Michael Scott: Delphi. A History of the Center of the Ancient World [Eine Geschichte des Zentrums der antiken Welt]
Das Orakel und Heiligtum des Gottes Apoll galt mehr als 1000 Jahre als der Nabel der antiken Welt. Viele Menschen besuchten die Stätte und befragten das Orakel.
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Apollotempel in Delphi
In der F.A.Z. vom 2. Mai 2014 rezensierte Uwe Walter unter dem Titel „Die Champions League unter den Orakeln. Michael Scott weiß, wie man in Delphi mit verrätselten Weissagungen die Kundschaft zum Nachdenken brachte“ und endet mit der Feststellung:
Scott verknüpft gekonnt Beschreibungen von Anlagen, Bauten und Artefakten mit historischen Einordnungen und gehaltvollen Reflexionen – auch über die Frage nach Delphis Bedeutung für unsere Zeit. Das Interesse am antiken Olympia lebt maßgeblich von einem falschen Freund, der lärmenden Inszenierung der gleichnamigen Spiele alle vier Jahre. Delphi dagegen erinnert uns an die Brüchigkeit menschlichen Wissens, das ohne Fragen und Ambiguitäten, aber auch ohne Ethik und tiefere Erkenntnis in die Bedingtheiten der eigenen Existenz letztlich bedeutungslos ist. Schon deshalb lohnt es, die Geschichte der antiken Griechen mit Michael Scott einmal von Delphi aus anzuschauen. Eine deutsche Übersetzung wäre willkommen.
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Die weissagende Priesterin Pythia
Das dem Gott Apoll geweihte Orakel galt als das bedeutendste in der hellenistischen Welt. Apoll sprach durch die auf einem Dreifuß über einer Erdspalte sitzende, durch austretende Dämpfe in Trance versetzte Pythia.
Eine der am Eingang der Tempelstätte angeschlagenen Weisheiten hatte es Karl Leisner angetan: „Erkenne dich selbst“.
Sie wird dem griechischen Philosophen Thales (um 624–um 546 v. Chr. G.) zugeschrieben. Platon (* ? 427 in Athen, † 347 v. Chr. G. ebd.) zitiert diesen Spruch des öfteren. Laut Aristoteles (* 384 in Stageira/GR, † 322/321 v. Chr. G. in Chalkis/GR) zählt er zu den bekanntesten Sprüchen der Antike. Neben der Inschrift „Erkenne dich selbst“ soll sich auf einer Säule auch die Inschrift „Werde, der du bist“ befunden haben.
Karl Leisner schrieb in sein Tagebuch:
Sonntag, 6. Mai 1934
Bilanz: Erkenne dich selbst! – Tiefere Demut – Mehr Umgänglichkeit. – Weg von der Ichsucht – dann: Tiefere Ruhe, Bewußtsein der Geborgenheit in Gott. – Ruhe, nicht Hast! Nerven! – O. A. M. D. G. [OMNIA AD MAIOREM DEI GLORIAM!]
Donnerstag, 27. Januar 1938
Immer mehr läßt mich Gott verstehen, daß die große Unsicherheit eine Zeit der bitteren Prüfungen und Ratlosigkeit sein sollte, um mich wieder zum tieferen, echteren Ich zu führen und das falsche, ehrsüchtige, selbstsüchtige Ich zu vernichten, besser wieder in den Glauben, den schlichten und kindlichen, an die Sendung, an die Vorsehung und Gnade Gottes einzuführen, der erschüttert und verschüttet war unter den seelischen Erdbeben der letzten Jahre. Wieder ein kleiner Stein zum Mosaik Erkenne dich selbst! das über dem Eingang zum Seeleninnersten hängen soll.
Münster, Dienstag, 12. April 1938, Dienstag in der Karwoche
Es sind entscheidende Tage. – Noch einmal restlose ehrliche Klarheit schaffen ohne Angst und Menschenfurcht in männlichem Erkenne dich selbst. – Dann aber klar und entschieden mit restloser Hingabe für das ganze Leben Gottes Ruf gehorchen!
Münster, Sonntag, 8. Mai 1938
Werde, der du bist
ganzer Mensch, ganzer Christ!
Stahlharter, wiegender, schöner, schlanker Leib! – Leibeszucht.
Heller, wacher, funkelnder, demütiger Geist! – Geistesklarheit.
Gläubiges, glühendes, tapferes, liebendes Herz! – Herzensstärke.
Und darin wohnt die Gnade des Heiligen Geistes!
Samstag, 31. Dezember 1938
Die Jahresparole war: Fratres sobrii estote et vigilate! [Brüder, seid nüchtern und wachsam! (1 Petr 5,8)]
Erkenne dich selbst! „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“ spricht der Herr.