Im Griechischunterricht erfuhr Karl Leisner vom Leben in einer Demokratie.
Sein kurzes Leben von 1915 bis 1945 erstreckt sich mehr oder weniger vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In dieser Zeit befand sich das Deutsche Reich knapp zehn Jahre im Krieg und wechselte zwischen drei Staatsformen: Drei Jahre Monarchie, vierzehn Jahre Republik und zwölf Jahre Diktatur. Außerdem erlebte er noch die ersten Monate in Deutschland mit der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszone im Westen und der sowjetischen im Osten.
Perikles Thukydides
Er wäre auch gerne Politiker geworden. In seinem Tagebuch notierte er:
Münster, Sonntag, 24. April 1938
Ich las dann von [August] Winnig dessen Europa-Buch. Daran entzündete sich mein glühender Gedanke vom Politikerwerden noch einmal – und doch das Priestersein ist größer. Wenn du es kannst, folge dem Ruf Gottes. Natur und Gnade!
Wie stünde Karl Leisner zur heutigen Demokratie? Im Griechischunterricht hat er sicherlich folgenden Ausspruch gehört:
„Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ Dieser Satz ist eine knappe Definition der demokratischen Staatsform und entstammt der „Rede für die Gefallenen“, die der griechische Historiker Thukydides dem athenischen Staatsmann Perikles in den Mund legt.
Wo ist in den heutigen europäischen Demokratien der Gedanke verwirklicht, daß „der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist“?
Auch den folgenden Satz von Thukydides wird Karl Leisner gelesen haben:
„Die Masse ist in ihren Auffassungen unstet und wetterwendisch, für ihre Fehlleistungen macht sie andere verantwortlich, vor allem die Politiker, mitunter die Wahrsager. So sind vernünftige Beschlüsse nicht zu erwarten, wenn das Volk den Entscheidungsprozeß beherrscht und die Politiker in Furcht vor ihm leben. Da dies aber oft genug der Fall ist, geben nicht sachgerechte Kriterien immer wieder den Ausschlag.“
Welche ist die beste Staatsform? Haben wir sie schon gefunden?
In einem Artikel der F.A.Z. vom 3.4.2013 zum Thema Europa heißt es u. a.
„Manche behaupten, der Materialismus von links und von rechts habe den Idealismus besiegt, so dass sich die Parteien inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ähnelten. Es gibt auch jene, die am politischen Establishment verzweifeln und in einen für die Demokratie verhängnisvollen Fatalismus geflüchtet sind.“
Es besteht die Gefahr, daß die Nichtwähler zur „Volkspartei“ werden.