Karl Leisner und seine Lieder (2)

 

 

Karl Leisner mit seiner Schwester Maria 1937 im Allgäu

 

Quelle des Fotos: Karl Leisner-Archiv

 

 

Der Mensch als singendes Wesen

Ursprung des Singens
Wenn man den lautlichen Äußerungen von Säuglingen lauscht, vernimmt man eher ein Singen als ein Sprechen. Vermutlich hat sich das Singen bereits vor der Fähigkeit des Sprechens entwickelt. Im Singen enthüllt der Mensch die Natur seines Wesens.

Organ des Singens
Die Stimme als Organ gibt es nicht. Sie entsteht immer wieder neu im Zusammenspiel der gesamten Einheit von Körper und Seele. Dabei wird eine Reihe von Prozessen aktiviert, die das Herz, die Lunge, das Zwerchfell, den Beckenboden, die Bein- und Gesäßmuskulatur und den gesamten Kreislauf einbeziehen. Der ganze Körper wird stimuliert und beginnt zu schwingen. Die Durchblutung des Gehirns wird gesteigert, die Atmung wird tiefer und liefert mehr Sauerstoff.
Das schwingende Zwerchfell aktiviert das Sonnengeflecht, welches wiederum regulierend auf das autonome Nervensystem einwirkt, das weitgehend nicht der will­kürlichen Kontrolle durch unser Gehirn unterliegt. Unsere Stimme ist ein Stimmungsorgan. Singen beeinflußt die Stimmung, fröhliche Lieder muntern auf und setzen den Körper in Bewegung. Trauergesänge helfen, sich Schmerz und erfahrenes Leid von der Seele zu singen.
„Der Klang entsteht weder im Mund noch im Körper, sondern in den Knochen. Alle Knochen des Körpers singen; sie wirken wie ein Vibrator, der die Wände einer Kirche in Schwingung versetzt, die ebenfalls singen.“[1]
Wichtig ist nicht nur das, was wir sagen, sondern vor allem wie wir es sagen. Um gehört zu werden und Anklang zu finden, spielt der Klang der Stimme eine entscheidende Rolle. Ist er authentisch, so macht er uns unverwechselbar.
Eine plausible Antwort auf die Frage, warum die Evolution das Singen und die Musik hervorgebracht habe, lautet: „Einem Menschen, mit dem ich musiziere, gehe ich nicht an die Gurgel.“[2]
[1] Alfred Tomatis, Das Ohr und das Leben, Erforschung der seelischen Klangwelt, Solothurn und Düsseldorf 1995
[2] s. URL http://www.zeit.de/2009/53/B-Singen
30.5.2017

Auswirkungen des Singens auf den Menschen
Durch eine entsprechend geübte Haltung, Atmung und Resonanz spiegelt der Klang der Stimme unser Wohlbefinden. Dabei drückt sich insbesondere beim Singen ein archaisches und elementares Bedürfnis aus.
Der Münsteraner Musikpädagoge Karl Adamek (* 27.8.1952 in Kleve) erforscht seit vielen Jahren die Wirkung des Singens auf die psychische Entwicklung sowie auf die physische Leistungsfähigkeit des Menschen und weist empirisch die gesund­heitsfördernde Bedeutung des Singens nach. Für ihn wirkt Singen als Gesundheitserreger. Er formulierte 1996: „Das Singen ist für die gesunde Mensch­werdung und das gesunde Menschsein in seinen psychischen, physi­schen, sozialen und spirituellen Aspekten unersetzlich.“ Die Bedeutung des Singens wird als selbstbestimmte Gesundheitsgestaltung erkennbar. Darüber hinaus belegt eine Studie der Frankfurter Universität aus dem Jahre 2004 die gesunde Wirkung auf das Immunsystem. Nur wer singt, bekommt weniger Schnupfen, nicht der, der Musik passiv konsumiert.[1]
Singen als Medizin ist eine faszinierende Alternative zur pharmazeutisch geprägten Schulmedizin. Es gibt neue Erkenntnisse über Wirkung von Gesang auf die Produktion glücksfördernder Botenstoffe im Gehirn. Singen ist offensichtlich ein Lebens­elixier.[2]
[1] s. Karl Adamek, Singen als Lebenshilfe, Waxmann 42008
[2] s. Wolfgang Bossinger, Die heilende Kraft des Singens: Von den Ursprüngen bis zu modernen Erkenntnissen über die soziale gesundheitsfördernde Wirkung von Gesang, Traumzeit-Verlag 2006

Wolfgang Bossinger (* 4.9.1960 in Memmingen):
Singen ist ein Antidepressivum. Im Gehirn kommt es beim Singen – voraus­gesetzt man singt mit Freude – zur Ausschüttung antriebs­steigern­der und stimmungsaufhellender Botenstoffe wie Serotonin, Oxytocin und Betaendorphin. Gleichzeitig werden Stresshormone gesenkt, das Immun­system gestärkt, die Atmung vertieft und das Herz-Kreislauf-System aktiviert.
[…]
Singen ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit gegen Angst und Verzweiflung, es beruhigt und hat eine befreiende Wirkung. In allen Weltkulturen war Singen ein gemeinschaftliches Erlebnis, an dem alle beteiligt waren, so wie beim gemeinsamen Essen. In unserer perfektionistischen und leistungsorientierten Gesellschaft ist es zu einer bedauerlichen Hemmung gekommen – viele trauen sich einfach nicht mehr zu singen, weil sie glauben, ihre Stimme sei nicht schön genug oder sie könnten die Töne nicht halten. Ich beobachte aber, dass fast jeder, der sich schließlich doch traut, schnell merkt, wie gut ihm das tut und wie intensiv die dabei entstehenden positiven Gefühle sind. […] Und sie erleben, wie wohltuend das Miteinander in der Gruppe sein kann.
[…]
Die Stimme ist unsere psychoemotionale Visitenkarte, wenn wir reden klingt immer auch durch, wie es uns geht. Unser Gehirn ist schon aus evolutionsbiologischer Sicht darauf programmiert, im Klang der Stimme unseres Gegenübers etwa Wut und Gefahr zu erkennen oder zu überprüfen, ob der andere vertrauenswürdig ist. Die Stimme hat viel mit der jeweiligen Stimmung und dem Selbstwertgefühl zu tun – wir geben den Ton an oder klein bei. Die Befreiung der eigenen Stimme durch das Singen und angeleitete Übungen zur Stimmentfaltung macht uns im wahrsten Sinne des Wortes schwingungsfähiger. Mit einer warmen, resonanzfähigen Stimme werden wir als herzlicher und offener wahrgenommen.[1]
[1] Psychologie heute, Dezember 2010: 63

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rolf Verres (* 4.5.1948 in Coesfeld):
Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß Singen die seelische und körperliche Gesundheit fördern kann. Singen kann ein Ventil für aufgestaute Emotionen bedeuten. Singen kann eine körperliche Energetisierungsstrategie sein, zum Beispiel bei Depressionen oder Schmerzen. Singen kann ein Medium der Selbstbegegnung und der Selbstre­flexion werden. Singen kann ganz einfach Glück bedeuten. Das Gefallen an der eigenen Stimme kann die Entwicklung der eigenen Identität fördern. Leistungsorientiertes Vorsingen in der Schule kann aus diesem Grunde schnell gefährlich werden. Verordnetes Singen kann kontraproduktiv sein und traumatische Erlebnisse mit sich bringen. Singen ist nicht nur wichtig in positiven, sondern auch in negativen Stimmungen. Singen ist zugleich Gesund­­heitsverhalten. Es fördert die Entfaltung des Menschen auf allen Ebenen. Singen ist durch nichts anderes ersetzbar.
Menschen, die über einen positiven Zugang zum Singen verfügen und tatsächlich oft viel singen, sind gegenüber denen, die diesen Zugang nicht haben, in Bezug auf ihre Alltagsbewältigung im Vorteil und durchschnittlich seelisch und körperlich gesünder. Singen bereitet Freude und kann Erfahrungsbereiche öffnen, die bis in die spirituelle Dimension des Menschen reichen. Singen ist fast jedem zugänglich, unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsstand usw. Singen ist jederzeit und fast überall möglich.
Singen ist Teil der humanen Existenz des Menschen im kulturellen Kontext. Singende Menschen bewältigen ihr Leben besser als Nichtsingende.[1]
[1] URL http://gesangverein-reinsbronn.de.tl/F.ue.r-Seele-und-K.oe.rper.htm 14.6.2014

Auswirkungen des Singens auf die Gemeinschaft

Yehudi Menuhin (* 22.4.1916, † 12.3.1999):
Wir vermögen durch Gesang unsere Welt und unser Handeln zu beseelen, singend Liebe, Freude, Hoffnung und Zuversicht zu schenken, uns aber auch den Schmerz von der Seele zu singen und unser Herz durch Verzeihen zu beschwingen: wir vermögen zum Lobpreis der Schöpfung einigender Gesang zu sein.[1]
[1]  s. Zur Bedeutung des Singens

Nicht nur Gedichte, sondern auch Lieder, vor allem Volks- und Kirchenlieder, haben einen hohen Erinnerungswert für alte Menschen. Sie sind Teil des Langzeitgedächtnisses. Auch demente Menschen erinnern und erfreuen sich immer wieder an Liedern, die sie früher häufig gesungen haben. Ihre Gruppenwirkung entfaltet die Musik im wesentlichen über den Rhythmus. Das gilt sowohl für den Tanz als auch für den Drill. Alle Militärs mobilisieren ihre Massen durch Musik. Auf Grund des beim Singen entstehenden Gemeinschaftsgefühls hält das Militär auch heute noch am Gleichschritt festhält, obwohl dieser beim tatsächlichen Kampfeinsatz keine Bedeutung mehr hat. Singen im Kollektiv führt zu Selbstlosigkeit und damit zu Kooperation.
Wer singt, schreibt der Musikwissenschaftler Ernst Klusen (1909–1988), wächst über sich hinaus, gerät „außer sich“. Er verschafft sich Gehör, weit jenseits der Reichweite seiner normalen Sprech­stimme. Aber auch der Gesang entwickelt seine Wirkung meist erst im Rahmen eines gemeinsam zelebrierten Rituals. Er beschwört nicht nur Götter und Geister, sondern vor allem den Zusammenhalt unter den Menschen. Singen schafft Ausgleich, fördert Übereinstimmung und Harmonie in der Gruppe. Auch das erfordert von den Mitsingenden eine Verwandlung: Wer mit anderen die Stimme erhebt, muß etwas von sich preisgeben, muß für kurze Zeit seinen Intellekt zum Schweigen bringen, „in gewissen Grenzen sogar seine Individualität aufgeben“.[1]
[1] URL http://www.nordheide-chor.de/kling-klang-1/jugendchor-kling-klang-nordheide/schatztruhe/ 14.6.2014

Bedeutung des Singens im Kindesalter
Laut einer Studie von Karl Adamek bestehen Kinder aus Kindergärten, in denen gesungen wird, deutlich häufiger den Schultauglichkeitstest, zeigen eine bessere Sprachentwicklung und eine bessere kognitive und koordinative Entwicklung, sind psychisch und körperlich gesünder und verfügen über eine höhere emotionale Intelligenz.[1]
[1] s. URL http://shop.singende-krankenhaeuser.de/shop/die-heilende-kraft-des-singens.php 30.5.2017

Da Singen die Lernmotivation, Sprachgewandtheit und Kreativität von Kindern steigert, sollte ihm in deren sozialem Umfeld von Familie, Kindergarten und Schule ein besonderer Stellenwert zukommen.

Karl Leisner bedauerte es sehr, als seiner Sangesfreude durch den Stimmbruch Grenzen gesetzt wurden.

Karl Leisner am 15. Juni 1929 an Walter Vinnenberg:
Dr. [Bernhard] Peters hat den Kirchenchor wieder „renoviert“. Leider kann ich nicht wegen Stimmbruchs mitsingen. Willi [Leisner] ist mit Hermann und Josef Mies Vorsän­ger.

Aber es gab bei Karl Leisner nicht nur ein Singen der Stimme, sondern auch eines der Herzen.

Tagebuch vom Samstag, 8. Februar 1936
Ein Singen hebt an, voll Herzensschwung und Auftrieb erneuter Jugend­kraft. Ein Singen der Sehnsucht des liebenden Herzens – ein Jubel und Frohsang der dankenden Seele – ein köst­liches Dankeslied, ein Preisgesang von glühen­der Harfe des Seelenbrandes angeklungen: Das ist meiner Seele Singen zu Gott, meinem Schöpfer, Erlöser und Heiliger!

Quelle der Fotos: Karl Leisner-Archiv