Karl Leisner und Iphigenie

iphigenie_foto Iphigenie ist in der griechischen Mythologie die älteste Tochter des Königs Agamemnon von Mykene. Laut Weissagung muß sie der Göttin Artemis geopfert werden. Die Erfüllung dieser Weis­sagung fand in unterschiedlichen Aus­führungen Eingang in die Weltliteratur.
So zum Beispiel bereits in der Antike durch den griechischen Dichter Euripides (480–406 v. Chr. G.). Von ihm stammen die beiden Tragödien „Iphigenie in Aulis“ und „Iphigenie bei den Taurern“.
In die F.A.Z. vom 17. Oktober 2016 berichtete Simon Strauss unter der Überschrift „Da gähnt am Ende sogar der König. Ivan Panteleev inszeniert Goethes ‚Iphigenie’ am Deutschen Theater in Berlin“ über eine Inszenierung von Johann Wolfgang von Goethes Theaterstück „Iphigenie auf Tauris“.

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Johann Wolfgang von Goethe
Iphigenie auf Tauris
Philipp Reclam jun Stuttgart, 1973

 

 

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Vermutlich hat Karl Leisner in der Schule vom Schicksal der Iphigenie erfahren. Im „Großen Lager“ in Groesbeek/NL bezeichnet er die Kochfrauen, seine Schwester Maria und deren Freundin Anna Maria Kempkes, als „Iphigenien“.

Groesbeek, Samstag, 25. August 1934
Der letzte Tag:
[…]
Bilder, die einen nicht mehr loslassen:
[…]
Stimmungsbildchen:
[4.] Am Spültisch!
Abbruch!
[5.] Verlassene Küche – „Iphigenien“ und „[Küchen-]Bulle“![1]
[6.] Die Küche fällt!

[1] Auf dem Bild ist Maria Leisner oder Anna Maria Kempkes abgebildet, außerdem ein Junge. „Küchen­bulle“ bezeichnet in der Soldatensprache den Küchenfeldwebel oder den Schiffs­koch.

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Im Opus „Das dunkle Reich“ von Hans Pfitzner[1] trifft Karl Leisner auf die Iphigenie von Johann Wolfgang von Goethe.

[1] Pfitzner, Hans Erich: Das dunkle Reich. Eine Chorphantasie mit Orchester, Orgel, Sopran- und Baritonsolo, nach Gedichten von Michelangelo, Goethe, Conrad Ferdinand Meyer und Richard Dehmel, op. 38, Leipzig o. J. [1930] (zit. Pfitzner 1930)
Erich Pfitzner hat dieses Werk 1929 als erstes nach dem Tod seiner Frau Mimi Kwast (1879–1926) 1926 geschrieben. Es wird auch als sein Requiem be­zeichnet. Ein Motto aus Johann Wolfgang von Goethes „Iphigenie“ stellt er voran: „Und laß dir raten, habe die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne, komm, folge mir ins dunkle Reich hinab.“

Münster, Freitag, 6. Dezember 1935
Wir alle leben in Gottes Freude. In Ihm und (oder nur) oder auf der Suche in Seiner Liebe.
„Das dunkle Reich“ von Hans Pfitzner – tief, modern, tonmalend, sin­nend über das Geheimnis des Todes, des Leidens, des Lebens. Eine feine Gedicht­auswahl in ein Tongemälde vereint.[1] Toll das Tanzlied (Gesang der Leben­digen!) der Schnitter und Schnitterinnen.[2] Tief ergreifend zu Anfang und zu Ende der Chor der Toten von C. F. Meyer. „Wir Toten …“[3] „Das Lied vom Brunnen des Leides“ [
Es ist ein Brunnen, der heißt Leid] ([Richard] Dehmel[4]) tiefe Deutung des Sinns des Leidens. Ein Nahekommen mystischer Art dieses Problems. Feine Tonmalerei des Brunnens – plätscherndes, trop­fen­des, stilles Wasser!

[1] Drei Texte stammen von Conrad Ferdinand Meyer (Wir Toten, Schnitterlied, Scheiden im Licht), einer von Johann Wolfgang von Goethe (Gretchen vor der Mater dolorosa), einer von Michelangelo (Alles endet, was entstehet) und einer von Richard Dehmel (Es ist ein Brunnen, der heißt Leid). Ein selbständiger Orchestersatz (Tanz des Lebens) und ein (kleines) Or­gelstück finden sich außer­dem.

[2]Schnitterlied (Chor der Lebenden)
Wir schnitten die Saaten, wir Buben und Dirnen, / Mit nackenden Armen und triefenden Stirnen, / Von donnernden dunkeln Gewittern bedroht – / Gerettet das Korn! Und nicht einer, der darbe! / Von Garbe zu Garbe / Ist Raum für den Tod – / Wie schwellen die Lippen des Lebens so rot! / Hoch thronet ihr Schönen auf güldenen Sitzen, / In strotzenden Garben, umflimmert von Blit­zen – / Nicht eine, die darbe! Wir bringen das Brot! / Zum Reigen! Zum Tanze! Zur tosenden Runde! / Von Munde zu Munde / Ist Raum für den Tod – / Wie schwellen die Lippen des Lebens so rot!
C. F. Meyer (Pfitzner 1930: 3)

[3] Chor der Toten
Wir Toten, wir Toten sind größere Heere / Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere! / Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten, / Ihr schwinget die Sichel und schneidet die Saaten, / Und was wir vollendet und was wir begon­nen, / Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen, / Und all unser Lie­ben und Hassen und Hadern, / Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern, / Und was wir an gültigen Sätzen gefunden, / Dran bleibt aller irdische Wan­del gebunden, / Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte / Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte, / Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele – / Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!
C. F. Meyer (Pfitzner 1930: 2)

[4] Chorspruch
Es ist ein Brunnen, der heißt Leid; / Draus fließt die lautre Seligkeit. / Doch wer nur in den Brunnen schaut, / Den graut. / Er sieht im tiefen Wasserschacht / Sein lichtes Bild umrahmt von Nacht. / O trinke! Da zerrinnt dein Bild: / Licht quillt.
[Richard] Dehmel (Pfitzner1930: 4)

Es wäre interessant zu wissen, ob Karl Leisner sich nach Lektüre der Besprechungen in der F.A.Z. und im folgenden Link das Stück angesehen und auch einen Kommentar dazu verfaßt hätte.

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