich nicht in allem Vorbild und hab’s immer recht gemacht, aber versucht hab’ ich’s mit viel Schwung und Liebe. Es hat mich herumgewirbelt durch die ganze Diözese, zu vielen Jungen und jungen Führern hat’s mich gebracht. Chri­stus hatt’ es mir befohlen durch seine Stellvertreter, und ich bin Ihm gefolgt. Er sollte mir Kraft und Ziel sein.

Schwere Opfer, bitteres Leid, harten Kampf, unermüdliche christliche Opfer­kraft hat das Jahr der Bewährung gebracht. Tapfer und geduldig, ohne Bitter­keit, mit freier klarer Seele haben wir uns durchgekämpft und stehen jetzt vor Dir, unserm Herrn, und bitten:
„Christus, segne unser Stehen und Gehen.
Gib uns den Glauben, der Berge versetzt [Mt 17,20 u. öfter],
Mach’ uns gen List und Hieb gewetzt,
Laß uns Dir niemals vergehen!“[4]
Herr, segne unsere Kirche und ihre Hirten auf der ganzen Erde Rund, segne und erleuchte mit Deiner ganz besonderen Kraft unsere deutschen Ober­hir­ten und alle deutschen Priester.

[1] Pater Lambert Claßen SJ (* 6.6.1891 in Aachen, † 15.2.1966) – Eintritt in die Gesell­schaft Jesu 13.4.1910 – Prie­sterweihe 28.8.1921 – Professor für Phi­losophie am Ignatius-Kolleg in Valkenburg/NL 1934
[2] Das sechste Gebot betrifft den Bereich der Geschlechtlichkeit.
[3] vermutlich von Karl Leisner verfaßt
[4] vermutlich von Karl Leisner verfaßt

Adveniat Regnum Tuum per Epis­copos atque sacerdotes, per Mona­chos atque nonnas, per nos omnes Catholicos homines in populum nostrum, in Germaniam, Patriam nostram toto corde amatam!
[Dein Reich komme durch die Bischöfe und Priester, durch Mönche und Nonnen, durch uns alle katholi­schen Menschen in unser Volk, auf Deutschland, unser aus ganzem Her­zen ge­liebtes Vaterland!]
„Herr, Dein Reich soll zu uns kommen, wir erflehen’s ohne Rast!
Wir – Dein Volk, die Willensfrommen, denen Du’s verheißen hast!
Laß dies Reich uns auferbauen, Reich der Liebe, des Gerechtseins,
Reich des gläubig Kindvertrauens und des wesenhaften Echtseins!“ (Georg Thurmair).[1]
Ein Jahr des Wanderns, des rastlosen Strebens ist’s gewesen, ein Jahr jun­gen Glücks, heller Freude und Liebe – ein Jahr in der Kirche mit der Kir­che, ein Jahr schicksalsschwer für unser Volk, ein heilig Jahr der Scheidung und Klä­rung, ein Jahr der Not und des Zwanges der Gewissen, ein Jahr trotzdem und deswegen der höchsten Einsatzbereitschaft.
Wir alle sind noch auf der Pilgerschaft, auf dem Weg – Wallfahrer war ich oft: zu unserer Lieben Frau und ihren Stätten der Gnade. In Kevelaer, Mari­en­­baum, Altlünen, Telgte, Vreden, Blieskastel (Saar), Altenberg hab’ ich vor Ihrem heiligen Bilde gekniet und hab’ zu Ihr, der himmlischen Mutter gefleht und gesungen, gebetet und aufgeschaut und immer wieder hat sie mir neue Liebe, neue Kraft und neue Freude durch Christus geschenkt.
Lob und Ehre, Herrlichkeit und Preisgesang sei Gott ob Seiner Gaben Über­fülle!

[1] Thurmair, Georg: Unser Reich. Gespräch der Sturmschar. o. J. [? 1932]: 14

Münster, Sonntag, 1. Dezember 1935, 1. Adventssonntag
(Erster Tag des Kirchenjahres):
Gleich hab’ ich’s gemacht, wie man’s nicht machen soll: Keine Zucht in der Einteilung der Zeit! Kein Schwung. Fresserei bei Tisch! – Stielaugen. Bah! – Demütig werden ist schwer! Bescheidenheit lernen muß ich in allem!
Und doch:
1) Heiho noch schäumt das Leben im Kelch wie junger Wein!
Das Feuer wilder Reben, es will getrunken sein!
2) Noch glühen unsre Sterne am Himmel hoch in Glanz,
wir stürmen ihre Ferne und zwingen sie zum Tanz!
3) Wir tanzen unser Leben und jauchzen hell im Schwung,
uns ist es aufge­geben: die Welt wird wieder jung!
(Th. [Thomas] Klausner [Georg Thurmair])