Karl Leisner und Ernst Thälmann

2013_09_26_Thaelmann

 

Die F.A.Z. vom 6. September 2013 brachte unter dem Titel „Gelebter Antifaschismus. Wurzeln und Wandlungen des Thälmann-Bildes – immer im Dienst der SED-Politik“ eine Buchbesprechung zu: „Russel Lemmons, Hitler’s Rival. Ernst Thälmann in Myth and Memory. Kentucky University Press, Lexington 2013” von Martin Sabrow.

 

2013_09_26_ThaelmannDenkmal

Ernst Thälmanns[1] Denkmal ist niemals gefallen. Mehr als zweihundert Straßen, Plätze, Schulen tragen heute noch den Namen des Weimarer KPD-Vorsitzenden, und seine monumentale Bronzeskulptur beherrscht unverändert ihre Umgebung im Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. In der DDR war Thälmann omnipräsent: Kein Bürger, der nicht die Feier-Rituale zu Thälmanns Geburts- (16. April 1886) oder Todestag (18. August 1944) kennengelernt hätte, kein Jugendlicher, der nicht an einer organisierten Vorführung der Thälmann-Filme „Sohn seiner Klasse“ und „Führer seiner Klasse“ teilgenommen hätte, kein Schüler, dem das „Seid bereit“ der Thälmann-Pioniere unvertraut gewesen wäre.
Die Studie des amerikanischen Historikers Russel Lemmons ergründet die Wurzeln und die Wandlungen des Thälmann-Bildes über sieben Jahrzehnte hinweg. Sie fragt zunächst nach der Wirklichkeit hinter der Inszenierung und beleuchtet die Karriere des Arbeiterführers, der nur vermeintlich von proletarischer, tatsächlich jedoch von kleinbürgerlicher Herkunft war und für eine verhängnisvolle Politik stand: Der Hamburger Kommunistenaufstand vom Oktober 1923 ging unter Thälmanns realitätsblinder Leitung als desaströses Putschabenteuer in die Annalen ein; Thälmanns aussichtslose Präsidentenkandidatur 1925 brachte indirekt Paul von Hindenburg an die Macht, und seine sklavische Stalin-Treue ließ die KPD bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers unbeirrt an ihrem selbstmörderischen Kurs festhalten, der den Hauptfeind in der sozialdemokratischen Konkurrenz sah.
Mit seiner Partei musste auch Thälmann selbst den Preis für die bedingungslose Unterordnung unter die Ziele Stalins entrichten. Elfeinhalb Jahre ohne Anklage in einer Einzelzelle weggesperrt, wurde er 1944 vermutlich in Buchenwald durch ein von Himmler beauftragtes Mordkommando erschossen. Seine durch die Unvorsichtigkeit des Parteiapparats ermöglichte Verhaftung am 3. März 1933 schaltete Thälmann aus dem Kampf gegen Hitler aus, und seine politische Linie wurde durch die Hinwendung der Komintern zur Volksfrontpolitik schon bald als falsch verurteilt.
[…]

[1] Ernst Thälmann (* 16.4.1886 in Altona, † 18.8.1944 im KZ Buchenwald) – Politiker (SPD, ab 1920 KPD) – Er verfocht in harten Auseinandersetzungen den leninistisch-stali­nisti­schen Kurs.

Karl Leisners erste Begegnung mit Ernst Thälmann war während einer Besichtigung des Reichtags am 21. August 1929:
Erlebnisse in Berlin, der Reichshauptstadt und drittgrößten Stadt der Welt
Um 7.00 Uhr Aufstehen, Waschen mit gestellter Seife und Handtüchern und An­ziehen. Dann gings von der Scharnhorststraße zum Haus der Jugend, wo wir für 0,15 Reichsmark zwei Schnecken und einen Pott voll Kaffee be­ka­men. Hier­bei aßen wir noch gekaufte Brötchen. […]
Von der Sieges­säule gings ins Reichstagsge­bäude. Dies besichtig­ten wir unter Füh­rung eines Herrn. Zuerst saßen wir im Erdge­schoß und dann gings in den Arbeitsraum (mit prächtigen Wandgemälden ausge­stat­tet). Von hier durch den Lesesaal und das prachtvolle Re­stau­rant in die Reichspräsiden­tenhalle, wo die Büsten von [Friedrich] Ebert und [Paul von] Hindenburg standen und ein ganz kostbarer Riesenkronleuchter. Es ging von ei­nem Prunksaal in den andern. Alles war aufs prächtigste und kostbarste aus­gestattet. Schließ­lich kamen wir ins Reichsratzimmer. Auch ein wunderschö­nes Zimmer. – Schließlich kamen wir in den Mittel­punkt des Gebäudes, in den Plenar­sit­zungssaal. Hier saßen wir auf den Plätzen von Dr. [Joseph] Wirth, Dr. [Adam] Ste­gerwald, [Ernst] Thälmann, der seinen Platz voll Tinte hatte, und anderen.

Wir sahen uns alles gründlich an und der Führer erklärte uns alles. Auch standen wir auf dem Rednerpodium usw.

1932 verfolgte Karl Leisner mit großem Interesse die Reichspräsidentenwahl:
Kleve, Sonntag, 13. März 1932
Matthäuspassion von [Johann Sebastian] Bach, Wahltag [Paul von] Hinden­burg – [Adolf] Hitler
Matthäuspassion! – Wahltag (Reichspräsident!) – Hindenburg 17 Millio­nen

Reichspräsidentenwahl. Paul von Hindenburg erreichte im ersten Wahl­gang nicht die erforder­liche absolute Mehrheit. Sein wichtigster Konkurrent, der NSDAP-Führer Adolf Hitler, erhielt 30,1% der Stimmen.

Erster Wahlgang am 13. März 1932

in 1000

v. H.

Zahl der Stimmberechtigten

43.949,7

100

Wahlbeteiligung

37.890,5

86,2

Gesamtzahl der gültigen Stim­men

37.648,3

100

davon entfielen auf:
[Theodor] Duesterberg (Stahlhelm)

2.557,7

6,8

[Paul] v. Hindenburg

18.651,5

49,6

[Adolf] Hitler (NSDAP)

11.339,5

30,1

[Ernst] Thälmann (KPD)

4.983,3

13,2

[Gustav] Winter (Aufwertungspartei)

111,4

0,3

zersplittert

4,9

0,0[1]

[1] s. Karlheinz Dederke: Reich und Republik. Deutschland 1917–1933, Stuttgart 1969, 81996: 340

Kleve, Sonntag, 10. April 1932
[…]
Heute war auch die Stichwahl zwi­schen [Paul von] Hindenburg und [Adolf] Hit­ler. Hindenburg bekam 19 Millionen, Hitler 14 Millionen [Wähler­stim­men].

Zweiter Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl. Paul von Hindenburg setzte sich mit 19,4 Millionen Wählerstimmen (53%) klar gegen Adolf Hitler mit 13,4 Mil­lionen (36,8%) durch.[1]

[1] Aus der Zeitschrift Die Wacht:

Wir wußten es ja: Kein anderer würde vom Volk gewählt als der alte Führer des Reiches, der Generalfeldmarschall von Hindenburg. Stolz darf katho­lische Jugend auf diesen Sieg sein; denn gerade in den katholischen Gegen­den unse­res Vaterlandes ist die absolute Mehrheit für den Reichspräsidenten geschaf­fen wor­den. Stärkste Träger des Kampfes waren nicht die alten, son­dern die jungen Men­schen. Es ging uns nicht um Parteipolitik, sondern ums gesamte Volk (Die Wacht 1932: 152).

Zweiter Wahlgang am 10. April 1932

in 1000 v. H.
Zahl der Stimmberechtigten 44.064,0

100

Wahlbeteiligung 36.771,8

83,5

Gesamtzahl der gültigen Stim­men 36.490,8

100

davon entfielen auf:
[Paul] v. Hindenburg 19.360,0

53,0

[Adolf] Hitler [NSDAP] 13.418,5

36,8

[Ernst] Thälmann [KPD] 3.706,8

10,2

zersplittert 5,5

0,0[1]

[1] Dederke 1996: 340

Nach der Befreiung des KZ Dachau am 29. April 1945 gedachte man im Rahmen  der Feierlichkeiten zum 1. Mai des im KZ Buchenwald ermordeten Ernst Thälmann.

Karl Leisner in seinem Tagebuch am 1. Mai 1945:
Kalter Tag. Schneit. Maifeiern der Sozialisten. Maiaufruf der Deutschen. Schlichte, aber tiefergreifende Befrei­ungs­feier auf dem Appell­platz. Tiefe Rührung. Den ganzen Tag Umzüge, Singen, Trompeten etc. Wieder gutes Essen (Wül­fert­konserven!)

Der KZ-Häftling Edmond Michelet schildert die Situation später in seinem Buch „Die Freiheitsstraße“:
48 Stunden nach der Befreiung war das Fest des 1. Mai. In aller Eile wurde ein Riesenaufmarsch auf dem Appellplatz organi­siert. Nie ist mir eine Massen­kund­gebung ergrei­fender erschienen. Der langsame Zug die­ser Riesenschar überlebender Europäer, die an der Grenze ihrer kör­perli­chen Wider­stands­kraft waren, in al­pha­betischer Rei­henfolge ihrer Länder hinter ihren nationa­len Fahnen ver­sammelt, das war wirklich ein er­grei­fen­der Anblick, den die bei dieser Ge­legenheit ent­faltete kommuni­stische Propaganda nicht abschwä­chen konnte. Für die Deut­schen war als Rei­ni­gungs­ge­ste eine Aus­nahme be­schlossen worden. Statt ihnen ihren Platz zu lassen, den sie auf Grund der internatio­nalen Schreibweise unter A (Allemagne) gehabt hät­ten, wur­den sie symbo­lisch an das Ende des Zuges ver­wiesen. Ich muß sagen, daß das Er­scheinen dieser Handvoll unbeugsa­mer Überle­bender von zehn unbe­schreibli­chen Jahren doch den Gedanken nahebrachte, diese Stellung zu berichtigen, was immer auch die Ge­fühle sein mögen, die die In­schrift auf dem roten Spruch­band eingab, hinter dem sie mar­schierten: „Ge­denken an unseren [Ernst] Thäl­mann.“ Edmond Michelet: Die Freiheitsstraße – Dachau 1943–1945, Stuttgart o. J. [1960]: 253f.

2013_09_26_Michelet

2013_09_28_Freiheitsstraße

Edmond Michelet (* 8.10.1899 in Paris, † 9.10.1970 in Brive-la-Gaillarde/Corrèze/F) – Er kam 1940 durch die Widerstandsbewegung zur politi­schen Arbeit. Als Obmann der Freiheits­bewe­gung wurde er vom Vichyregime verfolgt, verhaftet und 1943 ins KZ Dachau gebracht. Dort war er Vertrauens­mann der französischen Häftlinge. Nach seiner Befreiung aus dem KZ bekleidete er verschiedene Ministerposten. So war er u. a. Justiz­minister ab 8.1.1959 und vom 20.6.1969 bis zu seinem Tod Kul­tur­minister. 1988 wurde ein Antrag zur Einleitung eines Seligsprechungsverfah­rens gestellt. Der Seligsprechungsprozeß wurde am 16.9.2006 in Brive-la-Gaillarde eröffnet.