Karl Leisner und der 1. Mai im KZ Dachau

2015_05_01_DachauSchlußphase des Konzentrationslagers Dachau – Die Befreiung der Häftlinge

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Karl Leisner in seinem Tagebuch:

Dienstag, 1. Mai 1945
Kalter Tag. Schneit. Maifeiern der Sozialisten. Maiaufruf der Deutschen. Schlichte, aber tiefergreifende Befrei­ungs­feier auf dem Appell­platz. Tiefe Rührung. Den ganzen Tag Umzüge, Singen, Trompeten etc. Wieder gutes Essen (Wül­fert­konserven![1])

[1]   Wülfert Fleischwaren- und Konservenfabrik Hans Wül­fert GmbH – Schleiß­heimer­ Str. 19 – Beschäftigung von Häft­lingen aus dem KZ Dachau 13.5.1943 bis 25.4.1945 – Nach der Befreiung des KZ wurden die gesamten Vorräte an Konserven be­schlag­nahmt und im Lager verteilt.
Karl Adolf Groß:
Den Koch der Wülfert-Konserven hörte ich eines Abends begeistert von dem Schlaraf­fen­land erzählen, seinem Kommando in Dachau (Groß, Karl Adolf, Zweitausend Tage Dachau. Erlebnisse eines Christenmenschen unter Herrenmenschen und Herdenmenschen. Berichte und Tagebücher des Häftlings Nr. 16921, München o. J. [1946]: 109).
Karl Adolf Groß:
25.4.1944
Wülfert GmbH, die Großmetzgerei und Konservenfabrik, schließt auch ihre Pforten. 300 Sklaven waren hier beschäftigt, um ganzen Herden von Ochsen, Kühen, Schwei­nen und die Hühner nach Hundertausenden zu Büchsenfleisch zu verarbeiten und Herrn W. zu einem Millionär zu machen (ders. Fünf Minuten vor Zwölf. Des ersten Jahrtausends letzte Tage unter Herrenmenschen und Herdenmenschen. Dachauer Tagebücher des Häftlings Nr. 16921, München o. J. [1946]: 173).

Edmond Michelet[1]:
48 Stunden nach der Befreiung war das Fest des 1. Mai. In aller Eile wurde ein Rie­sen­auf­marsch auf dem Appellplatz organi­siert. Nie ist mir eine Massen­kund­gebung ergrei­fender er­schienen. Der langsame Zug die­ser Riesenschar überlebender Europäer, die an der Grenze ihrer kör­perli­chen Wider­stands­kraft waren, in al­pha­betischer Rei­henfolge ihrer Länder hinter ihren nationa­len Fahnen ver­sammelt, das war wirklich ein er­grei­fen­der Anblick, den die bei dieser Ge­legenheit ent­faltete kommuni­stische Propaganda nicht abschwä­chen konnte. Für die Deut­schen war als Rei­ni­gungs­ge­ste eine Aus­nahme be­schlossen worden. Statt ihnen ih­ren Platz zu lassen, den sie auf Grund der internatio­nalen Schreibweise unter A (Al­le­magne) gehabt hät­ten, wur­den sie symbo­lisch an das Ende des Zuges ver­wiesen. Ich muß sagen, daß das Er­scheinen dieser Handvoll unbeugsa­mer Überle­bender von zehn unbe­schreibli­chen Jahren doch den Gedanken nahebrachte, diese Stellung zu berichtigen, was immer auch die Ge­fühle sein mögen, die die In­schrift auf dem roten Spruch­band eingab, hinter dem sie mar­schierten:
„Ge­denken an unseren [Ernst] Thäl­mann[2].“[3]

[1] Edmond Michelet (* 8.10.1899 in Paris, † 9.10.1970 in Brive-la-Gaillarde/Corrèze/F) – Er kam 1940 durch die Widerstandsbewegung zur politi­schen Arbeit. Als Obmann der Frei­heits­bewe­gung wurde er vom Vichyregime verfolgt, verhaftet und 1943 ins KZ Dachau ge­bracht. Dort war er Vertrauens­mann der französischen Häftlinge. Nach seiner Befreiung aus dem KZ am 29.4.1945 bekleidete er verschiedene Ministerposten. So war er u. a. Justiz­minister ab 8.1.1959 und vom 20.6.1969 bis zu seinem Tod Kul­tur­minister. 1988 wurde ein Antrag zur Einleitung eines Seligsprechungsverfah­rens gestellt, das am 16.9.2006 in Brive-la-Gaillarde eröffnet wurde.
[2] Ernst Thälmann (* 16.4.1886 in Altona, † 18.8.1944 im KZ Buchenwald) – Politiker (SPD, ab 1920 KPD) – Er verfocht in harten Auseinandersetzungen den leninistisch-stali­nisti­schen Kurs.
[3] Michelet, Edmond: Rue de la Liberté, Paris 1955 – Übersetzung ins Deutsche: Die Freiheitsstraße – Dachau 1943–1945, Stuttgart 1960: 253f.

Unbekannter Autor:
Die Nazi-Methoden hatten selbst im Lager nicht aufgehört. Als nun die Amerikaner kamen, wurde es nicht anders. Nur hatte die ganze Angele­genheit ein anderes Ge­sicht. Da traten die fremden Natio­nen auf und zeigten uns Deutschen den abgrundtiefen Haß. Die Russen und Po­len machten uns deutsche Mithäftlinge verantwortlich für alle Schandtaten der SS. Es gab damals Tage und Stunden, in denen wirklich unser Leben gefährdet war. Ich glaube, wenn wir der Willkür dieser Menschen ausge­lie­fert gewesen wären, hätte keiner lebend das Lager verlassen. Selbst auf dem Priesterblock spürte man die tiefe Abneigung der Franzosen und Tschechen gegen uns Deutsche. Man sprach kaum mehr mit uns und klagte uns ebenfalls an.