Hätte Karl Leisner in den sogenannten „Freisemestern“ 1936/1937 in der neuen Universitätsbibliothek in Freiburg mehr studiert?

Uni_Freiburgneue Universitätsbibliothek Freiburg – Bibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg –wissenschaftliche Universal- und Hochschulbibliothek – Beginn der Rohbauarbeiten Januar 2012 – Abschluß dieser Arbeiten 16.4.2013 – Fertigstellung des Innenausbaus Dezember 2014 – Übergabe des Gebäudes an die Universität 30.6.2015 – feierliche Übergabe 12.10.2015 – Zugang nicht nur für Angehörige der Universität, der Katholischen Fachhochschule, der Evangelischen Fachhochschule, der Pädagogischen Hochschule und der Musikhochschule, sondern auch für alle interessierten Bürgern
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Universitätsbibliothek zur Zeit Karl Leisners

 

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Die Theologiestudenten der deutschen Bistümer hatten schon im vorigen Jahrhundert die Möglichkeit, zwei Semester außerhalb ihrer Heimatuniversität zu studieren. In der Regel waren es das fünfte und sechste Semester. Offiziell hießen diese Semester „Außensemester“, die die Studenten aber in „Freisemester“ umbenannten. Dabei spielte das Studium bei den meisten Studenten nicht die Hauptrolle. So war es auch bei Karl Leisner. Die Silbe „frei“ in Freiburg suggeriert, wie sich diese Semester gestalten und erleben lassen.

So schrieb Karl Leisner in einer Rückschau auf die vergangenen Semester am 7. Juli 1938 in sein Tagebuch:
Dann kam die Freiheit [der Freisemester] in „Frei“-Burg. Fein! Hinein mit vollen Segeln!

Bereits am 1. Juli 1938 heißt es ebenfalls in einer Rückschau:
Über die Schlappe zu Ende des zweiten [Stu­dien-]Jahres [im Wintersemester 1935/1936[1]] reißt die locken­de Aussicht auf Rom und das freie Jahr [Außensemester in Freiburg/Br.: Som­mer­seme­ster 1936 und Win­ter­­semester 1936/1937] hinweg.

[1] Brief von Karl Leisner vom 6.2.1937 an Walter Vinnenberg:
Ich muß noch alte und mittelalterli­che Kirchengeschichte und Einleitung ins AT vom Herbst „nach­bauen“.

In derselben Rückschau notiert er, allerdings noch auf die Schulzeit bezogen, Das Studium wurde so neben­bei geschmissen. Dieser Satz läßt sich bei näherer Betrachtung seiner Pläne für die „Freisemester“ in „Frei“-Burg auch auf seine dortige Zeit übertragen. Das zeigt sich unter anderem in Beispielen aus Briefauszügen und seinen Vorlesungsplänen sowie in dem offensichtlich recht seltenen Besuch der Universitätsbibliothek[1].

[1] Im gesamten Tagebuch findet sich nur eine einzige Notiz über den Besuch der Universitätsbibliothek.
Siehe 11.5.1936.

Donnerstag, 26. März 1936
Karl Leisner aus Kleve an Walter Vinnenberg[1] in Telgte:
Grüß Gott, lieber Walter!
[…]
Auf das Sommersemester in Freiburg/Br. freu’ ich mich sehr. Als größeren Studienplan hätte ich wohl: Scheebens Dogmatik.[2] Ich weiß nur nicht, wo­her so’n „Mammutwerk“ bekommen. Wüßtest Du da vielleicht einen Rat oder ‘ne Stelle zum Leihen oder zu billigem Erstehen? Neu ist sie für mich zur Zeit unerschwinglich.
Wenn die Romfahrt nix gibt, vielleicht versuchen wir’s dann zu Pfingsten mit ‘ner Schweiz- oder Frankreichfahrt für 14 Tage bis 3 Wochen.
Sobald ich in Fr. [Freiburg/Br.] angelangt und untergekrochen bin, schreibe ich Dir noch Näheres und mehr.

[1] Prälat Dr. phil. Walter Vinnenberg (* 8.6.1901 in Lippstadt, † 1.12.1984 in Bocholt) – Priesterweihe 27.2.1926 in Münster – Kaplan in Kleve St. Mariä Himmelfahrt u. Religionslehrer am Gymnasium in Kleve in allen Klassen v. 1.4.1926 bis Pfingsten 1929 – Außerdem unterrichtete er Hebräisch und Sport und leitete eine religionsphilosophische Arbeitsgemeinschaft. Später unterrichtete er auch Französisch. Er gewann Karl Leisner für die Jugendarbeit und gab den Anstoß zur Gruppenbildung. Mit den Jungen unternahm er zahlreiche Fahrten auch noch nach seiner Tätigkeit in Kleve. Als Studien­assessor war er am Ma­rienober­ly­zeum in Münster (1934–1937) und am Gymna­sium in Coesfeld (1937) tätig.
[2] Scheeben, Matthias Joseph: Handbuch der katholischen Dogmatik, 3 Bde., Frei­burg/Br. 21943 1873ff.

Laut Vorlesungsverzeichnis der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für das Sommersemester 1936 läßt sich folgender Vorlesungsplan für Karl Leisners fünftes Semester erstellen:

Vorlesungen1

Josef Köckemann[1] am 14. Januar 1998 im Gespräch mit Hans-Karl Seeger:
Als wir in Freiburg/Br. waren, gingen wir in die Pfarrheime, um etwas über das Leben der Jugend zu er­fahren.[2] Bei einer solchen Gelegenheit tra­fen wir auf einen klei­nen Jesuiten. Es war Pater Con­stantin Noppel[3]. Er fragte uns, ob wir nicht Lust hätten zu einer Fahrt nach Rom. Wir würden auch eine Pri­vatau­dienz beim Papst[4] bekommen. Sein Freund Kardinal Cac­cia[5] regele die Emp­fänge im Vatikan, so garantiere er für eine Audienz. Als Kleidung sollten wir nur kurze Hose und weißes Hemd tragen, das gelte seit [dem Reichstreffen der Sturm­schar] Ostern 1935 als Uniform. Übernachten sollten wir in Rom im Kolpinghaus, das von deut­schen Schwe­stern geführt würde, sauber – wanzen­frei – und sehr preiswert sei.

[1] Josef (Jupp) Köckemann (* 20.4.1915 in Königssteele, † 18.11.2006) – Abitur am Gymnasium Paulinum in Münster – Kursgenosse von Karl Leisner – Außen­semester in Freiburg/Br. 1936/1937 – Priesterweihe 23.9.1939 in Mün­ster – Er wuchs in Münster auf und war dort Stadtjung­scharführer. Am Gymnasium Paulinum hatte er in der OI Religionsunterricht bei Walter Vinnenberg.
[2] Wilhelm Gertz:
Mein Mitbruder [Josef] Vienenkötter hat mir von der intensiven Mitarbeit des Dieners Gottes [Karl Leisner] in der katholischen Jugendbewegung, auch in Freiburg/Br., berichtet (Martyrerprozeß: 81).
[3] Pater Constantin Noppel SJ (* 2.8.1883 in Radolfzell, † 2.7.1945 in Stuttgart) – Priester­weihe 28.10.1908 in Rom – Eintritt in die Gesellschaft Jesu 30.9.1909 in Tisis bei Feldkirch/Vorarlberg/A – Letzte Gelübde 2.2.1920 – 1936 vermittelte er Karl Leisner durch seinen Freund Camillo Kardinal Caccia Dominioni eine Audi­enz bei Papst Pius XI.
[4] Achille Ratti (* 31.5.1857 in Desio/I, † 10.2.1939 in Rom) – Priesterweihe 1879 – Bischofs­­weihe zum Titularerzbischof von Naupactus 1919 – Erzbischof u. Kardinal von Mailand/I 1921 – Papst Pius XI. 6.2.1922
[5] Camillo Kardinal Caccia Dominioni (* 7.2.1877 in Mailand/Lombardei/I, † 12.11.1946 in Rom) – Priester­wei­­he 23.9.1899 in Mailand – Apostolischer Protonotar u. Maestro di Camera di Sua Santità (Kammermeister seiner Heilig­keit) ab 16.6.1921 –  Kardinal 16.12.1935

Max Terhorst[1]:
Streng genommen war es uns nicht erlaubt, das Studium in Freiburg/Br. zu unterbrechen, bzw. unsere Pfingstferien eigenmächtig auf vier Wochen zu ver­längern.[2]

[1] Max Terhorst (* 11.4.1915 in Emmerich am Rhein, † 24.1.1998) – Mitglied des ND – Eintritt ins Collegium Borromaeum in Münster 1.5.1934 – Außensemester in Frei­burg/Br. 1936/1937 – Teilnahme an der Romfahrt mit Karl Leisner u. Josef Köcke­mann 22.5. bis 8.6.1936 – Er ist kein Priester geworden.
[2] Seligsprechungsprozeß: 822f.

Die Romfahrt fand über Pfingsten vom 22.5. bis 8.6.1936 statt.

Für eine Trampfahrt vom 6. bis zum 8. Mai 1936 wechselte Karl Leisner laut Reisepaß am 30. April 1936 in Freiburg/Br. 10,00 Reichs­mark in Schweizer Franken..

Montag, 11. Mai 1936
Karl Leisner aus Freiburg/Br. an Walter Vinnenberg in Münster:
Grüß Gott, lieber Walter!
[…]
Scheebens Dogmatik habe ich hier an der Unibücherei bekommen und die Anfangsschwierigkeiten des Einarbeitens sind über­wun­den. Der stürmische und kalte Monat April war so recht zum Studium geeig­net.
[…]
Heute morgen hab’ ich mich mit Jupp K. [Köckemann] zusammengesetzt und festgestellt, daß es höchste „Eisenbahn“ wird für die technische Vorberei­tung der Romfahrt, die endgültig am Freitag nach Christi Himmelfahrt [22.5.1936] los­gehn soll. Und zwar trampen wir bis Airolo.[1] Von dort per Zügle über Genova [Genua] hin. Pfingsten in Rom. Wir schlafen im Collegio Kolping, Via dei Pettinari.
[…]
Zurück wollen wir über Firenze [Florenz], Bologna. Wir denken, auf der Hinreise den Lago di Como, Milano und Genova [Comer See, Mailand und Genua] „mitzunehmen“, zurück Firenze und Bologna.
Die Fahrkarte kostet uns ab Airolo je 24,00 frc [Schweizer Franken] hin und zurück. (= je 20,00 RM).[2]
Nun haben wir an Dich folgende Bitte: Schicke uns bitte „auf zwei Pässen“ 20,00 RM an Pfarrer Schlumpf[3] „mit dem Vermerk, daß sie für uns sind“. Das ist ja statthaft und Dir wohl möglich.
Die andern 20,00 RM überweise bitte baldmöglichst auf mein Spar­konto hier an der öffentlichen Sparkasse der Stadt Freiburg
/Br. (Konto-Nr. 58640).
Über die Rückzahlung der 40,00 RM in den Herbstferien schrieb ich Dir ja schon. Jupp und ich danken Dir schon jetzt recht herzlich für Deinen Liebesdienst. – Schreibe mir dann bitte eben eine Car­tolina postale [Postkarte], wenn Du das Geld abgesandt hast. – Wenn Du etwa [für] uns einige praktische Reise- und Fahrtenwinke für die Hin- oder Rück­route wüßtest, vielleicht sogar [die] eine oder andere Adresse, so wären wir Dir natürlich recht dankbar dafür. – Aus dem Studienleben hier könnte ich an­sonsten wenig Erfreuliches berichten, höchstens, daß Professor [Theo­dor] Müncker gut Moral liest, Professor [Arthur] Allgeier ein ganz pedan­tischer „Chateph- und Segolmann[4]“ ist, daß Professor [Engelbert] Krebs und Pro­fessor [Rupert] Angermair (aus „nationalen Gründen“) die Er­laubnis zu dozieren entzogen bekommen haben.

[1] Schweizer Dorf im Kanton Tessin am Südende des Gotthardtunnels
[2] Fahrpreisermäßigung wegen des Weltkongresses der Ka­tholischen Presse in Rom
[3] Pfarrer Josef Schlumpf (* 15.2.1896 in Steinhausen/CH, † 17.9.1970 in Zürich/CH) – Priesterweihe 15.7.1923 in Luzern/CH – Pfarrer in Stetten/CH 1929–1942 – Pfarrer in Walch­wil/CH 1942–1967 – Ruhestand in Cham/CH 1967–1970 – Freund von Walter Vinnen­berg
[4] „Chatéph“ und „Segol“ sind Begriffe aus der hebräischen Grammatik: chateph = flüchtig. Das Hebräische kennt flüchtige Vokallaute, die als Chatéph-Vokale be­zeichnet werden; Segol ist die hebräische Bezeichnung für den Vokal ä (kurz oder lang).

Für einen weiteren Ausflug in die Schweiz hat Karl Leisner laut Reisepaß am 13. Mai 1936 in Freiburg/Br. 10,00 Reichs­mark in „Ausländische Geldsorten“ gewechselt und am selben Tag die Grenze bei Weil-Otterbach überschritten.

Karl Leisner war im Herbst 1936 an einer Rippenfellentzündung erkrankt; daher fuhr er am Samstag, dem 28. November 1936 verspätet nach Freiburg/Br. ins Winter­semester. Die Gebüh­ren bei der Fachschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg be­zahlte er am 30. November. Vermutlich war das auch der Tag der Rück­mel­dung.

Laut Vorlesungsverzeichnis der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für das Wintersemester 1936/1937 läßt sich folgender Vorlesungsplan für Karl Leisners sechstes Semester erstellen:

Vorlesungen2

Donnerstag, 10. Dezember 1936
Karl Leisner aus Freiburg/Br. an Walter Vinnenberg in Münster:
Grüß Gott, lieber Walter!
[…]
Bin nun [nach der Rippenfellentzündung] seit Ende November hier und wieder ganz auf dem Damm. Ein wenig achtsamer als sonst muß ich halt sein. Auch [an] größere körperliche Strapazen ist vor Januar kaum zu denken. Hoffe dann aber doch ein wenig Ski „probieren“ zu können.
Augenblicklich hab’ ich Zeit zum Studium. Das bisher Versäumte läßt sich bald nachholen. Privatim arbeite ich mich noch einmal durch Sprangers „Psychologie des Jugendalters“[1]. Beginnen will ich dann mit Scheebens „Mysterien“[2], die der Diözesanpräses[3] mir zum Abschied von der Jungschararbeit schenkte.
[…]

Pfarrer Schlumpf will ich zu Weihnachten schreiben. Vielleicht sagen wir ihm von hier aus zu zweit mal im Vorbeigehn guten Tag. Für Fe­bruar haben wir nämlich eine „Trampwallfahrt“ nach Einsiedeln vor. Vielleicht geht’s dann über Vaduz[/Liechtenstein] (Carl von Vogelsang[4]) – Bodensee – All­gäu zu­rück. – Mal sehn, wie’s auskommt[5]. Das sind Pläne.

[1] Spranger, Eduard: Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1 u. 21924
[2] Scheeben, Matthias Joseph: Die Mysterien des Christentums, Freiburg/Br. 1865, 1925
[3] Prälat Heinrich Roth (* 12.8.1899 in Oberhausen-Osterfeld, † 23.4.1972) – Priesterweihe 22.12.1923 in Münster – Mitglied des Reichsvorstandes des KJMVD 1932–1934 – Diöze­sanpräses des KJMVD 9.4.1934 – Diöze­sanju­gend­­seelsorger 1937/1938 – Spiritual im Priester­seminar in Mün­ster 3.10.1949
[4] Carl Miguel Ludwig Berta Maria Veronika Freiherr von Vogelsang (* 1.7.1900 in Bad Wörishofen, † 4.4.1977 in Lübeck) – auf Grund des Todes der Mutter bei seiner Geburt Erziehung durch Tanten in Rattenberg bei Hall in Tirol/A – später Aufenthalt in Kleve bei Familie Wilhelm Wint­huis, Verwandten mütterlicherseits – Lehre als Buchhändler mit Ge­sel­lenprüfung 15.1.1921 bis 11.6.1926 – Ende seines Aufenthaltes in Kleve – Für Karl Leisner war er eine wichtige Person und einflußreicher Wegbegleiter während der Jugendzeit.
[5] Die Fahrt hat nicht stattgefunden.

Frei­tag, 5. Fe­bruar 1937
Karl Leisner aus Freiburg/Br. an Walter Vinnenberg in Coesfeld:
Morgens kann ich ganz still für mich studieren. Einige Stunden am Nachmit­tag und den Abend widme ich dann den Buben [der Familie Ruby].[1] So ist’s fein zu le­ben. – Jetzt geht das erlebnisreiche Jahr [der Außensemester] in Freiburg/Br. seinem Ende zu.

[1] Eheleute Dr. rer. pol. Joseph Ruby (* 1885) (Versicherungskaufmann) u. Ruby, Elisa­beth geb. Poensgen (* 25.12.1884) – Heirat 2.2.1912 in Berlin – 12 Kinder: 8 Jungen u. 4 Mädchen – 6 der Jungen studierten Theo­logie.
Familie Ruby war Karl Leisners zweite Gastfamilie während seiner Au­ßen­se­mester in Frei­burg/Br.

Siehe auch Aktuelles vom 14. Juni 2013.