Karl Leisner und Augustinus von Hippo

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Bischof Aurelius Augustinus von Hippo (* 13.11.354 in Thagaste/Souk Ahras/DZ, † 28.8.430 in Hippo Regius/Annaba/DZ) – Bischof von Hippo Regius 395 – Beken­ner, Großer Kirchenvater u. bedeu­tendster lateinischer Kirchenvater – Gedenktag 28.8.

Klaus Rosen. Augustinus – Genie und Heiliger.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015

 

 

Die F.A.Z. vom 8. Juli 2015 brachte eine Rezension des Buches unter der Überschrift „Im Hexenkessel der Liebe reifte der Kirchenstar – Ein großer Theologe, genialer Kommunikator und prägender Schriftsteller: Klaus Rosen legt eine bündige Biographie des Kirchenvaters Augustinus vor“.

Link zum Artikel unter Rezensionen bei buecher.de

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Karl Leisner hat Augustinus sehr häufig in seinen Tagebüchern zitiert, vor allem hat er sich mit dessen Bekenntnissen [Confessiones] beschäftigt. Insofern hätte er sich vermutlich sehr für die oben genannte Biographie interessiert.

Augustinus. Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, Frankfurt am Main 1987 (zit. Augustinus 1987)

 

 

Einträge zu und Anklänge an Augustinus in Karl Leisners Tagebüchern:

Kleve, Samstag, 4. März 1933
Etwas Festes muß ich [mir] auch täglich vornehmen. Jeden Tag unter einen leitenden Gedanken stellen. Für bestimmte Zeit bestimmte Aufgaben erledi­gen: zum Beispiel ein Buch lesen, eine Idee verfolgen usw. – Ich bin noch viel zu träge geistig tätig, körperlich dagegen sehr gekräftigt. Nie träge, immer tätig und in Spannung, aber doch eine tiefe, große innere Ruhe, das zu erlan­gen, muß Richtung, Ziel sein!
Nichts darf einen aus dieser gespannten Ruhe herausbringen können. Ruhe finde ich aber nur in Gott. So sagt ja schon der heilige Augustinus, der geist­volle, immer tätige und gespannte Mensch: „Unruhig war mein Herz, bis es ruht in Gott, in Dir.“[1] Gottversunkenheit also und Aufge­hen in Ihm ist höch­ste, tiefste, letzte, wahrste, vollkommenste Ruhe. Nicht Not, nicht Tod, nicht Brand und Bürgerkrieg, nicht Bedrückung der Freiheit, Zwang und Terror, nichts, nichts, kann und wird einen aus einer solchen Ruhe und inneren Stärke, einer solch mutigen Festigkeit aufschrecken kön­nen. Furcht ist fort, ist ein … Ruhe in Gott ist höchster Mut.
O mein Gott, Du Urquell aller Ruhe, aller Überlegenheit und allen Mutes, laß mich – ich bitte Dich demütig – versinken in das Meer der Ruhe, das Du bist mit Dei­nen ewigen Wassern. Herr mach’ mich …

[1] Augustinus. Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, Frankfurt am Main 1987, s. Bekenntnisse I,1 (zit. Augustinus 1987)

Kleve, Dienstag, 27. Juni 1933
Es irrt mein Herz umher, bis es – o Gott – ruhet in Dir.[1] Denn Du, Gott, bist die Ordnung, die Schönheit, die tiefste Ruhe, Du gibst Frieden, den die Welt nicht geben kann [vgl. Joh 14,27], Du gibst uns schon hier auf Erden Ewig­keit, wenn wir in Dir ruhen, leben in Dir.

[1] s. Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse I,1: Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.

Münster, Sonntag, 17. Juni 1934
NB Ich las Mt 3; 1 Kor 12; Imitatio Christi [Thomas von Kempen, De imita­tione Christi – Nach­folge Christi] 5, Confessiones [Augustinus, Be­kennt­nisse] cap. 1–6[1];

[1] Augustinuns, Kapitel 1 bis 4: Lobpreisung Gottes, des Unfaß­lichen, Kapitel 5: Bitte um Herzensreinigung, Kapitel 6: Das Kind: Die ersten Jahre

Aus der Vorlesung von Freitag, 6. Juli 1934
Peter Wust: Der Mensch und die Philosophie
5. Diktat:
Erst die Selbst­entdeckung unseres Ich als eines lebendigen, Vernunfteinheit ermögli­chenden Prinzips läßt uns mit der Selbstachtung vor uns als Vernunft auch die tiefere Einsicht in das Wesen der Vernunft überhaupt entdecken. Damit aber ge­winnt jenes augustinische Wort eine besondere Bedeutung, das den eigent­li­chen Anfang der Philosophie in das Innere der zu sich selbst erwa­chenden Vernunft verlegt, das Wort: „Noli foras ire, in te ipsum regi, in inte­riore homine habitat veritas.“[1]

[1] Augustinus, De vera religione 39, 72, 202

Aus der Vorlesung von Freitag, 18. Januar 1935
Peter Wust: Psychologie II
Diktat:
55.
Wenn wir die Dinge erkennen wollen, dann geschieht es unter Umständen auch aus geistiger Freude an ihrem Sosein, und diese geistige Freude ist etwas anderes als die vitale Luft und der vitale Egoismus. Ja, unsere Größe und Freiheit liegt sogar darin, daß wir, wie es Augustinus dargestellt hat, über den egoistischen Gebrauch der Dinge (usus rerum) hinausgelangen können zum liebevollen geistigen Ruhen im Wesen der Dinge (fruitio rerum).

Bücherlese vom 22. Januar 1935
„Der heilige Augustin mußte einem Buch folgen (tolle, lege [nimm, lies][1]), die Weisen einem Stern, der heilige Paulus dem Blitz.“[2]

[1] Dieses Wort hörte Augustinus von einem Kind, schlug daraufhin die Bibel auf und las einen für ihn wichtigen Text (s. Bekenntnisse VIII, 12).
[2] Hello, Ernst: Heiligengestalten, Leipzig 1934: 23

Aus der Vorlesung von Dienstag, 5. Februar 1935
von Peter Wust: Psycho­logie II
Diktat:
70.
Verlagert sich zum Beispiel das Wesen des Menschen einseitig nach dem biologischen Raum hinüber, dann meldet sich sofort (allerdings bei jedem Menschen in verschiedener Weise) die metaphysische Unruhe. Verlagert es sich dagegen einseitig nach dem metaphysischen Raum hinüber, dann meldet die Natur beim Geist ihre Rechte an. So entsteht durch diese beiden Schwergewichte im Menschen seine geradezu paradoxe Seins­situation, jene Situation, die Augustin in seinen „Bekenntnissen“ in unüber­trefflicher Weise geschildert hat.

Aus der Vorlesung Freitag, 8. Februar 1935
von Peter Wust: Psychologie II
Diktat:
10.
Kapitel. Der beharrende Grund der Person im Spiegel von Gedächtnis und Gewissen
74.
Der erste Denker, der die Bedeutung des metaphysischen Gedächtnisses klar gesehen hat, ist Augustinus. Man wird sogar sagen dürfen, daß Augustin mit seiner Gedächtnisspekulation der eigentliche Begründer der metaphysi­schen Tiefen-Psychologie geworden ist, und man darf hinzufügen, daß er auf diesem Felde bis heute noch als der unerreichte Meister dasteht. Übrigens hat Augustin mit seiner Gedächtnisspekulation den platonischen Idealismus auf eine völlig neue Basis gestellt: Mit dieser Spekulation beginnt die christ­liche Metaphysik des Geistes und ebenso die christliche Psychologie. Auch die klassische Mystik des Mittelalters ist von dieser Lehre Augustins weitge­hend beeinflußt worden.

Münster, Mittwoch, 27. November 1935
Heut’ nachmittag wurde ich „wach“ bis in die Fingerspitzen hinein im Augustin-Kolleg [um 16.15 Uhr] bei [Professor Peter] Wust.[1]
Augustin [von Hippo] – der ganz große Mensch mit urgewaltigen Elemen­tarkräften in sich, mit der hei­ßen Leidenschaft im Blut, heißer Leidenschaft zum Weib, unermeßlicher Wissensgier, und doch das „ewige Kind“ dabei, das immer wieder den rechten Weg findet. In all seiner heißen Leidenschaft und Glut brannte aber am heißesten und unstillbarsten die große Sehnsucht nach Gott. So geht uns erst im Lichte dieses ganz großen Menschen Augustin sein Spruch vom „Cor inquietum“ auf.
Augustin, schon als junger Kerl von 16
/17 Jahren griff ich nach seinen „Confessiones“, verstand sie aber nicht, weil ich mich nicht verstand.[2] Ich stellte unwillkürlich eine Lebenserforschung an und heiße Gedanken an ver­gangene Glut (und doch ist sie noch in derselben Kraft in mir, in Seele und Leib!) – Sehnsucht in unendliche Fernen, zu dem ganz tief Menschlichen, zum Weib, zur Frau, zur Jungfrau. Wie eine Welle überströmt mich die ge­bändigte Jungmannskraft in all ihrer Gesundheit, schlummernde Kräfte schreien auf, wachen – und auch mein Cor inquietum ist voller heißer Lie­besglut zu allen Menschen und durch sie und über sie und in ihnen zu Gott, dem ewig Dreieinigen.
[…]
Ich kann gar nicht mehr schläfrig sein. Augustinus’ Wachheit und Glut und Leidenschaft hat mich gepackt!!

[1] Peter Wust hat offensichtlich in seiner Vorlesung „Geschichte der Philosophie des Mittelalters“ über Augustinus, der dem Altertum angehört, gesprochen.
[2] s. Tagebucheintrag 4.3.1933

Bücherlese vom 2. Dezember 1935
„Gott wird wahrer gedacht, als bezeichnet, und ist wahrer als er gedacht wird.“ 2.12.35 (Aug. De Trin. [Augustinus, De Trinitate, Die Dreifaltigkeit] X, 4,7)

Münster, Mittwoch, 4. Dezember 1935
Heut’ morgen Augustinus gelesen „Confessiones“ Buch 5–6.[1] – Gestern und heute.

[1] Augustinus, Confessiones 5. Buch: Rom und Mailand, 6. Buch: Berührung des Glaubens

Münster, Mittwoch, 18. Dezember 1935
Bonna notte – Carlo, dormi bene! [Gute Nacht – Karl, schlaf gut!] „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde.“ (Augustinus)[1]

[1] Augustinus: Sermones 371,1

Goch, Sonntag, 29. Dezember 1935
Im Busch gestreift – dann zum nächstbesten Café (Baumann?), dort bis abends 17.45 Uhr gesessen bei einer Tasse Kaffee und Gebäck und Tho­mas und Augustin studiert.

Kleve, Montag, 6. Januar 1936
Diene – und du wirst Meister.
Liebe – und du wirst groß.
Hoffe – und du siegst.
Glaube – und du bist in Gott.[1]

[1] vermutlich von Augustinus

Münster, Sonntag, 16. Februar 1936
Sonntag, den 16. „Augustinus“ von Gilson gelesen. Den ganzen Tag stu­diert. Dem großen tiefen Lehrer ein wenig näher gekommen.

Gilson

 

 

Gilson, Étienne: Introduction à l’étude de Saint Augustin, Paris 1929
deutsch: Der heilige Augustin. Eine Einführung in seine Lehre, Hellerau 1930 (zit. Gilson 1930)

 

 

 

Bücherlese nach dem 16. Februar 1936
St. Augustin
Sapientia (igitur) plenitudo, in plenitudine autem modus. (Die Weisheit ist also Fülle; aber in der Fülle ist Maß.)[1] (Augustinus, Conf. III, 4,7 [Con­fes­sio­nes I. c. IV,32[2]])
Et ipsa est beata vita, gaudere, ad te, de te, propter te.
[Und dies ist das se­lige Leben, sich zu freuen an dir, auf dich hin, um dei­netwillen. (Augusti­nus)] Conf. X, 22,32[3]

[1] Gilson 1930: 26
[2] Karl Leisner hat in der Regel in runden Klammern auch Anmerkungen zu der entsprechenden Stelle zitiert, die bei Gilson im Anhang auf den Seiten 449–568 aufgeführt sind. Mit „Conf. III, 4,7“ hat Karl Leisner dem Zitat allerdings eine falsche Anmerkung zugewiesen.

Den Hinweis auf Confessiones III, 4,7 hat Etienne Gilson als Anmerkung auf S. 449 zu folgendem Text auf S. 21 gegeben:
Augustin erwachte zum philosophischen Leben, als er einen heute verscholle­nen Dialog Ciceros las, den Hortensius. Von diesem Tage an glühte er immer­fort von heißer Liebe zur Weisheit, und in der Folge blieb für ihn diese Ent­deckung allzeit der erste Schritt auf dem dornenvollen Wege zu Gott.
[3] Augustinus 1987: 540

Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino. [Gott und die Seele, dies ist, was ich zu kennen verlange. Nichts anderes? Nichts ande­res.][1] ([Augustinus] Soliloquia [Selbstgespräche] I, 2,7[2])

[1] Gilson 1930: 57
[2] Augustinus, Aurelius: Soliloquia – Selbstgespräche. Die echten Soliloquien. Ins Deutsche übertragen von Ludwig Schopp, München 1938

Noverim me, noverim Te. [Ich möchte mich kennen, ich möchte Dich ken­nen.] ([Augustinus] Sol. [Soliloquia] II, 1,1)[1]

[1] Gilson 1930: 57

Cujus (philosophiae) duplex est quaestio: una de anima, altera de Deo. [Zu dieser Philosophie gibt es eine doppelte Frage: eine nach der Seele, die an­dere nach Gott.] ([Augustinus] De ordine [Die Weihe] II, 18,47)[1]

[1] ebd.

Zur Sinneserkenntnis: (→ [Augustinus] De Musica! [Die Musik])[1]

[1] Gilson 1930: 109

Alia est enium lux, quae sentitur oculis, alia quae per oculos agitur ut sen­tiatur. (Etwas anderes ist das Licht, das man mit den Augen wahrnimmt, et­was anderes jenes, durch das die Augen selbst befähigt werden zu empfin­den).[1]

[1] a. a. O.: 123

Haec lux, quae ista manifesta sunt, utique intus in anima est. (Dieses Licht, durch das jenes offenbar ist, ist in der Seele). So führt uns also wider alles Erwarten die Zergliederung der Empfin­dung vom Außen der Dinge in das Innen der Seele.[1]

[1] ebd.

„Nunquam discere.“ (niemals lernen)[1] (im eigentlichen engen Sinne).

[1] a. a. O.: 132

„Lernen heißt: sich wieder erinnern.“ (Platon – Augustin)
Über das Verhältnis des Lehrers zum Schüler und das des Lehrers (über das Ich zur Wahrheit): (Gilson, Ste. 139/140)

„Wer wäre also so töricht und schickte seinen Sohn zur Schule, da­mit er lerne, was der Lehrer denkt! In Wirklichkeit erklären die Lehrer die vor­getra­genen Wissenschaften mit Hilfe von Worten. Alsdann prüfen jene, die man Schüler nennt, in sich selbst, ob das, was die Lehrer ihnen sagen, wahr sei. Und diese Prü­fung stellen sie an, in­dem sie nach dem Maß ihrer Kräfte die Augen fest auf die innere Wahrheit ge­richtet halten. Dadurch werden sie unterrichtet, indem sie durch sich selbst feststellen, daß das Gesagte wahr ist. Wer ist dann also der wahre Lehrer? Ist es der Lehrer? Der Lehrer befindet sich doch der Wahrheit gegenüber in der gleichen Lage wie sein Schüler. Er ist weit weni­ger ein Belehrender als ein Belehrter! Der wahre Lehrer ist jene Wahrheit, die nicht dem Lehrer, nicht dem Schüler zu eigen, sondern beiden gemein­sam, beiden gegenwärtig ist, beide auf die gleiche Weise unterweist und sie notwendig über­einstimmen läßt.
Weil Gott also gleichsam der Ursprung der Übereinstimmung unter den Gei­stern ist, so bekommt er in der Lehre des heiligen Augustin den Titel „Inne­rer Lehrer“.[1]

[1] a. a. O.: 139f.

Gott der „Innere Lehrer“ Christus Lehrer[1]
„Bei allem, was wir lernen, haben wir nur einen Lehrer, nämlich die innere Wahrheit, die über die Seele herrscht, das heißt Christus, die unveränder­liche Kraft und ewige Weisheit Gottes. Jede vernünftige Seele befragt ihn. Aber nur nach dem Maße des guten oder schlechten Willens offenbart sich seine Wahrheit der Seele. Wenn ich spre­che oder wenn jemand mit mir spricht, dann ist er es, der sowohl dem Den­ken des Redenden wie des Zuhö­renden ein und dieselbe Wahrheit eröffnet. Diese Lehre gibt uns nun Gott im Evan­gelium: Unus est magister vester, Chri­stus (Einer ist euer Lehrer, Chri­stus); die Philosophie empfängt sie vom Glauben, und alsdann läßt sie uns der Glaube verstehen. Alle Menschen, mag der Gegen­stand ihres Wissens sein, was er wolle, sind in derselben Schule, sind Mitschüler ein und dessel­ben Lehrers: In una schola commu­nem magistrum in coelis habemus (In ei­ner Schule haben wir den gemein­samen Lehrer im Himmel). Dieser „innere Lehrer“ ist das „Wort“. Es ermög­licht erst die Gemeinschaft der Menschen in ein und derselben Wahrheit.“ (Gil­son Ste. 140/1)

[1] Randbemerkung Karl Leisners zum folgenden Text

„Mens ipsa, sicut corporearum rerum notitias per sensus corporis colligit, sic incorporearum rerum per semetipsam, ergo et seme­tipsam per seipsam novit, quoniam est incorporea.“ (Wie der Geist die Kenntnisse von den kör­perlichen Dingen durch die körperlichen Sinne sammelt, so die Kennt­nisse von den unkörperlichen Dingen durch sich selbst; folglich kennt er sich selbst durch sich selbst, da er unkörperlich ist).[1]

[1] Gilson 1930: 143

Woher kommt die Wahrheit:[1]
„Die Wahrheit ist nicht in uns oder mit uns geboren, obgleich sie vor unserm Dasein da ist und uns von unserer Geburt an begleitet hat; sie kommt auch nicht aus unserm Innern, obgleich wir sie hier finden und sie hier hindurch­gehen muß. Sie kommt von Gott. In ihm sind wir weit mehr als er in uns, und darum schreitet die augustinische Seele durch sich gewisserma­ßen hin­durch, um dem göttlichen Lehrer zu begegnen.“[2]

[1] Randbemerkung Karl Leisners zum folgenden Text
[2] Gilson 1930: 145

„Menti hoc est intelligere, quod sensui videre.“ (Was für den Sinn das Se­hen, das ist für den Geist das Verstehen)[1]

[1] a. a. O.: 146

Gott ist also für unser Denken das, was die Sonne für unser Auge ist. Wie die Sonne die Quelle des Lichtes, so ist Gott die Quelle der Wahrheit. (Gil­son Ste. 146)

„Viget et claret desuper judicium veritatis.“ (Lebendig wirkt und leuchtet von oben das Urteil der Wahrheit).[1] (Zur augustinischen Illuminations­theo­rie).

[1] a. a. O.: 165

„Beata quippe vita est gaudium de veritate.“ (Das selige Leben ist ja Freude über die Wahrheit).[1]

[1] a. a. O.: 183

„Wenn die Seele sich sucht und über sich hinaus die beseligende Wahrheit, die jeder Mensch ersehnt, so sucht sie in Wirklichkeit Gott, wenn sie es auch nicht weiß.“ (Gilson Ste. 188)

Fortsetzung:
„Zu ihm strebt sie hin über die äußersten Grenzen ihres Gedächtnis­ses hin­aus und strengt sich an, ihn in seiner zeitlosen Wahrheit zu erreichen. Aber sie strebt nur deshalb zu ihm, weil er mit ihr ist und sie von innen her be­lebt, ähnlich wie die Seele selbst ihren Körper belebt: Ut vita carnis anima est, ita beata vita hominis Deus est. (
So wie das Leben die Seele des Fleisches, so ist das beseligende Leben des Men­schen Gott).
Als Lebensprinzip der Seele, die selbst das Prinzip des Lebens ist, ist Gott also das Leben unseres Lebens: Vita vitae meae (Das Leben meines Le­bens); innerlicher als die Seele, die in uns das Innerste ist, ist Gott tiefer als unser Tiefstes; und höher als die Wahrheit, die in uns das Höchste ist, ist Gott hö­her als unser Höchstes: Interior intimo meo et superior summo meo.
(Op. cit., III, 6,11). Gott ist also mit einem Worte das Licht unseres Her­zens, das näh­rende Brot unserer Seele, die unsern Geist und den Schoß unseres Den­kens befruch­tende Kraft: Deus lumen cordis mei, et panis oris intus ani­mae meae, et virtus maritans mentem meam et sinum cogitationis meae. (Op. cit., I,13,21). Nicht beweisen wollen wir ihn, sondern ihn fin­den.“ (Gilson 188/9)

„So liegt der wahre Sinn der augustinischen Erleuchtung darin, daß die er­leuchtende Tätigkeit Gottes vor allem eine belebende Tätigkeit ist: Illumi­na­tio nostra participatio Verbi est, illius scilicet Vitae quae lux et hominum.“ (Unsere Erleuchtung ist eine Teilnahme am Worte, an jenem Leben, das das Licht der Menschen ist)! ([Augustinus] De Trin [Trinitate – Die Dreifaltig­keit], IV, 2,1) (Anspielung auf Joh I, 11–14) (Gilson Ste 189/190)

St. Augustin: „Totum exigit te, qui fecit te.” [Als Ganzer fordert dich, der dich geschaffen hat.] ([Augustinus] Sermones [Predigten] XXV)[1]

[1] a. a. O.: 191

„Nulla est homini causa philosophandi, nisi ut beatus sit“ (Der Mensch hat nur den einen Grund zu philosophieren, nämlich daß er glücklich sei). ([Augustinus ] De civ. [civitate] Dei [Der Gottesstaat] XIX, 1,3)[1]

[1] a. a. O.: 193

„Gott konnte den Menschen wohl in den Mitteln irren lassen, er ließ ihn aber nicht so weit in die Irre gehen, daß er sein Ziel vergaß: Phi­losophiam quae se docere aliquid profitetur, unde fiant homines beati.“ (Die Philosophie, wel­che etwas zu lehren verspricht, wodurch die Menschen glüc­klich wer­den.)[1]

[1] a. a. O.: 194f.

Weisheit und Wissenschaft:[1]
„Die Weisheit wendet uns hin zu den Ideen und richtet uns damit auf das Göttliche und Allgemeine; die Wissenschaft wendet uns zu den Dingen hin und unterwirft uns damit dem Geschaffenen und schließt uns in die Grenzen des Einzelnen ein.“ (Gilson: Ste. 200)

[1] Randbemerkung Karl Leisners zum folgenden Text

Gilson Ste. 201/3:
Über die Habsucht (sinnlicher und geistiger Art!) und den Stolz! (Gefahr der Wissenschaft)

([Gilson] S. 203)
„Das Verlangen, die Dinge zu erkennen, um sie zu genießen, und das, was nur Mittel sein kann, zu einem Ziel umzuwandeln, ist genau die Habsucht des Geistes, die alles für sich will und den Teil an die Stelle des Ganzen setzt. In beiden Fällen ist der Hochmut die Wurzel (→ Eccle: 10,15[1]). Ihm folgt eine Habsucht, deren Mittel und Empfän­ger zu­gleich der Körper ist. So wird das Denken, das die Wissen­schaft um der Wissenschaft willen sucht, nach und nach dem Stoffli­chen dienstbar und wendet sich von den Ideen ab.“ (Gilson [S.] 203)

[1] Karl Leisner hat den Hinweis auf die Bibelstelle eingefügt:
Die Arbeit erschöpft die Ungebildeten: Keiner hat es verstanden, in die Stadt zu ziehen (Eccli/Koh 10,15).

„Das ist gerade die Weisheit: Sie ist Betrachtung, nicht Handlung, dem Ewi­gen zugewandt, nicht dem Zeitlichen, allen gemein, nicht vereinzelt und von Habsucht besessen, den Einzelnen dem Ganzen unterwerfend, nicht das Ganze im Hinblick auf den Einzelnen ge­brauchend! Der Gegensatz zwi­schen der reinen Wissenschaft und der reinen Weisheit ist also vollständig, die Eigentümlichkeiten dieser zwei Erkenntnisweisen widersprechen sich Punkt für Punkt“. ([Gil­son] S. 205)[1]

[1] Gilson 1930: 203f.

„Daß man die Weisheit der Wissenschaft voranstellen muß, leuchtet ein; das ist nicht nur der beste Schutz für die Weisheit, son­dern auch für die Wissen­schaft selbst. Sie miteinander verwechseln, hieße die höhere und niedrigere auf die gleiche Ebene stellen. Eine Preisgabe der Weisheit wäre ein Verzicht auf die Würde des Menschen, die in dem besten Gebrauch des Höchsten in uns besteht. Die Wissen­schaft opfern, wäre ein unnützes und gefährliches Verstümmeln der Weisheit selbst. Nach einem bereits angezogenen Wort des heiligen Paulus (1 Kor 12) sind die mit Weis­heit und die mit Wissenschaft Begabten nicht immer dieselben. Dennoch, fügt der Apostel hinzu, kommen Wissenschaft und Weisheit gleicherweise vom göttlichen Geiste. Wir dürfen deshalb auf eine Überwindung des Ge­gensatzes zwischen ihnen hinarbeiten und, ohne ihre im Grunde bleibende Ver­schiedenheit zu unterdrücken, sie in eine harmonische Einheit einord­nen. (Gilson [S.] 205/6)[1]

[1] a. a. O.: 206

„(Sapientia) attingit a fine usque ad finem fortiter, et disponit omnia sua­viter.“ (Weish 8,1) (mit Kraft von einem Ende zum andern reicht, und alles ordnet mit feiner Hand).[1]

[1] a. a. O.: 218

„Man erkennt, weil man erkennen will, und man sucht nur zu erken­nen, weil man finden will“. (Gilson [S.] 228)

„Pondus meum amor meus; eo feror quocumque feror.“ (Mein Gewicht ist meine Liebe; durch sie werde ich getragen, wohin ich ge­tragen werde). ([Augustinus] Conf. XIII 9,10)[1]

[1] a. a. O.: 229

„Verbrechen, Ehebrüche, Morde, Wollust sind ebenso Wirkungen der Liebe wie die Akte der reinen Nächstenliebe und des Heldenmutes. Im Guten wie im Bösen ist ihre Fruchtbarkeit gleich andauernd; sie ist für den Menschen, den sie führt, ein unerschöpfliches Prinzip der Bewegung.“ (Gilson [S.] 230)

„Was sagt man dir? Nichts lieben? Auf keinen Fall! Unbeweglich, tot, ab­scheu­lich, erbärmlich – das wärest du, wenn du nicht liebtest. Liebe, aber achte auf das, was man lieben muß!“ ([Augustinus] Sermo 96,1,1)[1]

[1] a. a. O.: 230

„Recta itaque voluntas est bonus amor et voluntas perversa malus amor.“ [Der richtige Wille also ist die gute Liebe und der verkehrte Wille ist die böse Liebe.] ([Augustinus] De civ. Dei XIV, 7,2)[1]

[1] a. a. O.: 231

Augustin: „Quod si virtus ad beatam vitam nos ducit, nihil omnino esse vir­tutem affirmaverim, nisi summum amorem [Dei[1]].“ [Wenn uns aber die Tugend zum glückseligen Leben führt, dann möchte ich behaupten, daß über­haupt nichts Tugend ist außer der Gottesliebe.][2]

[1] Augustinus, Aurelius: De moribus Ecclesiae Catholicae et de Moribus Manichae­orum, lib. XV.25
[2] Gilson 1930: 232

Bei Stefan Gilson heißt es vor dem lateinischen Zitat:
Wenn also die Liebe der Wille selbst ist, so ist die höchste Tugend auch die höchste Liebe.

„Modus diligendi est sine modo diligere.“ [Maß der Liebe ist Liebe ohne Maß.][1]

[1] Gilson 1930: 508

„Quid est ergo amor nisi quaedam vita duo aliqua copulans vel co­pulare appetens.“ (Was ist also die Liebe anders als ein Leben, das zwei verbindet oder zu verbinden strebt.) ([Augustinus] De Trin. VIII, 40,14)[1]

[1] a. a. O.: 237

Caritas: „Es gibt also einen und nur einen einzigen Fall, wo das Glück der Seele verlangt, daß sie sich ganz vergesse und verleugne: das ist die Liebe zu Gott. Allein diese Liebe will vollständig frei ge­schenkt sein, um voll be­lohnt zu werden. Eine vorbehaltlos sich hin­gebende Liebe sichert eben durch ihre Hingabe den Besitz des höchsten Gutes, und das ist die Cari­tas.“ (Gilson [S.] 238)

Über die Caritas und ihre totale Forderung an uns → [Augustinus] Sermo 34, IV,7.[1] (Gil­son [S.] 239/40)

[1] a. a. O.: 510

„Wir wollen diese Lehre in ihrem Vollsinne erfassen: eine restlos verwirk­lichte Liebe deckt sich mit einem restlos verwirklichten sittli­chen Leben“. (Gilson [S.] 240)

„Dilige, et quod vis fac.“ [Liebe also und dann tue, was du willst.] ([Augusti­nus] In Epist. Joh ad Parthos VII,8). Das ist ein Satz von absoluter Wahrheit, der aber nur für eine voll­kommene Liebe gilt![1]

[1] a. a. O.: 241

„Caritas ubi fuerit necesse est ut operetur“ (wo die Caritas ist, muß sie han­deln). ([Augustinus] II Enarr. in Ps. 13,6)[1].
(→ [?] in Gilson auf Ste 243!!)

[1] a. a. O.: 242

„Die Bedeutung der Gnade läßt sich nur von den Übeln her begrei­fen, deren Heilmittel sie ist.“ (Gilson [S.] 244)

Der Satan ist eine Fratze Gottes. Das Böse eine Fratze des Guten. Beiden Erstgenannten fehlt modus, species, ordo [Maß, Gestalt, Ordnung[1]]!

[1] s. a. a. O.: 245

Das Böse kann nicht ohne das Gute existieren. (malum est priva­tio (Weg­nahme) boni) [Das Böse ist das Fehlen/die Wegnahme des Guten.[1]]

[1] s. a. a. O.: 246

Prädestination Got­tes.[1]
„Neminem damnat, nisi aequissima veritate; aequitate occultissima et ab humanis sensibus remotissima judicat.“ (Niemand verurteilt sie, es sei denn mit gerechtester Wahrheit; sie richtet mit einer verborge­nen und den menschlichen Sinnen ganz fernen Gerechtigkeit).[2]

[1] Randbemerkung Karl Leisners zum folgenden Text
[2] Gilson 1930: 271

Augustin: „Da quod jubes, et jube quod vis.“ (Gib, was du befiehlst, und befiehl, was du willst.) ([Augustinus] Conf. X, 29,40)[1]

[1] a. a. O.: 278

„Si ergo Dei dona sunt bona merita tua, non Deus coronat merita tua tan­quam merita tua, sed tanquam dona sua.“ (Wenn also deine Ver­dienste Got­tes Gaben sind, so krönt also Gott nicht deine Verdienste als deine Ver­dien­ste, sondern als seine Gaben.) ([Augustinus] De gratia et libero arbitrio VI,15)[1]

[1] a. a. O.: 281

„Libertas vera Christo servire. (Die wahre Freiheit ist es, Christus zu die­nen.)“ (→ auch Röm VI, 20–22!)[1]

[1] a. a. O.: 286

„Lex [itaque] libertatis lex caritatis.“ (Das Gesetz der Freiheit ist also das Ge­setz der Gnade.)[1]

[1] a. a. O.: 287

„Nos non diligeremus Deum, nisi nos prior ipse diligeret.“ [Wir würden Gott nicht lieben, wenn er uns nicht zuvor geliebt hätte.][1]

[1] a. a. O.: 288

Durch die höchste der Gnaden, die Caritas, ist Gott in uns wie er im Him­mel wohnt. (→ Gilson [S.] 288)

Frui – uti[1]
„Genießen
(frui) heißt, seinen Willen auf ein Ding richten aus Liebe zu eben diesem Ding; gebrauchen (uti) heißt, sich eines Dinges als Mittel be­dienen, um dadurch ein anderes zu erreichen. Man genießt also das, was man als Ziel betrachtet, man gebraucht, was man als Mittel ansieht.“ (Gilson [S.] 289)
„Alle unsere Fehler kommen daher, daß wir das genießen, was wir nur ge­brauchen dürfen.“
(Gilson [S.] 290)

[1] Randbemerkung Karl Leisners zum folgenden Text
Augustinus unterscheidet beim Menschen zwischen Nutz- und Genußbe­zie­hun­gen. Sachen gebraucht der Mensch (uti), Gott aber genießt der Mensch (frui).

„Solo Deo fruendum!“ (Man soll nur Gott genießen.)[1]

[1] Gilson 1930: 290

„Ille autem juste et sancte vivit qui ordinatam dilectionem habet.“ (Der aber lebt gerecht und heilig, der eine geordnete Liebe hat.)[1]

[1] ebd.

Was ist die Tugend? „Ordo est amoris“ [Ordnung der Liebe][1]

[1] Gilson 1930: 291

„Der Mensch – und darin liegt seine Größe – ist ein Wesen, das ganz dem Dienste Gottes hingegeben sein soll.“[1]

[1] a. a. O.: 293

„Wenn der Wille sich von den Dingen zu Gott wendet, schreitet er voran; sobald er sich von Gott wegwendet zu den Dingen, geht er zurück!“[1]

[1] a. a. O.: 296

„Aus der Sünde geboren, endet der Alte Mensch im Tode; aus der Gnade geboren, gelangt der Neue Mensch zum Leben.“[1]

[1] a. a. O.: 300

„Ut videatur qualis quisque populus sit, illa sunt intuenda quae diligit!“ [Um zu wissen, was ein Volk ist, braucht man nur zu wissen, was es liebt.][1]

[1] a. a. O.: 304

Bücherlese vom 14. Mai 1937
Heiliger Augustinus.
„Es bewundern die Menschen das rauschende Meer, die fließenden Gewäs­ser und den Anblick des Himmels und vergessen über allem Bewundern der Dinge das Wunder, das wir selbst sind.“[1]
(Im großen Saal des Hygiene-Museums in Dresden – Notiz vom 14.5.1937)

[1] s. Tagebucheintrag 23.4.1938

Münster, Donnerstag, 6. Januar 1938
Von 13.00 bis 15.45 Uhr zehn Seiten WA getippt. 16.30 bis 18.30 Uhr von Fräulein Dr. Clara Hartmann über Augustinus’ Gnaden­begriff etc. Fein!

Samstag, 15. Januar 1938
Es gibt einen Predigtentwurf von Karl Leisner zum Evangelium Joh 2,111 zum 2. Sonntag nach Erscheinung. Vermutlich hat er diesen am Samstag vor der Nacht des Ewigen Gebetes im Collegium Borromaeum verfaßt, um ihn am darauffolgenden Mittwoch, als „Übungspredigt“ zu halten. Darin heißt es u. a.:
Das göttliche Leben ist in uns und läßt uns immer weiter wachsen bis zum Vollalter Christi. Dann werden wir einst so innig mit ihm verbunden sein, daß uns nichts mehr von ihm trennen kann, dann, wenn wir unseren Pilgerweg bis zu seinem Ziele, der endgültigen Verei­nigung mit Gott beschritten haben, und Gott, das ewige Gut besitzen. „Dieses Gut“, läßt Augustinus uns ausrufen, „wer ist imstande, es zu sagen? Sagen läßt sich’s nicht und schweigen auch nicht. Nun denn, kön­nen wir’s nicht sagen und läßt die innere Er­griffenheit uns nicht schwei­gen, so laßt uns weder schweigen noch spre­chen, jubeln wollen wir, ju­bilate!“ Jubelt Gott unserem Heil, jubelt Gott ihr Lande all, jubelt Gott, lobsinget seinem Namen. Kommt und hört, ich will es euch erzählen, all ihr Gottesfürchtigen, was mir der Herr getan, Hal­le­luja. So das Offerto­rium [des 2. Sonntag nach Erschei­nung]. Und das Alleluja [des Antwortgesangs] fordert auch die Engel auf, in diesen Lobpreis Gottes mit einzustimmen: Alleluja, Alleluja, lobpreist den Herrn, ihr alle seine Engel; lobt ihn, ihr seine Heere [Ps 148,2], Alleluja.

Im März 1938 begann Karl Leisner ein neues Heft „Bücherlese“ – Tagebuch Nr. 19.
Bücherlese. Notizen aus Büchern, Dichtungen etc. März 1938
Karl Leisner, Kleve – Münster
Darin heißt es u. a.:
Individualismus als Schicksal
Miller:
Denn wie im Reiche des Denkens und des Seins die Gottesidee alles zu­sam­menhält, wie sie, sagt der heilige Augustinus, alle Gegensätze verei­nigt, alle Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückführt, so hält auch der Gottes­glaube die Menschen bei aller Individualität der Seelen zusammen.[1]

[1] Miller, Otto: Der Individualismus als Schicksal, Freiburg/Br. 1933: 33f.

Münster, Samstag, 23. April 1938
Vor mir steht im Glasstehrähmchen das Spruchbild, das Elisabeth [Ruby] mir zu Ostern 1937 – vor gut einem Jahr – schenkte, mit dem Spruch des heili­gen Augustinus: „Komm zu Christus. Denke nicht lange über Wege zu ihm. Glaube und du kommst! Liebe, und du wirst gezogen!“ – Glaube, der die Welt überwindet! [vgl. Joh 16,33] Liebe, stark und wundermächtig, herze­n­er­weckend, menschenführend! – Ich hab’ vor einem Jahr lange über die­sen Spruch nachgedacht, nicht ohne eine schmerzliche Wehmut und in einem tiefen Anklingen echter Liebessehnsucht. Und jetzt sinne ich wieder nach über diesen Spruch. Hab’ ich diesen weltüberwindenden Glauben, diese uner­schütterliche Liebe zu meinem Erlöser? Und kann mein wildes Herz sich Ihm als Nachfolger in Kreuz und Selbstverleugnung anheimgeben, so restlos und unbedingt im Verzicht auf jede eheliche Liebe zu einem Men­schen und Gotteskind? – Oh, ich stöhne unter diesem Entscheid. Soll er grad mich wol­len aus Tausenden.
[…]
„Es bewundern die Menschen das rauschende Meer; die fließen­den Gewässer und den Anblick des Himmels und vergessen über allem Be­wun­dern der Dinge das Wunder, das wir selbst sind.“ (St. Augusti­nus)[1]

[1] Dieses Zitat steht auch in der Bücher­­lese, s. Tagebucheintrag 14.5.1937

Münster, Mittwoch, 4. Mai 1938, Heilige Monika
Diese beiden Gestalten: Der schweigende, dienende Vater der göttlichen Familie Jesu und die weinende, schweigend betende, duldende heilige Mut­ter Au­gustins, sie haben wie so selten viel grad heute zu sagen.
[Bernhard] Gerving hielt heute morgen die Predigt über die Mutter Mo­nika, den zeitlichen Tod (des Jünglings von Naim [vgl. Lk 7,11–17]) und den geist­lichen des späteren heiligen Augustinus nebeneinander­stellend. – Chri­stus tröstet beide Mütter. – Mög’ Er auch meine liebe Mutter trösten; denn in mir lebt auch ein wenig von dem „gefährlichen Augustin“.

Münster, Mittwoch, 11. Mai 1938
Dabei immer die Spannung zwischen erbsündlicher Belastetheit und Erlö­sung recht wahren. – Ama et fac quod vis [Liebe und tue was du willst (Augustinus)], das mußt du mal vollbringen, das Ideal. Aber trotzdem, Maß halten, sich bescheiden und nicht den Bogen überspannen! – Auch in der Selbstprüfung nicht, sonst frißt du dir ja alle seelische Spannung und Kraft weg, zwar nagend, aber sicher.
[…]
Deum timete, ne deficiatis, amate, ut proficiatis. (Aug. Ep.ae 144,2).
[Fürchtet Gott, damit ihr nicht untreu werdet, liebt, damit es euch wohlergehe. (Augustinus, Briefe 144,2)]

Münster, Samstag, 2. Juli 1938
Empfang der Exorzisten- und Akolythenweihe durch Bischof Cle­mens August Graf von Galen im Dom in Münster
(Am Abend nach den vier niederen Weihen und am Tage vor der Prozession nach Telgte)
[…]
Ein trostreiches Wort Augustins zum Schluß: Minuitur cupiditas caritate crescente [Die Begierde wird durch wachsende Liebe gemindert] (Ench. n. [Enchiridion ad Laurentium de fide, spe et caritate] 32). Nutrimentum cari­tatis est imminentia cupiditatis, perfectio: nulla cupiditas. [Nahrung für die Liebe ist Bedrohung des Verlangens, Vollkommenheit ist: kein Verlangen.]
(De div. [De divinatione daemonium] qu. 83, q 36).

Münster, Dienstag, 24. Januar 1939
Serva ordinem, qui est a Deo, et ordo Dei servabit te! – Halte Ordnung, die von Gott ist, und die Ordnung Gottes wird dich erhal­ten![1]

[1] Der Satz „Serva ordinem et ordo te servabit“ stammt vermutlich vom hl. Augusti­nus.

Münster, Sonntag, 26. Februar 1939
Entscheidend für den endgültigen Entschluß Gottes Ruf und unser freudiges und ganzes vorbehaltloses Ja dazu! Freiheit des Herzens von allem amor sui ducens (?) ad contemptum Dei [Eigenliebe, die zur Verachtung Gottes führt] und hin zur gesunden „contemptus sui ducens ad amorem Dei“ [„Selbst­ver­achtung, die zur Liebe Gottes führt“] – (Augustin). Zu unterschei­den bei Got­tes Anruf: seine voluntas absoluta [sein unbedingter Wille], die jeden Men­schen – auch die Heiden – verpflichtet, und seine voluntas conditionata [sein bedingter Wille].

Münster, Mittwoch, 1. März 1939
Nicht Eifer­sucht auf Gott wie Luzifer[1], sondern Eifer für Gott wie Mi­chael! (Quis sicut Deus.) [Wer ist wie Gott; hebr. לאכימ mika’el].

[1] Das Buch der Weisheit:
Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören (Weish 2,24).
Laut Irenäus von Lyon bezieht sich der Neid des Teufels darauf, daß der Mensch die erste Kreatur Gottes ist. Ebenso erklärt Au­gustinus im Buch XIV „Vom Got­tes­staat“ den Neid des Teufels.

Freitag, 22. Dezember 1944
KZ-Mithäftling P. Martin Schiffer OSB an Karl Leisner ins Revier:
Ambrosius sagt: „Victor quia victima“ [Sieger weil Opfer].[1]

[1] Von Ambrosius hat Augustinus diesen Gedanken übernommen.
Augustinus:
Wie hast Du uns geliebt, guter Vater, „der Du Deines eingeborenen Sohnes nicht geschont“, […] er [Jesus], in Deinen Augen für uns der Sieger und das Opfer, und deshalb Sieger, weil Opfer, in Deinen Augen für uns der Priester und die Opfergabe, und deshalb Priester, weil Opfergabe (Augustinus 1987, X 43: 597).
Hermann Scheipers aus Ochtrup an Hans-Karl Seeger:
„Victor quia victima“, so steht es auf meinem Primizkelch. Er – nämlich Chri­stus – wurde Sieger, weil er sich opferte. „Victores quia victimae“ – Sie [die KZler] wurden Sieger, weil sie geopfert wurden. So steht es in der Gaskam­mer des Schlosses Hartheim auf der Gedenktafel für unsere dort ermordeten Mitbrüder. Denn Hingabe in der Freiheit selbstloser Liebe – das ist Fülle des Lebens – „Geheimnis des Glaubens – im Tod ist das Leben“.
Bischof Hippolyte Simon am Sonntag Gaudete, dem 19.12.2004, in der Pfarr­kir­che Heilig Kreuz in Dachau-Ost im großen Festgottesdienst anläßlich des 60. Weihetages der Priesterweihe von Karl Leisner:
Diese Weihe zeigt uns die tiefe Be­deutung all des­sen, was inmitten der Kon­zentrationslager gelebt wurde. Sie birgt alle Gesten von Mensch­lichkeit und Brü­der­lichkeit in sich, welche die Op­fer zu Siegern macht (Rundbrief des IKLK Nr. 51 – August 2005: 60. Jahrestag der Priesterweihe Karl Leisners: 23).

Dachau, Freitag, 4. Mai 1945, Heilige Mo­nika[1]
Herz-Jesu-Freitag im Mari­enmonat. Habe großes Ver­trauen grad’ wegen der abso­luten Not und Schlappheit. Bete mit Mutter Monika und meiner Mutter um baldige Wende.[2] (Holo­caustum!)

[1] In Erinnerung an dieses Datum wurde die älteste Tochter von Karl Leisners jüng­ster Schwester Elisabeth Haas auf den Namen Monika getauft.
Seit der liturgischen Kalenderreform 1969/1970 wird das Fest der hl. Mo­nika am 27.8. ge­fei­ert.
[2] Karl Leisner fühlte sich im Gebet verbunden mit der hl. Monika, die für ihren Sohn, den hl. Augustinus, betete, und mit seiner eigenen Mutter, die ihn per­sön­lich immer in ihr Gebet einschloß.

Karl Leisners späterer Schwager Wilhelm Haas äußerte sich wie folgt:

Mittwoch, 20. November 1946
Wilhelm Haas aus (22a) Keeken Nr. 92 über Kleve an P. Otto Pies SJ in Feldkirch:
In ihm [Karl Leisner] lebte so etwas von Pau­lus (wie [Josef] Holzner ihn [in seinem Buch Paulus] charakteri­siert[1]), aber auch etwas Augu­stini­sches: Diese Unruhe zu Gott.[2]

[1] Holzner, Josef: Paulus. Ein Heldenleben im Dienste Christi, Freiburg/Br. 1937; die neueren Auflagen erschienen unter dem Titel: Paulus. Sein Leben und seine Briefe in religions­geschichtli­chem Zusammen­hang darge­stellt, Freiburg/Br. 1940
[2] Augustinus in Confessiones – Bekenntnisse I,1:

Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te – Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.

Die Literaturliste der Lebens-Chronik zeigt, wie sehr sich Karl Leisner mit Augustinus beschäftigt hat:

Augustinus, Aurelius (Augustin) von Hippo
Bekenntnisse [Confessiones]. Lateinisch und deutsch, Frankfurt/M. 1987 (zit. Augustinus 1987)
von Karl Leisner erwähnt: 4.3.1933, 17.6.1934, 27.11. u. 4.12.1935 u. 16.2.1936 (Tage­buch u. Bücherlese)

ders.
De civitate Dei [Der Gottesstaat]. Liberi XXII, Bernhard Dombart u. Alfons Kalb, Darm­stadt 1981 – zitiert wird Liber XIV, Cap. 13
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De divinatione daemonium [Die Prophetie der Dämonen]
von Karl Leisner erwähnt: 2.7.1938

ders.
De gratia et libero arbitrio [Die Gnade und der freie Wille]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De moribus Ecclesiae Catholicae et de moribus Manichae­orum [Die Sitten der katholi­schen Kirche und die Sitten der Manichäer]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De Musica [Die Musik], eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Hentschel. Philosophische Bibliothek, Bd. 593, Hamburg 2003
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De ordine [Die Weihe]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De Trinitate [Die Dreifaltigkeit], hrsg. von Johann Kreuzer. Philosophische Bibliothek, Bd. 523, Hamburg 2003
von Karl Leisner erwähnt: 2.12.1935 u. 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
De vera religione [Die wahre Religion]

ders.
Enarrationes in Psalmos [Die Auslegung der Psalmen]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
Enchiridion ad Laurentium de fide, spe et caritate [Handbuch für Laurentius über Glaube, Hoffnung und Liebe]
von Karl Leisner erwähnt: 2.7.1938

ders.
In Epistolam Joannis ad Parthos [Brief des Johannes an die Parther]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
Sermones [Predigten]
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)

ders.
Soliloquia – Selbstgespräche. Die echten Soliloquien, ins Deutsche übertragen von Ludwig Schopp, München 1938
von Karl Leisner erwähnt: 16.2.1936 (Bücherlese)