Im Kirchenführer der zum Hotel „Pragser Wildsee“ gehörenden Marienkapelle „Zur Schmerzhaften Mutter Gottes“ werden auch Bischof Gabriel Piguet und Karl Leisner erwähnt.
Der Führer trägt den Untertitel „Ein Ort der Kirchengeschichte und der Zeitgeschichte“. Als das Hotel 1898/1899 im Auftrag der Familie Hellenstainer gebaut wurde, ließ die tiefgläubige Familie auch eine Kapelle errichten.
Am 1. Mai 1945 fanden die aus dem KZ Dachau nach Südtirol gebrachten prominenten SS-Geiseln, die am 28. April in Niederdorf angekommen waren, Aufnahme im Hotel. Der erste Weg führte viele der sogenannten „Ehrenhäftlinge“ in die neben dem Hotel gelegene Marienkapelle. Unter ihnen befand sich auch Bischof Gabriel Piguet von Clermont, der mit ihnen dort zum Dank für die Errettung die heilige Messe feierte.
Am 4. Mai kamen die Amerikaner und entwaffneten die deutschen Truppen. Am Samstag, dem 5. Mai 1945, feierte Bischof Gabriel Piguet mit amerikanischen katholischen Soldaten die heilige Messe in der Kapelle, und am Sonntag, dem 6. Mai, dem 5. Sonntag nach Ostern mit den Lesungen Jak 1,22–27 und Joh 16,23–30, hielt er vor einer sehr großen Zahl von Häftlingen seine erste Predigt als befreiter Bischof. Was er an Liebe und Gemeinschaft in der Situation des KZ unter so verschiedenen Menschen erfahren hatte, wünschte er sich erst recht für das Leben in Freiheit.
In seinem Hirtenwort von 1946 kam Bischof Gabriel Piguet auf diese Predigt zurück:
In der kleinen Kapelle am Pragser Wildsee in 1.500 Meter Höhe, entfernt von jeglicher Besiedlung, haben wir unter der internationalen Assistenz von Gefangenen aufgerufen zur brüderlichen und christlichen Liebe, zur Erneuerung und Befriedung, und für das Glück einer im Unglück und im Ruin befindlichen Welt. Die Zustimmung dieser berühmten Zuhörer aller religiösen Konfessionen und aller politischen Orientierungen zu unseren Worten gab und gibt uns noch Vertrauen in das Bemühen vieler Geistesgrößen um eine Erneuerung brüderlicher Liebe und Freiheit und Ablehnung von Haß und totalitärer Gewalt. (Piguet, Gabriel: Lettre Pastorale, Quelques aspects de la résistance spirituelle contre le nazisme, Clermont-Ferrand 1946 [Hirtenbrief, Einige Aspekte des spirituellen Widerstandes gegen den Nazismus], S. 20f.)
Im Kirchenführer (S. 55–57) ist das kirchengeschichtlich einmalige Ereignis der Priesterweihe des Diakons Karl Leisner durch seinen französischen Mithäftling Bischof Gabriel Piguet am 17. Dezember 1944 im KZ Dachau beschrieben und mit Fotos dokumentiert. Hier anklicken:
Die Kapelle gibt Besuchern die Möglichkeit, sich die Lebensgeschichten der Geiseln zu vergegenwärtigen. In Verbindung mit dem bei seiner Einlieferung ins KZ Dachau nicht sofort als Bischof erkannten Häftling Gabriel Piguet – erst im Januar 1945 wurden sich die Nationalsozialisten seiner „Prominenz“ bewußt und steckten ihn in den sogenannten „Ehrenbunker“ – wird auch des Häftlings Karl Leisner gedacht. Dieser war ein ausgesprochener Liebhaber der Natur; insofern ist die Kapelle an einem der schönsten Bergseen der Dolomiten ein besonders gebührender Ort, sich seiner und seiner Mithäftlinge, die während ihrer KZ-Haft zum Teil über Jahre die Begegnung mit der Natur entbehren mußten, zu erinnern.