Karl Leisner und Heinrich Brüning

Dr. rer. pol. Heinrich Brüning (* 26.11.1885 in Münster, † 30.3.1970 in Ver­mont/USA, beigesetzt auf dem Zentralfriedhof in Münster) – nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Ge­schäfts­füh­rer des Deutschen Gewerk­schaftsbun­des 1920–1930 – Mitglied der Reichs­tags­frak­tion der Zentrumspartei Mai 1924 – deren Vorsitzen­der De­zember 1929 – Reichs­kanz­ler u. Außen­minister 30.3.1930 bis 30.5.1932 – Ab Oktober 1931 er­reichte er als Außen­­mi­ni­ster Aufschub der Re­para­tionen, suchte in­nenpoli­tisch mit Notverordnungen voranzu­kom­men und lehnte Forde­rungen des Reichspräsi­denten Paul von Hin­denburg, die auf die Ein­führung ei­ner Diktatur hi­nauslie­fen, ab. Er hielt sich oft in Mari­en­thal bei We­sel auf; von dort aus floh er 1934 in die Nieder­lande und emi­grierte in die USA. Ab 1937 war er Profes­sor für Wirt­schafts­wis­senschaften an der Har­vard-Uni­versität und von 1950–1955 an der Universität Köln.

Unter der Überschrift „Ein Mann sieht schwarz“ beschrieb die FAZ vom 20. März 2008 Nr. 68 die Situation von Heinrich Brüning in der „Weltkrisenzeit“.

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Als politisch sehr interessierter Mensch schätzte Karl Leisner Heinrich Brüning sehr. Zahlreiche Tagebucheinträge geben Zeugnis von seiner Begeisterung für diesen Politiker, selbst auf dem Sterbebett beschäftigte er sich noch mit ihm.

Tagebucheinträge

Sonntag, 19. Oktober 1930
Um 22.15 Uhr zu Hause! – Dort vom Siege der Regierung Brüning in Düs­sel­dorfer Nachrichten gelesen[1]
[1] In Berlin brachte am Sonntag, 19. Oktober 1930, die Regierung Heinrich Brüning mit 325 Stimmen gegen die vereinten Nationalsozialisten, Kommu­nisten, Deutschnationa­len und Christlich-Nationale Bauern- und Landvolk­partei mit zusammen 237 Stim­men das Schulden­til­gungsgesetz durch. Dies betrach­tete das Ausland als Sieg der Demokraten über den Ex­tremismus und als eine merkliche Minde­rung von Adolf Hitlers Prestige.

Montag, 8. Februar 1932
Dr. Brüning auf der [Genfer] Abrüstungskonferenz

Donnerstag, 25. Februar 1932
Reichstagsrede Dr. Brünings

In der Rede Heinrich Brünings ging es um die Wiederwahl Paul von Hinden­burgs am 13. März 1932, die vom Zentrum und damit von Heinrich Brüning massiv unterstützt wurde. Gegenkandidaten waren Theodor Duester­berg und Adolf Hitler. Die Wahl mußte wiederholt werden, da keiner der Kandidaten die Mehrheit bekam. Hier bahnte sich bereits die Entfremdung zwischen Paul von Hindenburg und Heinrich Brüning an, die schließlich zur Absetzung Brünings führte.[1]
[1] s. Karlheinz Dederke: Reich und Republik. Deutschland 1917–1933, Stuttgart 1969, 81996: 237–240 u. Tagebucheintrag 30.5.1932
vollständige Rede in: Brüning, Heinrich: Zwei Jahre am Steuer des Reichs. Reden aus Brünings Kanzlerzeit, Köln 1932: 52–55

Mittwoch, 13. April 1932
Auf der Grundlage der von Paul von Hindenburg erlassenen Notverordnung „zur Sicherung der Staatsautorität“ vom 13. April 1932 verbot Heinrich Brüning SA und SS. Die Regierung befürchtete einen Putschversuch der rechtsradi­kalen Organisationen.

Mittwoch, 11. Mai 1932
Große Rede  Brünings im Reichstag[1]. Er bekommt eine gute Mehr­heit (287 gegen 257). Er behandelte die Außenpolitik besonders und unter­strich noch einmal sein weltgeschichtliches „Nein“ in der Reparati­ons­frage. [Wilhelm] Groener mußte als Reichswehrminister abdanken. (SA-Ver­bot!) – (Am Sonntag sprach Brüning vor der auswärtigen Presse (das heißt der Presse außerhalb Berlins). – Er betonte besonders die Gleichbe­rechti­gung mit den andern Staaten!)
[1] Es spielt auch gar keine Rolle, was Sie über mich im Lande so […] verbreiten; es läßt mich absolut kühl. Wenn ich mich dadurch beein­drucken ließe […] …, ich würde die Ruhe auch innenpolitisch verlieren, die […] an den letzten hundert Metern vor dem Ziel das absolut Wichtigste ist. (Vernekohl, Wilhelm / Morsey, Rudolf (Hgg.): Heinrich Brüning, Reden und Aufsätze eines deutschen Staatsmannes, Münster 1968: 164)

Joseph Goebbels am 11. Mai 1932:
Der Reichstag plätschert weiter. Groeners Stel­lung ist er­schüttert, die Armee will ihn nicht mehr. Selbst seine eigene Umgebung drängt auf seinen Sturz. So muß es anfangen; wenn einer erst fällt, dann kommt das ganze Kabinett und mit ihm das System ins Purzeln. Brüning sucht zu retten, was zu retten ist. Er redet im Reichstag und zieht sich klu­gerweise auf die Außenpoli­tik zurück. Dort wird er sehr aggressiv. Er wähnt sich 100 Meter vor dem Ziel. Von Groener sagt er kein Wort. Er gibt ihn also auf.[1]
[1] Joseph Goebbels: Kampf um Berlin, München: Zentralverlag der NSDAP 1934: 80

Sonntag, 15. Mai 1932, Pfingstsonntag
5. Bundestreffen des Katholischen Wandervogels [KWV] in Marienthal bei Wesel mit Aus­spra­che über Politik und Volk, insbesondere über die Aufgabe zur sozialen Ge­rechtigkeit.
[…]
Wir hören drei Referate mit Ausspra­chen: 1. „Wirtschaft und wir“. 2. „Politik und wir“. 3. „Bildung und wir“. Redner: 1.) Willi Janssen 2.) Hans Grewe 3.) Eugen Schoelen. Viele feine Gedanken brachten sie vor; aber sie nieder­zuschrei­ben, ist nicht Zeit. – Alle drei Vorwürfe [Entwürfe] wur­den vom ka­tholi­schen Standpunkt und Glauben betrachtet. Kurz ist zu sagen: Zu 1.) Wirt­schaft soll jedem Volks­genossen Arbeit geben. – Ehr­lich, tüchtig! – Keine Schlagworte her­ein­tragen! – Zu 2.) Brüning: das Ideal! – In der Art dieses Mannes kämpfen. – Zu 3.) Bil­dung heißt nicht, möglichst viel Verstand und möglichst viel Wissen; son­dern ist harmoni­scher Ausgleich aller Seelenkräfte zu einer „ei­nigen“, gan­zen Persönlich­keit. – Die gute Gesamt­einstellung des Bundes [KWV] kam fein dabei heraus.

Montag, 30. Mai 1932
Dr. Brüning „abgesägt“
Sturz Brünings!!! „Dies ater Germaniae!“ [Schwarzer Tag für Deutsch­land!]
Dr. Brüning, unser tüchtiger Reichskanzler, fiel gemeinen Intrigen zum Opfer. Deutsch-„nationale“ [DNVP] stänkerten bei Hindenburg wegen „Siedlungs­bolschewismus“ [planmäßiger Agrarwirtschaft] usw. So wurde das Vertrauen Hinden­burgs er­schüttert, und Brüning demissio­nier­te!![1]
[1] Im Frühjahr 1932 schienen die Früchte der langen und nachdrücklichen außen­politischen Bemühungen Heinrich Brünings heranzureifen. Da ver­schlechterte sich die Lage im Innern. Paul von Hindenburg bedrängte den Kanzler, die Verla­ge­rung seiner Regierung nach rechts vorzunehmen, woraufhin dieser resignierte, denn er sah sich in seiner politischen Arbeit nicht bestätigt.

Das Kabinett Heinrich Brüning trat zurück, denn Reichspräsi­dent Paul von Hin­den­burg hatte sich geweigert, weiteren Notverordnungen der Regierung durch seine Unterschrift Rechtskraft zu verleihen. Reichskanzler Heinrich Brüning wurde entlassen: Die Reparationsfrage stand vor der endgültigen Lösung. Auf der Genfer Ab­rüstungskonferenz erreichte Deutschland die Auf­hebung der waffentech­ni­schen Bestimmungen des Versailler Vertrages und damit eine gleichbe­rech­tigte Stellung mit den europäischen Staaten bezüglich der sicherheits­politi­schen Maßnahmen.
Was mir die Sammlung der Zeitungsabschnitte, Notizen und Bilder erzählte: AD 1932/1933:
Das Jahr 1932 brachte in seiner Mitte [am 30.5.1932] den Sturz der Reichs­regierung Brüning. Auf ihn folgte das Kabinett [Franz] von Papen [1.6. bis 3.12.1932], das sogleich den Reichstag [am 4.6.1932] auflö­ste und Neuwah­len [für den 31.7.1932] ausschrieb. 100 Meter vor dem Ziel war Dr. Brü­ning gefal­len. Lausanne, das die Krönung seiner Reparati­onspoli­tik brin­gen sollte, durfte er nicht mehr miterleben.[1] Von Papen lei­tete – leider unge­schickter – die deutsche Sache dort. Es folgten dann die dauernden Wahlen [bis zum 6.11.1932 waren es für die mei­sten Deutschen fünf Wahlen in einem Jahr] mit den volkszermürbenden Wahl­kämpfen. Hier ein interes­santer Be­richt über die Leistungen und Grundla­gen der Regierung Brü­nings:

Aus einem Zeitungsartikel, vermutlich aus der Klever Zeitung Der Volks­freund:
Von Brüning zu Papen
In diesem Artikel ist die Rede des bisherigen Arbeitsministers Dr. Adam Stegerwald auf der Essener Tagung der Arbeiterbeiräte der Deutschen Zen­trumspartei wiedergegeben. Es handelt sich um einen Rechenschafts­be­richt des Kabi­netts Heinrich Brü­ning.
[1] Reparationskonferenz (16.6. bis 9.7.1932) mit der abschließenden Regelung der Reparationen in Lausanne

Eine Welle großer Begeisterung für den fähigen und echt christlichen Staats­mann [Heinrich Brüning] brauste durch unsere katholischen Lande. – Gerne hätte ich ihn selbst mal gesehn, als er in Krefeld war – schade, es glückte nicht. In dieser Epoche besuchte ich auch eine große Versammlung in Kevelaer, in der Prälat Dr. [Georg] Schreiber sprach über Brünings Politik und ihre Erfolge.

Aus der Zeitschrift Die Wacht:
Warum mußte das Kabinett Brüning gehen?
Weil Dr. Brüning unbedingt an der Sozialpolitik festhielt. Wohl Reform der deutschen Sozialversicherung, aber kein Verschwinden. Tarif- und Schlich­tungswesen ließ er nicht zerschlagen, wie es Wunsch der Unter­nehmer war, wodurch die Arbeitnehmer der Willkür und Ausbeutung ihrer Brotherren ausgeliefert wären. Weil Dr. Brüning Finanz-, Handels- und Produktionswirtschaft der staat­li­chen Kontrolle unterstellen wollte, um so eine Verschwendung des Volks­gutes zu verhindern.
Weil Reichsarbeitsminister Stegerwald, von Dr. Brüning gestützt, ein großzügiges Siedlungsprogramm ausgearbeitet hatte, welches auch die Enteignung einiger Großgüter im Osten vorsah, die trotz aller Staatshilfe (Osthilfe) nicht rentabel zu machen sind.[1]
Weil Dr. Brüning und Dr. Stegerwald Katholiken sind. Hinterbrachte man doch dem Reichspräsidenten [Paul von Hindenburg], daß es das Bestreben Dr. Stegerwalds sei, den Osten nur mit Katholiken zu besiedeln. Der Nationalsozialist Gregor Strasser hat ja solches auch in seiner Reichs­tags­rede betont.[2]
[1] [Adam Stegerwald machte] sich als positives Signal an die Arbeitslosen für spür­bare Impulse des Reichs für die Arbeitsbeschaffung stark. Das wohl bekann­teste Projekt war die landwirtschaftliche Siedlung, also die Zuteilung von brach gefal­lenen Landflächen an Arbeitslose, daneben aber auch Investitionen des Staates in die Infrastruktur. Die dafür notwendigen Haushaltsmittel sollten durch eine grund­legende Verwaltungsreform frei werden (URL http://adam-stegerwald-kreis.de/historie/reden/sachwalter_der_sozialpolitik.html – 29.10.2011).
[2] Wacht 1932: 220f.

Mittwoch, 1. Juni 1932
Ernennung des Zentrum-Außenseiters Franz von Papen zum neuen Reichs­kanzler als Nachfolger Heinrich Brünings

Donnerstag, 28. bis Sonntag, 31. Juli 1932
Vom 28. bis 31. Juli 1932 war das 3. Reichstreffen der Deut­schen Ju­gend­kraft (DJK) in Dort­mund. Es sprach Reichskanzler a. D. Dr. Heinrich Brüning.

Samstag, 28. Januar 1933
Auch das Zwischenka­binett [Kurt] von Schleicher [3.12.1932 bis 28.1.1933] demissionierte bald und  Hindenburg übertrug am 30. Januar 1933 die Kanz­lerschaft an Adolf Hitler.

Sonntag, Januar 1933
Aus der Zeitschrift Der Jungführer:
Die äußeren Etappen Januar bis März 1933.
Seit dem 1.6.[19]32 hatte die Regierung von Papen das Kabinett Brüning ab­gelöst und damit den neuen Rechtskurs eingeleitet. Reichstagswahl vom 31.7. Die Na­tionalsozialisten wuchsen im Reichs­tag von 107 auf 230. Hitler erhebt Anspruch auf den Reichs­kanzler­posten – sein Empfang beim Reichs­präsidenten [Paul von Hindenburg] bleibt er­folglos. Den angebotenen Vizekanzlerposten lehnt er ab. Am 12.9. Mißtrauens­votum gegen das Kabinett von Papen mit 513 gegen 32 Stimmen. Auflösung des Parlaments und Neuwahl. Die NSDAP verliert 34 Sitze, die DN [DNVP] ge­winnen 13. Der General von Schlei­cher bildet die neue Regierung. Im Januar 1933 verlangt er zur Durchfüh­rung sei­nes Programms vom Reichspräsi­denten die Auflö­sungs­vollmacht. Hinden­burg verweigert sie. Von Schleicher tritt am 28.1.[19]33 zurück.
Der Herr Reichspräsident beauftragt Herrn von Papen: „durch Verhan­deln mit den Parteien die politische Lage zu klären und die vorhandenen Mög­lich­keiten festzustellen“. Verhandlungen zwischen Hindenburg, Hitler und von Papen. Er­gebnis: Am 30.1. Regierungsbildung unter der Kanzler­­schaft Adolf Hitlers.[1]
[1] Der Jungführer: Führerzeitschrift und amtliches Mitteilungsblatt, Düsseldorf: Schwann 1933: 285

Sonntag, den 5.3.1933. Wahlsonntag
Ganz Deutschland wählt heute. Was wird werden? Wird Wahrheit oder Lüge, Geschrei oder demütiges Handeln, Hitler oder Brüning siegen? – Gott, gib uns den Sieg! Doch wenn wir nicht siegen, so nehmen wir es starkmütig hin und beten weiter: Herr, Dein Wille geschehe [Mt 6,10].

Dienstag, 2. Mai 1933
Ich bin jetzt auf Oberprima, habe also das letzte Jahr der Penne zu durch­laufen. Es muß also jetzt zum Endspurt gestartet werden.
Ja, es wird allerhand zu knacken und zu beißen geben. Mancher verflixte Nazilehrer wird mir eine Falle stellen wollen, mich hindern wollen, mein Abitur fein zu bauen. Aber ich bleibe meiner Überzeugung treu. Erst im Sturm und Feuer zeigt’s sich, ob die Überzeugung stark wie ein Baum und hart wie Stahl und wie Gold ist. Ich bleibe meinem politischen Ideal Dr. Brü­ning treu und wenn alle ihn bespeien, so will ich ihn schützen und hoch­hal­ten.
Aber wie soll ich mich zu Hitler und den Nazis stellen? Soll ich mit­laufen, mitschreien, mitziehen? Nein, das tu ich nicht; es sei denn, daß man mich mit Gewalt oder durch Staatsgesetz dazu zwingt, aber innerlich folge ich ihnen nicht. Den Drill, die Schnauzerei, die Lieblosigkeit gegen die Geg­ner, ihre fanatische, tamtamschlagende Nationalitätsbesessen­heit kann ich nicht tei­len. Ich bin aber trotzdem Deutscher und liebe mein Vaterland und meine Heimat. Aber ich bin auch und an erster Stelle Katholik[1], will es wenig­stens durch langen Kampf gut werden. Und da kann ich diesen Mili­tär­tam­tam, diese freche Art jedem Gegner gegenüber nicht leiden. – In der Außen­politik soll Hitler mal was leisten, da seh ich so gar wenig.
Da hat doch Brüning ganz anders gearbeitet, und viel zäher und zielsicherer. Das hatte Hand und Fuß und war durchdacht, was Brüning machte. Er hatte in der gesamten Welt Ansehen. Überall im Ausland – auch im Fein­desland Frankreich – hörte man auf seine Stimme, man schätzte und achtete ihn, ob seines großen Wissens und Könnens, seiner klaren Politik und seiner festen Überzeugung. – Was wir bis jetzt in der Außen­politik haben, sind Brünings Früchte, sonst nichts. – Höchstens [Jossif] Stalin rückt etwas nä­her zu uns. Aber es kommt auf England, Frankreich und Amerika an. Und die scheinen nur mit nüchternen Tatsachen und Zahlen zu rechnen, nicht mit nationalen Begei­sterungsräuschen und Fackelzügen und Feuerwerk.[2]
Und meinen die Herren da oben [in Berlin] denn, Deutschland könne ohne das Aus­land seine Arbeitslosen beseitigen und überhaupt leben? – Diese Borniert­heit sol­len sie sich aus dem Schädel schlagen! – Genug politischer Senf!
Ich bleibe deutscher Katholik, bin für ehrliche, friedliche Außenpolitik und gegen jeden Drill. Für notwendige Ordnung bin ich selbstverständ­lich, aber nicht für diese Gesinnungsknebelei und Unterdrückung.
Für die wohlverstandene Ordnung und freudigen Gehorsam und für echte Freiheit kämpfe ich. Amen.

Montag, den 26.6.1933
Bis ungefähr ½11 Uhr saß ich mit Hermann Rings­dorff und dem „Lan­gen“ auf dem alten Friedhof und hab mit ihnen über die „Gleichschaltung“ und den Nationalsozialismus im neuen Deutschland ge­sprochen.[3] Sie meinten, Nationalsozialist sei heute gleich Deutscher; wer kein Nazi sei, habe in Deutschland nichts verloren. Sie meinten, die politische Einheit müsse da sein, nur eine Partei (= Volk) dürfe es geben. Alles sehr gut und fein! Den Deutschen aber, der nicht Nazi ist, muß man doch als Bruder neben sich allerwenigstens dulden, ein Christ sogar ihn lieben! Wie läßt das sich mit dem allverbin­denden Geist des Chri­stentums verbinden, wie frage ich, mit der Liebe zum „irrenden Bruder“? – Ich kann mich nicht rein äußerlich „gleich­schalten“, ohne innerlich davon überzeugt zu sein, daran zu glauben. An Dr. Brüning glaubte ich und glaube ich noch und für immer. An Hitler aber glaube ich nicht, weil er mir eben nicht glaubhaft erscheint. Ich vertraue nicht auf seine Worte. Er macht ihrer eben zuviel. Brüning hat nie so viel geredet, daran aber glaubte ich, weil ich wußte, daß er ein grundsatztreuer, echter Christ und Katholik war. (Von Hitler glaube ich – letzteres wenigstens – nicht fest.) Alles ist so unklar, so ver­schwommen! Man weiß nicht, was ist sein Endziel: Vielleicht die Natio­nalkirche? – Heute gibt er noch feste Versiche­rungen in Bezug auf kirchliche Organisationen, morgen löst Herr [Dr. Ro­bert] Ley die ka­tho­lischen Arbeitervereine auf und übermorgen (?) kom­men wir dran?![4] So wird’s kommen. Aber ich will nicht schwätzen, sondern zu Gott beten um Hilfe und Rettung in dem seeli­schen Zwiespalt. Aber zwin­gen laß ich mich nicht, denn ich bin frei!!

[1] Hermann Ringsdorff dazu im Gespräch mit Hans-Karl Seeger:
Er nannte sich selber bewußt „ultramontan“, das heißt der Papst und seine Enzy­kliken waren ihm Richtschnur.
[2] In der Dunkelheit marschierende Fackelzüge sowie Fahnen und Standarten waren fester Bestandteil nationalsozialistischer Aufmärsche. Bereits zur Machtergrei­fung am 30.1.1933 gab es einen die Gesinnung der Masse widerspiegelnden fünf­stündigen Fackelzug. Zur nationalsozialistischen Fest- und Gedenkkultur gehör­ten neben solchen Umzügen auch das Ent­fa­chen von Sonnwendfeuern und das feierliche Verlöschen von Flammen.
[3] Karl Leisner schrieb in beiden Tagebüchern ½11, was im Tagebuch Nr. 8 dem zeitlichen Verlauf nach als 22.30 Uhr gedeutet werden müßte. Laut Hermann Ringsdorff fand dieses Gespräch aber während einer „Beurlaubung“ von der Mathe­ma­tikstunde statt. Die Jungen sprachen über den Versailler Vertrag und dessen Außer­kraft­setzen sowie die mögliche Abziehung der französischen Besat­zungstruppen aus dem Rheinland. Karl Leisner habe gemeint, er wisse nicht, ob es bei dem Vertrag bleibe. Die ande­ren seien überzeugt gewesen: Wenn wir deutsch denken, dann kann es nicht dabei bleiben.
Hermann Ringsdorff:
Als wir drei evangelischen Schüler [Hermann Ringsdorff, Wilhelm Hommrig­hausen und ? Heinz Verleger, Otto Andrae] damals (1933) in den Jungstahl­helm ein­traten, um nicht zur Hitler-Jugend gehen zu müssen, war Karl das in seiner konsequenten Haltung schon zuviel, so daß er mich zur Rede stellte. Wir meinten damals, er hätte in seinen Äußerungen insgesamt etwas vorsich­tiger sein kön­nen. Er selbst wird es als Bekennermut angesehen haben (Selig­sprechungspro­zeß: 535).
[4] Dr. Robert Ley hatte folgenden Erlaß herausgegeben:
Es ist der Wille des Führers, daß außer der Deutschen Arbeitsfront keinerlei Or­ganisationen mehr, weder der Arbeitnehmer noch der Arbeitgeber, existie­ren. Ausgenommen sind der ständische Aufbau und Organisationen, die ein­zig und allein der Fortbildung im Berufe dienen. Alle übrigen Vereine, auch so­genannte katholische und evangelische Arbeitervereine, sind als Staats­feinde zu betrachten, weil sie den großen Aufbau hindern und hemmen. Des­halb gilt ihnen unser Kampf. Und es ist höchste Zeit, daß sie verschwin­den (Müller, Hans: Katholische Kirche und Nationalsozialismus, München: dtv 1965: 174 (zit. Müller, Hans: Katholische Kirche und Nationalsozialismus, München: dtv: 1965).
Am 25.6.1933 beschwerte sich Adolf Kardinal Bertram als Vorsitzender der Ful­daer Bi­schofs­konferenz bei Adolf Hitler:
Der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Herr Staatspräsident Dr. Ley, hat am 22. d. M. [dieses Monats] die katholischen Arbeitervereine den staatsfeind­li­chen Or­gani­sationen zugezählt. Diese Auffassung ist irrtümlich (Müller, H. 1965: 174f.).

Montag, 7. August 1933
Wir treffen einen Friesländer, der mit uns fährt. Es ist ein Bau­ersknecht. Ich spreche mit ihm über Politik. Er natürlich Hit­leran­hänger, erkennt aber die Verdienste Brünings ruhig an. – Er sagt, daß die kleinen Bauern jetzt nicht mehr so von den großen über die Schulter ange­guckt wer­den dürften, erzählt von der guten Ernte, vom Arbeitsdienst­lager, das in der Nähe liegt, und anderes mehr. Er fragt nach der Lage im Rhein­land. Ein freundli­cher, aufgeschlossener Mensch!

Freitag, 8. Juni 1934
Abends 20.15 bis 21.30 Uhr im „Audi-Max“ große Ansprache Professor [Friedrich] Grimms aus Essen:
[…]
(
Zum Vortrag einige Namen und Stichworte:
[…]
„Krieg mit den goldenen Ku­geln“[1], der gleich nach dem Mißlingen der Besetzung des Rheins [des lin­ken Rheinlan­des] ein­setzte und unter Brüning 1931 zum Ban­kenkrach[2] führte.)

[1] s. Einzig, Paul: Der Krieg der goldenen Kugeln. Hinter den Kulissen der inter­na­tio­nalen Finanzwelt, Stuttgart und Berlin 1932
Paul Einzig vertritt die These, der Finanzkrieg, den Frankreich im Interesse sei­ner politischen Macht über Europa führe, habe nicht wenig mit dem Ablauf der Depression seit 1929 zu tun und sei unmittelbar verantwortlich für die Zu­spit­zung zu einer beispiellosen Krise in der zweiten Hälfte des Jahres 1931.
[2] Der Bankenkrach wurde durch den Schwarzen Freitag am 25.10.1929 an der New Yorker Börse ausgelöst. Dadurch kam es zur Weltwirtschaftskrise, von der Deut­sch­land besonders hart getroffen wurde. 1931 folgte die Bankenkrise, in Deut­schland beginnend mit der Schließung der Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank). 1932 lebten 23,3 Millionen Deut­sche von Ar­beitslosengeld oder Sozial­hilfe.

Sonntag, 22. Juli 1945
„Mün­che­ner Zei­tung [Nr.] 7“ gelesen. Konfe­renz der „Gro­ßen Drei“ in Pots­dam.[1] Gott leite die Be­schlüsse! – Arti­kel „Schorf­heide!“ eines Luftwaf­fenwachpostens Ia.[2] Gö­rings Luxus­burg [„Wald­hof Carinhall“] (entsetzli­cher Luxus und Pomp!) und Brünings und [Otto] Brauns (kleine Zim­mer) Wellblechdach­schlöß­chen![3]
[1] Schlag­zeile auf der Titelseite der Münchener Zeitung:
Konferenz in Potsdam tagt
Präsident [Harry Shippe] Tru­man zum Vor­sitzenden gewählt – Außen­mi­ni­ster, Gene­ral­stabs­chefs und ein gewal­tiger Stab be­gleiten die „Großen Drei“ – [Ro­bert Anthony] Eden kann we­gen Krankheit nicht teilneh­men – Deutsch­lands Schicksal steht zur De­batte (Münchener Zeitung – Nr. 7 vom 21.7. 1945: 1)
[2] Überschrift in der Münchener Zeitung:
So erlebte ich die Schorfheide – Ein Sol­dat aus der Wach­kompanie [Her­mann] Görings schrieb an die „M.Z.“ – Die Welt des Mannes, der den Deut­schen Kanonen statt Butter gab (Münchener Zeitung – Nr. 7 vom 21.7.1945: 3).
[3] Aus der Münchener Zeitung:
„So erlebte ich die Schorfheide“
[…]
Der Unter­schied
Nun, Göring war nicht der ein­zige deutsche Mini­ster, der die Schorfheide auf­ge­sucht hat. Vor meinen Augen taucht ein anderes Jagd­haus der Schorf­heide aus der Er­inne­rung auf, das Jagd­schloß Huber­tusstock, in dem 1931 zwei Män­ner der „Systemregierung“ bisweilen ihre freien Stunden ver­brach­ten. Reichskanzler Brüning und Mini­sterprä­si­dent [Otto] Braun war allerdings das aus der Vor­kriegszeit stammende Schlößchen mit dem etwas alters­schwa­chen Wellblech­dach gut ge­nug, das sie unverän­dert von vie­len Vor­gängern übernahmen. Ich habe eines Mor­gens vor der spartanischen Ein­fach­heit des Braun­schen Schlafzimmers gestanden, das 2,5 × 3 Meter groß, nur mit Bett, Wasch­tisch und Nachttisch ausgestattet war.

Das Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ würdigt Dr. rer. pol. Heinrich Brüning und dessen Familie in einer ausführlichen Biographie.

Link zur Biographie

Zwei Monate nach seinem Rücktritt als Reichskanzler verlieh seine Heimatstadt Münster Dr. rer. pol. Heinrich Brüning am 14. Juni 1932 die Ehrenbürgerrechte. Er zählt zu den Ehrenbürgern der Stadt Münster, nach denen auch eine Straße benannt ist, die HeinrichBrüning-Straße zwischen Salzstraße und Klemensstraße.

Link zur Heinrich-Brüning-Straße in Münster

Grabstätte von Familie Brüning auf dem Zentralfriedhof in Münster

Quelle der Fotos: Gabriele Latzel und Karl Leisner-Archiv