Die Befreiung des KZ Dachau am 29. April 1945 bedeutete für Karl Leisner noch keine Freiheit. Am 4. Mai 1945 gelang es Pater Otto Pies SJ mit Hilfe von Pfarrer Friedrich Pfanzelt von der Pfarrei Sankt Jakob in Dachau, Karl Leisner aus dem KZ herauszuschmuggeln.
Nach einem kurzen Aufenthalt im Pfarrhof von St. Jakob bei Pfarrer Pfanzelt brachte Otto Pies Karl Leisner noch am selben Abend ins Waldsanatorium Planegg. In seinem Tagebuch notierte Karl Leisner:
Dachau, Freitag, 4. Mai 1945, Heilige Monika[1] [Tgb. 27, 7–9]
Herz-Jesu-Freitag im Marienmonat. Habe großes Vertrauen grad’ wegen der absoluten Not und Schlappheit. Bete mit Mutter Monika und meiner Mutter um baldige Wende.[2] (Holocaustum [Ganzhingabe]!)
18.00 Uhr abends [kommt] Otto mit Pfarrer von Dachau [Friedrich Pfanzelt]. Tiefe Rührung bei der Begegnung mit Geistlichem Rat Pfanzelt. Otto nimmt mich mit.[3] Schnell Verband bei Wenzel [Schulz].[4] Lokus. Anziehen.[5] Allernötigstes gepackt.[6] Los! Otto muß mich durchs Revier führen. Schlapp bin ich! Über den Appellplatz. – Abschied. Das Riesenkreuz und der Altar mit den Fahnen stehn noch da.[7] Abschied vom Lager!
Gut durchs Tor [des Jourhauses] und Entlassung. – Ins Auto![8] Deo gratias!!!! Keine Autokontrolle. Der Heiland bei uns![9]
Etwas gebrochen nach der Aufregung und Anstrengung. Nach Dachau [zum Pfarrhof von St. Jakob]. Der gute Pfarrer [Friedrich Pfanzelt] läßt mir Weiheurkunde rahmen. Traubensaft, Rotwein, Hautöl, Schal. Rührend besorgt!
Morgen Dankmesse. Prächtiger Mann! An großen Anlagen, Apfelblüte vorbei, über Ampersteg. (Die große Brücke durch SS gesprengt![10]) Richtung München. Allach. Zerstörte Straßen. O – weites Land! Freiheit!! Abends beim Dämmerschein im Waldsanatorium gelandet. (Maria Eich vorbei. Zerstörte OT [Organisation Todt]-Wagen) Bombentrichter. Da!! Freundliche Aufnahme durch Oberin [Schwester Virgilia Radlmair] und Chefarzt [Dr. Bernhard Cramer].[11] Zimmer 76[12]. Im Bett. Oh – – !
Tct-Opii [Tinctura Opii]. Kleiner Tee mit Ei. Überglücklich!! Danken, danken, Eucharistia! [Danksagung] Otto mit mir! Er und [Fr.] Bernhard Kranz [SJ] bleiben über Nacht da. – Allein in einem eigenen Zimmer. Welche Seligkeit!
[1] In Erinnerung an dieses Datum wurde die älteste Tochter von Karl Leisners jüngster Schwester Elisabeth Haas auf den Namen Monika getauft.
Vor der liturgischen Kalenderreform 1969/70 wurde das Fest der hl. Monika am 4.5. gefeiert, heute am 27.8.
[2] Karl Leisner fühlte sich im Gebet verbunden mit der hl. Monika, die für ihren Sohn, den hl. Augustinus, betete und mit seiner eigenen Mutter, die ihn persönlich immer in ihr Gebet einschloß.
[3] P. Josef Fischer SAC:
Am 4. Mai ist noch bemerkenswert die Entführung von Karl Leisner aus dem Invalidenblock (Fischer 1964 Bd. III: 162).
P. Josef Fischer SAC selbst konnte am 21.5.1945 auf einem Milchwagen versteckt mit zwei weiteren Häftlingen aus dem Lager in Dachau entkommen.
[4] Emmerich Hornich:
Der Heiland in Brotsgestalt war ständig im Krankenbau. Einen ganz besonderen Ehrenplatz hatte er auf Block 13, wo der Kamerad Wenzel Schulz, Prior der Barmherzigen Brüder aus Prag, das Allerheiligste verwahrte (Lenz 1957: 280).
Emmerich Hornich aus Innsbruck am 18.2.1967 an Josef Albinger:
[…] Prior der Barmherzigen Brüder [Wenzel Schulz] von Prag, der ein weiteres getan, und ich wurden vielen zum Trotz wieder gesund.
[5] P. Josef Fischer SAC:
Herr Pater [Otto] Pies [SJ] hatte Vorsorge getroffen. In einem Karton brachte er schwarze Priesterkleidung mit. Karl Leisner wurde nun im Revier in Klerikerkleidung gesteckt. Herr Pater Pies war mit Herrn Pfarrer [Friedrich] Pfanzelt ins Lager gekommen. Beide hatten einen Erlaubnisschein durch die Amerikaner. Nun traten sie beide wieder aus dem Lager heraus. Herr Pfarrer gab dann Pater Pies seinen Passierschein. Herr Pater Pies ging daraufhin wieder ins Lager hinein und händigte den Schein von Herrn Pfarrer Karl Leisner aus. So verließen sie nun beide das KZ. Karl Leisner war frei! (Fischer 1964 Bd. III: 162).
[6] Karl Leisner nahm sein angefangenes Tagebuch, die letzten Briefe von P. Otto Pies SJ, die Weiheunterlagen und drei Röntgenfilme mit. Zurück ließ er u. a. die Meßgarnitur und die „Schönstatt-Horen“.
Andere Unterlagen wie z. B. die Briefe von Heinrich Tenhumberg und die Gratulationen zur Priesterweihe wurden entweder schon vorher oder erst nachher aus dem KZ geschafft.
[7] Ferdinand Maurath:
Nach wenigen Tagen schon waren ein 20 m hohes Kreuz und drei Altäre errichtet und feierlichster Gottesdienst unter allgemeiner Beteiligung von Zelebrans und acht Leviten gehalten (Maurath 1970: 153).
[8] Laut Pfarrer Dieter Heck, Priester der Erzdiözese Freiburg, hat P. Franz von Tattenbach SJ als Spiritual in Freiburg berichtet, er persönlich habe mit seinem eigenen Wagen P. Otto Pies SJ und Karl Leisner vom KZ Dachau zum Pfarrhaus von Dachau und weiter nach Planegg gefahren.
P. Hans Grünewald SJ aus München am 31.8.2001 an Hans-Karl Seeger:
Es war wohl nicht der Lastwagen mit einem Holzvergaser. Vielleicht hatte Pater von Tattenbach als Vizerektor vom Berchmans-Kolleg in Pullach einen besseren Wagen.
[9] P. Otto Pies SJ:
Bei den wenigen aus der Krankenstube mitgenommenen Sachen, die Karl aus dem Lager rettete und in die Freiheit mitnahm, war auch das Kostbarste, was er all die Jahre hindurch besessen hatte, die heilige Eucharistie. Mit seinem Herrn in Brotsgestalt machte er seine letzte Fahrt (Pies 1950: 188).
[10] Paul Brandt:
Der frühere Kaplan [von Dachau] Wilhelm Schels schildert den Einmarsch der Amerikaner am 29. April 1945 folgendermaßen: „In der Früh bin ich auf dem Rad noch zu unserer Nebenkirche St. Johann [an der Ecke Münchner Straße/Schiller Straße, die 1933 eingeweiht worden war] zum Gottesdienst gefahren. Während der Messe war Fliegeralarm. Ich habe die Leute heimgeschickt und zu Ende zelebriert. Anschließend bin ich gerade noch über die Amperbrücke [Münchner Straße/Ludwig-Thoma-Straße] gekommen, bevor sie von der SS in die Luft gesprengt worden ist.“ (Brandt 1982: 34).
[11] Schwester Juvenalis Brandl:
Karl Leisner hatte einen Freiplatz, weil niemand für ihn zahlte. Wir haben uns auch nicht bemüht, einen Kostenträger für seinen Aufenthalt zu finden (Seligsprechungsprozeß: 1217).
[12] In diesem Zimmer lag Karl Leisner bis zu seinem Tod.
Während der Generalsanierung des Hauses, bei der jedes Zimmer mit einer Naßzelle ausgestattet wurde, drängte die Ordensleitung darauf, im Gedenken an den seligen Karl Leisner Zimmer 76 im ursprünglichen Zustand zu erhalten. Im Internet ist das Zimmer unter der Adresse http://www. barmherzige-schwestern-muenchen.de/index.php?id=132 zu besichtigen.
Karl Leisner mit P. Otto Pies SJ (l.) und Pfarrer Friedrich Pfanzelt
Planegg, Samstag, 5. Mai 1945, Maria, Patrona Bavariae [Tgb. 27, 9–12]
Mit Dankes- und Freudentränen war ich eingeduselt. O wie wohl ist mir. Wie ist Gott so unendlich gut. Wenn die Not am größten, hilft Er. Nur die Ganzhingabe wollte Er vorher.
Otto kommt nach der heiligen Messe zu mir. Wir sind so glücklich. Zu mir kam der Eucharistische Heiland auch schon in der Frühe.[1] Die Pflege der guten Schwestern tut so gut. Die Dachauer düsteren Bilder fallen langsam von der Seele. Ich bin freier Mensch, Alleluja! Wiedergeboren! Wieder zur Menschenwürde gelangt. Blumen auf dem Tisch. Das Cruzifix an der Wand. Die Schwester bringt noch das Kölner Dombild von Stephan Lochner von Unserer Lieben Frau.[2] Alles empfehle ich Ihr, meiner geliebtesten heiligen Mutter. Mhc [Mater habebit curam – Die Mutter wird sorgen]! Oft grüße ich sie mit Tränen in den Augen.
Der Chefarzt [Dr. Bernhard Cramer] kommt schauen. Der Oberarzt Dr. [Wilhelm] Corman aus Aachen wird mich behandeln. Ehemaliger NDer. Ia! Wie herrlich sich alles findet.
Gegen 10.00 Uhr runter im Wagen. Durchleuchtung. Untersuchung. Röntgenaufnahme. – Ein feiner Arzt und Mensch [Dr. Wilhelm Corman]. Hat gleich mein volles Vertrauen und Sympathie. – Ich vergehe fast vor Freude und Dankbarkeit. Nachmittags kommt er zur Visite. Hört mich an über das KL. Läßt mich erzählen. Den Dreck von der Seele wegspülen. Das Mittagessen ist prächtig. So fein serviert alles und weiße Wäsche. Ich bin über alles so froh. Der Wald schaut zu mir herein. Eine frische Birke. Ein grüner Buchenbusch. Und frisch ausgeschlagene mächtige Fichten.
Ich schaue, döse, träume, danke, streife Dachau ab. – – Wie wonnig. Hier kann sich Leib und Seele erholen. Ich kann wieder recht beten. – Aus der Stille spricht Gott – , obwohl ich so schlapp bin.
[1] Karl Leisner war zu schwach, um an der Schwesternmesse in der Kapelle, die der Kurat Dr. Georg Mayr zelebrierte, teilzunehmen. Es bestand eine Übertragungsmöglichkeit aus der Kapelle in die Krankenzimmer. Die Kommunion wurde ihm ans Krankenbett gebracht.
[2] Im Kölner Dom befindet sich die „Anbetung der Heiligen Drei Könige“ von Stephan Lochner. Laut Karl Leisners Schwester Elisabeth Haas hing nicht dieses Bild an der Wand, sondern Stephan Lochners Bild „Maria im Rosenhag“, welches sich im Kölner Wallraf-Richartz-Museum befindet. Als Postkarte und Miniposter war diese Darstellung in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland sehr verbreitet.
Mutter Amalia Leisner:
Große Freude empfand er auch, daß man ihm das Bild der Muttergottes von Stephan Lochner gegenüber seinem Krankenbett anbrachte (Seligsprechungsprozeß: 149).
Der belgische Zeichner Didgé hat im Comic Victor in Vinculis – Sieger in Fesseln das Geschehen in folgenden Szenen dargestellt: