„Brügge sehen und nicht sterben“ lautet ein Artikel von Astrid Ludwig im Reiseblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Oktober 2016.
Karl Leisner hat das malerische Brügge 1935 auf der Flandernfahrt besucht und erlebt, wie Astrid Ludwig es beschreibt:
„Brügge mit seinen imposanten Plätzen und gotischen Bauten, seinen kleinen Gassen und ziselierten, verschnörkelten Fassaden hat nie Brände oder Kriegszerstörungen erlebt.“
Link zum Artikel
Tagebucheinträge
Freitag, 9. August 1935, 7. Tag
Dann nach Brügge (14.30 Uhr) – 19.00 Uhr im Kloster [der Benediktiner] in Steenbrugge.[1] Vorher durch die alte Stadt (Posterija[2]). – Nach der [lateinischen] Komplet deutsche Lieder. 22.00 Uhr Falle. P. Antonius [de Landtsheer OSB[3]] tischt auf.
[1] Sint-Pietersabdij – Steenbrugge in Assebroek-Brugge – 1875 kaufte Pastor Nollet aus Steenbrugge ein Stück Land, um eine Kirche mit Pastorat und ein Kloster zu bauen. Vier Jahre später bezogen vier Benediktiner aus Dendermonde die Gebäude, die seit 1896 den Namen Abtei tragen.
[2] vermutlich Ausdruck für Post
[3] Pater Antonius de Landtsheer OSB (* 9.10.1900, † 9.7.1969) – Mönch des Benediktinerklosters Sint-Pietersabdij – Steenbrugge in Assebroek-Brugge/B
Prospekt des Klosters
prospekt-1
Samstag, 10. August 1935, 8. Tag
8.00 Uhr Hochamt. – Obst mit Brot –
Dann zur Stadt: Belfried[1] (Beiard [Beiern – Glockenspiel]).
[1] Der Belfried ist 85 m hoch und über 366 Stufen zu besteigen.
Von 11.00 bis 11.30 Uhr Salvatorkathedrale[2].
[2] älteste Pfarrkirche der Stadt Brügge – Errichtung im 9. Jh. – mehrmalige Zerstörung durch Brand – Errichtung des Turmes 12.–13. Jh. – ältestes Ziegelsteingebäude in Belgien – Erhebung zur Kathedrale 1834
11.30 bis 12.00 Uhr Beiardkonzert.
Mittag: Himmel und Erde[1] und Speck. Karten schreiben. – Dann mit Johann[2] und Wem[3] zur Stadt. Für Pfannekuchen eingekauft. Das malerische Brügge erlebt.
Nach dem Äppelpfannekuchen und Brot in die Falle.
[1] rheinisches u. niedersächsisches Traditionsgericht aus Stampfkartoffeln u. Apfelmus – Die Äpfel an den Bäumen symbolisieren den Himmel, die Kartoffeln (Erdäpfel) die Erde. Als Beilage gehört zu diesem Gericht gebratene Blutwurst.
[2] Johann (Jan) Peters (* 26.4.1915, † gefallen 2.10.1941 in Rußland) – auf Drängen der Lehrerschaft u. auf eigene Bitte nach dem 6. Volksschuljahr Wechsel zum Gymnasium in Kleve – Erhalt eines Stipendiums – Teilnahme an der Baltrumfahrt 1933 u. an der Flandernfahrt 1935 – einer der besten Abiturienten des Klever Gymnasiums 1936 – Arbeitsdienst in Benschbude Waldeck über Crossen (Oder), Abt. 6/88 I. Zug 1936
[3] Wilhelm (Willy) Haas (* 17.11.1914 in Rindern, † 27.12.1993 in Kellen) – Heirat mit Karl Leisners Schwester Elisabeth 28.5.1947 – Neben zahlreichen anderen ehrenamtlichen Aufgaben wurde er 1975 Geschäftsführer des IKLK. Schon früh sammelte er Dokumente über Karl Leisner. Vor allem nach seiner Pensionierung setzte er im IKLK seine ganze Kraft für die Seligsprechung seines Schwagers ein. Im Seligsprechungsprozeß 1981 und im Martyrerprozeß 1990 für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.
Sonntag, 11. August 1935, 9. Tag
7.00 Uhr raus. 8.00 Uhr heilige Messe. Dann Kaffee mit Butterbroten. – Zur Stadt. (KAJ[1]) Mittags Gemüsesuppe (Ia!) – Nachtisch: Plätzchen, Birnen und Eis! Richtiges Sonntagsessen. Dann zu den Kajotters. […] 18.30 Uhr auf dem Missiefest [Missionsfest]: gekegelt.
[1] Katholieke Arbeiders Jeugd, genannt Kajotters (niederl.) = Katholische Arbeiterjugend (KAJ) – Gründung durch Joseph Cardijn in Belgien 1924/1925
Der Abt [Dom Modest van Assche OSB] sehr leutselig. Gefuttert. Lieder gesungen. 22.30 Uhr die andern in die Falle. Bis 24.00 Uhr noch mit P. Antonius [de Landtsheer OSB], Jos. Tori.. etc. und den Antwerpenern gesprochen. Deutschland – das vorbld. Ld. [vorbildliche Land] Europas.
Abt Dom Modest van Assche OSB (* 18.5.1891, † 30.10.1945) – Abt der Sint-Pietersabdij Steenbrugge in Assebroek-Brugge/B 1932–1945 – bekannt durch seine bedeutende Rolle in der Liturgischen Bewegung
Montag, 12. August 1935, 10. Tag
5.30 Uhr raus. 6.00 Uhr Antwerpener geweckt. 6.00 Uhr heilige Messe. – Kaffee. – Packen. Abschied. 8.00 Uhr weg nach Wenduine.
Während Karl Leisner nur Notizen zur Flandernfahrt gemacht hat, fertigte Wilhelm Haas eine Reinschrift und klebte auch Fotos ein.[1]
[1] Haas, Wilhelm: Fahrtenbericht über die Flandernfahrt 1935, (Manuskript)
bruegge1-1
bruegge2-1
bruegge3-1
bruegge4-1
bruegge5-1
Die Jungen „begegneten“ auch dem Dichter Guido Gezelle[1]
Guido Gezelle (* 1.5.1830 in Brügge/B, † 27.11.1899 ebd.) – Priesterweihe 1854 – flämischer Schriftsteller
brueggegezelles-2
Karl Leisner schätzte den Dichter und erwarb zwei Gedichtbände.
Guido Gezelle
Kerkhofblommen [Kirchhofblumen], Brussel/Antwerpen/Leuven/Gent o. J.
Samstag, 7. Dezember 1935
An feinen Büchern lese ich zur Zeit: 5) Guido Gezelle „Kerkhofblommen“. (Vlaamsch [Flämisch])
Sonntag, 8. Dezember 1935
Ich beginne nur [nun] zu versuchen an Guido Gezelles „Kerkhofblommen“.
Samstag, 28. November 1936
Dann lese ich Guido Gezelles „Kerkhofblommen“. – Eine wunderbar innige, ganz christusgläubige Durchdringung des Todesgedankens. Und welche Verwachsenheit mit Heimat und Blut und Scholle! Der ganze Priester und der echte Dichter spricht und klingt und singt aus seiner lyrisch-elegischen Wortmusik uns an. – Erhebung, Sammlung, Stille und Tiefe schenkte er mir.
Angetan hatte es Karl Leisner auch das Gedicht „Der alte Brevier“[1] von Guido Gezelle.
Münster, Mittwoch, 8. Juni 1938
So jetzt: buona notte! [Gute Nacht!] Schön war der Besuch mit Heini Tenbg.[2] bei Dr. Höfer[3]. Wir kamen näher ins Gespräch. Ein prachtvoller Mann! Ich fand per casum [casu – durch Zufall] in Guido Gezelle ein Gedicht: „den ouden brevier“ [Der alte Brevier], das ganz prächtig in unseren Stoff paßte. – Ein feiner Nachmittag! Heute, als Professor Höfer [um 11.15 Uhr[4]] von den Gepflogenheiten christlicher Bildung, zumal theologischer und klerikaler Bildung sprach, ging’s mir wieder durch’s Herz: Wär’s nicht besser – ausgerüstet mit der ganzen Kraft der S. Theologia [heiligen Theologie] – hinein als Christ in die Welt?
[1] Der Artikel zu Brevier, das im Niederländischen und im Deutschen Neutrum ist, erstaunt sowohl im Urtext als auch in der deutschen Übersetzung.
Gezelle, Guido: Gedichte, Insel-Bücherei Nr. 213, Leipzig o. J. [1917], aus dem Flämischen übersetzt von Rudolf Alexander Schröder
[2] Bischof Heinrich (Heini) Tenhumberg (* 4.6.1915 in Lünten, † 16.9.1979) – Abitur am Gymnasium Paulinum in Münster – Eintritt ins Collegium Borromaeum in Münster 1.5.1934 – Karl Leisners Schönstattgruppenführer im Collegium Borromaeum in Münster – Aufnahme in den Apostolischen Bund von Schönstatt 8.9.1936 – Priesterweihe 23.9.1939 in Münster – Aushilfe in Ossenberg 1939–1940 – Kaplan in Marl-Brassert 9.2.1940 – Militärdienst als Sanitäter (1943 in Stralsund) u. englische Kriegsgefangenschaft 1942–1945 – Vikar in Freckenhorst 1945–1947 – Domvikar 1947 – Domkapitular 1954 – Bischofsweihe zum Weihbischof für das Bistum Münster 20.7.1958 – Bischof von Münster 7.7.1969 bis 16.9.1979
[3] Prof. Dr. theol. habil. Josef Rudolf Höfer (* 15.11.1896 in Weidenau, † 7.4.1976 im Kloster Grafschaft/Schmallenberg) – Priesterweihe 13.1.1924 in Paderborn – Präfekt im Collegium Leoninum in Paderborn 15.9.1934 – Anstellung als Vertretung der Professur für Pastoraltheologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 4.11.1936
[4] Professor Josef Höfer las am Dienstag und Mittwoch von 11–12 „Katechetik“.
Auch mit den Beginen beschäftigten sich die Jungen.
brueggebeginen-1Beginen
Das Beginentum ist eine geistliche Lebensform zwischen Laientum und Ordensstand. Ursprünglich waren Beginen Frauen, die ihr Leben Gott weihen wollten, ohne dabei ihre geistige und wirtschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben. Sie traten nicht in einen Orden ein, sondern lebten anfangs in einem Privathaus zusammen. Als ihre Zahl wuchs, entstanden die Beginenhöfe. Die Beginen legten das Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams ab, aber nicht das Armutsgelübde. Es gab keine Ewigen Gelübde. Mit dem Ertrag ihrer Arbeit kamen sie für ihren eigenen Lebensunterhalt auf. Sie konnten die Gemeinschaft jederzeit verlassen, z. B. um zu heiraten.
Anlaß zur Gründung dieser Gemeinschaften war u. a. der Tod zahlreicher Männer bei Kriegen und Kreuzzügen im 10. Jh., wodurch viele Frauen keine Eheaussichten hatten. Für wenig bemittelte Frauen war der Eintritt in ein Kloster oder eine Abtei nicht möglich, weil sie nicht über eine genügend große Mitgift verfügten, aber auch viele wohlhabende Witwen und junge Frauen schreckten vor einer Bindung an die Regeln und die Mauern eines Klosters zurück. Heute erfährt das Beginentum eine Wiederbelebung.
Siehe auch Rundbrief des IKLK Nr. 43 – Flandernfahrt 1935: 42-44.
Quelle der Fotos: Gabriele Latzel und Karl Leisner-Archiv