Elisabeth Ruby
Als Karl Leisner am 1. April 1937 in den Arbeitsdienst fährt, ist er frisch verliebt in Elisabeth Ruby, die Tocher seiner Wirtsfamilie in Freiburg. Vermutlich ist der „Funke übergesprungen“, als Elisabeth ihn während seiner Mittelohrentzündung Ende Januar 1937 gepflegt hat.
Karl Leisner und Elisabeth Ruby 1937 in Freiburg
Tagebucheinträge
Kleve, Donnerstag, 1. April 1937
Abschied von der Heimat. Kleve, den 1. April 1937
Der Eil[zug] legt vor. In Goch ist Tante Marias und Tante Julchens Haus zu sehn. – Beim Abschied von Kleve: Je voudrais lacrimer [pleurer]! [Ich möchte weinen!] O my El.! O gr. des.! [grande desiderium – O meine Elisabeth! O große Sehnsucht!]
Dortmund, Freitag, 2. April 1937
Dortmund in Westfalen, am Freitag, den 2. April 1937 (Herz-Jesu-Freitag). 8.00 Uhr heilige Messe c. C. [cum communione (lat.) = mit Kommunionempfang] – und will mir schier das Herz springen! Auch gr. des.! [grande desiderium – große Sehnsucht!] Sine sacramento nihil sum! Omnia offero pro Deo et Christo. Passio cordis. [Ohne Sakrament bin ich nichts! Alles opfere ich für Gott und Christus. Passion des Herzens. Selbstentscheidung.]
[…]
Herrliches Frühlingswetter. O gr. des.! Il mio c. [grande desiderio! Il mio cuore – O große Sehnsucht! Mein Herz].
Dahlen, Freitag, 9. April 1937
Es ist schön da draußen! Der Frühling läßt das Herz höher und heller schlagen. – Ich lese den Johannesprolog: O lux aeterna! [O ewiges Licht!] – […] – Abends bete ich kurz, dann sinke ich todmüde hin auf den Strohsack. – Ich träume auch schon mal vom schönen Freiburg/Br. und von dem Schönsten, was mein Herze birgt. Oh, che è un gr. des! [grande desiderio!] Oh, il mio cuor’! [Oh, was ist es für eine große Sehnsucht! Oh, mein Herz!] – Sehnsucht.
Dahlen, Samstag, 10. April 1937
Feiner Mondabend. Eine schmale Sichel, keusch und silberhell. – Oh gr. des. [grande desiderium – große Sehnsucht].
Dahlen, Donnerstag, 15. April 1937
Gespräch mit Kaminsky, Heinz aus Dresden über seine junge Braut [Cilly], die übrigens kurz darauf, als wir im Emsland waren, starb. – Ogrdes. [O grande desiderium – O große Sehnsucht.]
Hubertusburg, Sonntag, 2. Mai 1937
Wieder gr. des. [grande desiderio] ho pensato a la mia! [große Sehnsucht, habe an die Meine gedacht!] Prächtiger Morgen im Schloßhof draußen. Tagebuch geschrieben.
Dresden, Sonntag, 16. Mai 1937
Morgens in der Hofkirche bei der Schubertmesse schon so ein ungestümes Drängen. Gr. des. [Grande desiderio] Io non so, io non posso. [Große Sehnsucht. Ich weiß nicht, ich kann nicht.]
[…]
Io sogno il mio sonno della bella ragazza. Io non posso. Io vorrei. [Ich träume meinen Traum von dem schönen Mädchen. Ich kann nicht. Ich will.] – Oh gr. des! [grande desiderio! – Oh große Sehnsucht!] – 22.15 Uhr nach Tagebuch in die Falle. Ich dichte und singe und träume. Mir ist’s, als müßt ich zerspringen vor Sehnsucht!
Bad Schandau, Montag, 17. Mai 1937
Stunde der Seele. Innerstes spricht sich aus.
Oremus pro invicem. Veni, Sancte Spiritus, veni, veni, dulcis hospes animae.[1]
Da steh ich droben auf des Felsens Höh’
Weit über sonniges Land und silbern Fluß ich seh’ –
Meine Augen schauen an Sonne und Schönheit sich trunken.
Ach, hätt’ ich doch von deiner Nähe, – einen Funken!
Da steh’ ich nun – einsam zutiefst im Herzen,
Und schaue weit übern Fluß. Mit Schmerzen
denke deiner feinen Seele ich
– und ein jähes Sehnsuchtsfeuer fällt über mich.
Hei, Erde, wie bist du göttlich schön,
Nicht satt kann ich mich an Gottes Schöpfung sehn!
Und doch eines einzigen Menschengeistes Schimmer
– all deinen Glanz übertrifft er immer.
Wie könnt ich dich S [?]
wie könnt’ ich deiner holden Seele je vergessen!
Mir ist’s, als seist du gefallen in meines Herzens Tiefen
– und sie verlangend sehnend ständig nun nach dir riefen.
Groß ist, wer einsam stehen kann.
Und doch muß auch der Größte eine Liebe – ja die größte – han!
17.5.1937, 23.00h
[1] aus der 1. und 3. Strophe der Pfingstsequenz Veni, Sancte Spiritus
Georgsdorf, Sonntag, 23. Mai 1937
Gemeinschaft katholischer Jugend. Und an El. [Elisabeth] gr. [grandi] pensieri di desiderio [starke Gedanken der Sehnsucht]. Langer Brief an El. Ruby bis abends.
Georgsdorf, Montag, 24. Mai 1937
Brief an El. [Elisabeth] Ruby während des Frühstücks fertig.
[…]
Herrliche Nacht, noch gut eine Stunde wach. I miei pensieri: [Und meine Gedanken:] soll ich sie holen?! Si! [Ja!] – Gr. des.: [Grande desiderium – Große Sehnsucht:] Geträumt. Dann Tagebuch.
Georgsdorf, Dienstag, 25. Mai 1937
5.00 Uhr raus. – Dies dedicatus pro El. [Elisabeth gewidmeter Tag.]
[…]
Abends sehr müde.
[…]
Je me cherche. – Gr.d des. [grand désir] – Io leggo il cap. [capitulo] XI di S. Giovanni. [Ich suche mich. – Große Sehnsucht. – Ich lese Kapitel 11 aus dem Johannesevangelium (Auferweckung des Lazarus).]
Georgsdorf, Samstag/Sonntag, 26./27. Juni 1937
Von 22.00 bis 24.00 Uhr allein auf Posten in stiller Mondnacht. Weit gingen die Gedanken zu allen Lieben. – Menschen und Länder wecken Sehnsucht. Gr. des. [Grande desiderio] – Che io debbo fare? Ineffabile! [Große Sehnsucht. – Was muß ich tun? Unaussprechlich!] – Mit Sperling noch gesprochen über Stellung zum Mädchen in Sachsen und hier.
Der Mond ging rot auf – und heller und schöner wurde es. Sterne still am hellen Sommerhimmel. – Feine Wache. Nachher gepennt.
Georgsdorf, Samstag, 3. bis Sonntag, 4. Juli 1937
Dann noch eineinhalb Stunden bis 23.30 Uhr Moorspaziergang. Feine Gespräche! Gr. des. [Grande desiderium] – Cum Deo media nocte in lectum. [Große Sehnsucht. – Mit Gott um Mitternacht ins Bett.]
Georgsdorf, Dienstag, 25. Mai 1937
Vorher hatte ich den Brief [von Elisabeth Ruby] vom 14. gelesen. – Una notte del des. [Eine Nacht der Sehnsucht.]
Georgsdorf, Sonntag, 30. Mai 1937
Von 20.30 bis 22.00 Uhr im Moor allein. Unendlichkeit. Gr. des. alla Madonna. [Grande desiderio – Große Sehnsucht nach der Frau.] Tieftraurig und ratlos, weglos, einsam. – Joh cap 12 [Jesus auf dem Weg nach Jerusalem – Stunde der Entscheidung] bringt mir wieder Ruhe nach einigen Liedern del cuore. – Io non so, che fare [des Herzens. – Ich weiß nicht, was ich machen soll].
Georgsdorf, Donnerstag, 3. Juni 1937
Am Abend gr. des. [grande desiderio] Che io dico, Che io facio? – Io non so. Dimi, Signore! – O anno passato! [Große Sehnsucht. Was sage ich, was tue ich? – Ich weiß es nicht. Sag es mir, Herr! – O vergangenes Jahr!]
Georgsdorf, Sonntag, 6. Juni 1937
Dann eine viertel Stunde auf der Brücke gestanden und den Mars in seiner verhalten roten Glut über den Konturen der jungen Birken betrachtet und still vor gr. des. [grande desiderium – großer Sehnsucht]. Vorher schon am Kanal entlang: Quid fac [faciam]? [Was soll ich tun?] Opfer für das Volk so oder so? Tiefe Erregung – Kampf.
Georgsdorf, Mittwoch, 9. Juni 1937
Dann noch eine viertel Stunde das Wetterleuchten betrachtet. Stilles Gebet. – Gr. des. [Grande desiderio] Che facciamo? [Große Sehnsucht. Was sollen wir machen?]
Georgsdorf, Samstag, 12. Juni 1937
In Schlaf gesungen. – Gr. des. [Grande desiderium – Große Sehnsucht.] – (Für geistige Arbeit k. i. [? keine Initiative / kein Interesse])
Georgsdorf, Sonntag, 13. Juni 1937
Mit Weese per Motorrad bis zur Kirche [St. Bonifatius]. (Im Braunhemd und Reiterstiefeln!) – Heiho! Ante tabernaculum oravi – omne desiderium cordis vexati eripuit. Quid faciendum, quid? [Vor dem Tabernakel habe ich gebetet – alle Sehnsucht des gequälten Herzen hat er herausgerissen. Was ist zu tun, was?]
[…]
Dann los in die stille Mondnacht. Hinterm Hoogsteder Lager rechts ab ins Moor.
„Der Mond ist aufgegangen, die güld’nen [gold´nen] Sternlein prangen am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget – und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.“
Diese Liedstrophe von Matthias Claudius zeichnet wundervoll die Stimmung. – Ganz einsam gehe ich durchs Moor. – Pensées sur la future [l´avenir]. – Saevit cor. Eheu! ah [Gedanken über die Zukunft. – Es wütet das Herz. Wehe! ah]. Ein ruhiges Hornsignal blas’ ich in die weite Nacht. Pax noctis circumdat animam. – In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum. [Der Friede der Nacht umfängt die Seele. – In Deine Hände, Herr, empfehle ich meinen Geist. (vgl. Ps 30/31,6; Lk 23,46)] – Schön im Mondenlicht ein saugendes Pferdefüllen. Ich denke nach über die Schönheit des Mütterlichen in der Natur. Gr. des. [Grande desiderio] E. allora grande fiducia „come mi duce il Signore“. [Große Sehnsucht nach Elisabeth, jetzt große Zuversicht, wie führt mich der Herr.] – Das rote Marslicht läßt an Liebe denken.
Georgsdorf, Sonntag, 15. August 1937
Dann zur katholischen Kirche [St. Mariä Himmelfahrt]! Feine Diasporakirche. Ante tabernaculum dilecti mei interna ad locutio et oratio. [in locutione et oratione patefeci – Vor dem Tabernakel meines Erwählten habe ich mein Innerstes beim Gespräch und Gebet enthüllt.] Das Herze kann sich wieder recht ausschütten und froh und frei machen am Bronn der Gnade. Io penso con gr. [grande] desiderio al El. [Ich denke mit großer Sehnsucht an Elisabeth.]
[…]
Avanti il dormire io penso sulla problema delle mie Amate nella vita … [Vorm Einschlafen denke ich nach über das Problem mit meiner Geliebten im Leben …]
Georgsdorf, Sonntag 29. August 1937
Zusammen zu Walter [Flämig]. Mit ihm ins Moor. Herrliches Coll. rel. [colloquium religiosum …] über echten Priesterberuf, tiefste Herzenssehnsucht bricht auf. Fein! Frohen Herzens in die Falle.
Georgsdorf, Montag, 30. August 1937
Denke an Jupp Kuhne (u. El. [Elisabeth]) auf der Baustelle. – Seltsam, grad’ heute starb er (wie mir die Todesanzeige am 1.9. zeigte). Des. gr. [Desiderium grande – große Sehnsucht] – Die große Entscheidung!
Georgsdorf, Donnerstag, 2. und Freitag, 3. September 1937
O gr. des.! [grande desiderio – O große Sehnsucht!] – „Io spero di aspettare Giglio.“ [Ich hoffe, die Lilie[1] zu erreichen.] – Reinheit! Kampf! Priestertum! Familie!
[1] Lilien gelten als Symbol der Reinheit und Unschuld.
Georgsdorf, Freitag, 10. und Samstag, 11. September 1937
Abends mit Erhard Eckert, Erich Mietsch und Vorm. [Vormann] Voigtländer auf Wache! – Erster Posten! Schöne Sternennacht! Eine Stunde zunehmender Mond. Schlanke, keusche Sichel. – Ringen um die große Entscheidung. – Molto gr. des. senza fine! Ineff. – Quid fac? [Molto grande desiderio senza fine! Ineffabile. Quid faciam? – Sehr große Sehnsucht ohne Ende. Unaussprechlich. Was soll ich tun?]
Georgsdorf, Freitag, 17. September 1937
Gr. des. [Grande desiderium – Große Sehnsucht], aber verklärt. Herrliche Abendstimmung.
Georgsdorf, Sonntag, 19. September 1937
Pensieri sul sonno della notte. – Que io fò? [Gedanken über den Traum in der Nacht. – Was soll ich tun?]
[…]
Wieder gr. des. [grande desiderio – große Sehnsucht].
Georgsdorf, Samstag, 23. Oktober 1937
Letztes Händeschütteln im Trupp. Ernst, aber doch bin ich froh, wieder mal ganz persönlich frei mein Leben gestalten zu dürfen. Auf keinen Fall möchte ich diese Zeit missen. Es war eine harte, aber gut überstandene Lebensschule.
An Menschen- und vor allem auch Selbsterkenntnis hat sie einem viel gegeben. Auch an Härte und soldatischem Gleichmut hat man gewonnen. Und – trotz der bittersten Enttäuschungen und tieftraurigsten Bilder, die einen oft so mutlos stimmen konnten – trotz allem hab’ ich mein Volk ganz tief lieb gewonnen. Und vielleicht ist dies tiefe Gefühl des Mitleids mit eins der bestimmendsten gewesen (menschlich gesehen), das die eine Sehnsucht nach dem Priestertum doch schließlich so stärkte und zum letzten Entscheid und hart errungenen Entschluß zu diesem Lebensweg führte.
Ach, wenn ich an all’ die Stunden tiefsten, unaussprechbaren Sehnens (o la Mia [o die Meine]!) denke in Dahlen, Hubertusburg, im Emsland in stiller einsamer Nacht auf Posten – dann möcht’s mich fast überkommen, dann möcht’ ich mich auf die große Straße des Lebens stellen – und diesen Weg [der Ehe und Familie] suchen! Aber – so weh auch das Scheiden und Meiden tut, – Herzblut mußte fließen und wird fließen müssen auch in Zukunft auf dem Weg zu priesterlichem Opferleben.[1]
[1] Damals galt die Redewendung „Priesterleben – Opferleben“.
Münster, Dienstag, 9. November 1937
Und sei beruhigt: Herrliche innere Freuden bringt Dir dies letzte Opfer, das so ganz Letztes verlangte und verlangt – und einen tiefen Sehnsuchtsschmerz zurückließ. Denn Scheiden und Meiden, ei das tut weh! Dem „Hurra“ des inneren Ja in den Exerzitien [23. bis 28.10.1937 in Münster] muß jetzt das langsame innere Lösen (restlos!) und Wachsen auf das große Ziel folgen!
Münster, Donnerstag, 11. November 1937
Groß und tief grad für meine heutige Trostlosigkeit. Ach, wärn wir da![1] – O gr. d.! [grande desiderium!] Deus, in adjutorium meum intende! [O große Sehnsucht! Gott, komm mir zu Hilfe! (Ps 69/70,2)]
[1] Anlehnung an die letzte Zeile der dritten Strophe des Liedes „In dulci jubilo“
Münster, Freitag, 12. November 1937
Einiges tut mir gut, wenn ich das mal schreibe: eineinhalb Jahre [Außensemester und RAD-Zeit] überschäumenden Lebens, von Sturm und Drang, voll himmlischer Freude, aber auch tiefem Leid und unerfüllter Sehnsucht hab’ ich jetzt hinter mir. Die leise Wehmut, die tiefe Trauer, die öde Leere der Seele in den letzten Tagen ist menschlich so verständlich … Das Erleben dieser Zeit war zu gewaltig, dazu braucht’s Jahre zum Verdauen! Vielleicht wird mal ein ganz feines Geschichtlein draus – oder gar mehr. Die Tage der heiligen Stille, – war der Entscheid nicht zu plötzlich, zu stimmungsmäßig beeinflußt? Nein – und ja! Und doch muß ich jetzt den Mut haben, zu dieser ungeheuren Gnade das letzte Ja der Bereitschaft zu sagen! Auf alles, was mich als Gefahr vom Priestertum fern bringen kann, muß ich verzichten. Nicht blinzeln, verstohlen oder lüstern, nach irgendwelchen Dingen, die sicher fein sind. – Trotzdem hört das Wagnis nicht auf, nein jetzt beginnt es erst recht: das Wagnis meines Lebens, sich Einem Herrn zur Treue geben ein ganzes Leben lang. Zu Kampf, zu Tod des Zeugnisses, zu hartem, einfachem Leben, zu Sieg! Das soll heldisches Leben der letzten Einsatzbereitschaft werden! Letztes Wagnis des Höchsten. Mein Leben, meine Freiheit, alles alles setz’ ich auf eine Karte!
Münster, Samstag, 20. November 1937
Ich las gestern und lese heute aus Bernanos: „Das Tagebuch eines Landpfarrers“. – Erschütternd! „Was soll das schon alles?“ „Es ist ja Gnade“[1]. – Das ist Kost für einen werdenden und Aufrüttelung für jeden Priester. – In gebrechliche Gefäße hat der Herr die Gnade gegossen, gegen tausendfaches Leid, Unverstand und Verkalktheit hat sie sich durchzusetzen. Und die Gnade siegt. Der Begnadete überwindet alles! Letzten Adel, letzte Freiheit gibt sie ihren Kindern! Kindlich sein! O dieser Glaube, diese Hoffnung, diese Liebe!
Seltsam, beim Schreiben von diesem Erlebnis muß ich auf einmal an die Begegnung [mit Elisabeth] denken Anfang dieses Jahres [während der Mittelohrentzündung in Freiburg/Br.]. Diese Kindlichkeit, diese Ehrfurcht, dieser Glaube, diese Liebe! Ogrdes! [O grande desiderium – O große Sehnsucht!]
[1] Der Roman schließt mit den Worten des sterbenden Landpfarrers:
„Was macht das schon aus? Alles ist Gnade“ (Georges Bernanos: Tagebuch eines Landpfarrers, Wien 1936: 342).
Das alte Jahr 1937
Keines war bisher innerlich so bewegt wie dieses. Nie vergeß’ ich die Tage von Schönstatt [im Januar], wo zu Füßen der Gottesmutter der große Kampf um Liebe und Beruf begann. Das war gewaltig. Ich war tief erschüttert. Die Tage der Krankheit [20.1. bis 2.2.1937 in Freiburg/Br.] waren unvergeßlich. Ebenso die darauffolgenden. – Das Opfer [des Verzichtes auf die Liebe zu Elisabeth] wurde mir sehr schwer. Die innere Überwindung ist erst nach dem RAD gekommen in den zwei Monaten im Collegium Borromaeum. – O diese Nächte und Stunden der Sehnsucht. – Auch im RAD! Viel innere Kraft mußte herhalten. O, das Herz hat geblutet, aber – ich glaub’, das Ja ist endgültig. Den Abschied mit Segen [in Freiburg/Br.] von P. Canisius [Kölliker OP] vergeß’ ich nie.
Münster, Sonntag, 16. Januar 1938
[Josef Rommerskirchen] erzählt mir von seiner großen Liebe sehr fein. – Was soll das. Wir erzählen vom Wachsen junger Familien. Da ist’s wieder angestoßen die Wunde des Leides, des innersten Verstummens und der tiefsten Traurigkeit in mir. Stumm liege ich eben auf dem Bett und die namenlose Sehnsucht überkommt mich: Quid faciam? [Was soll ich machen?]
Was will Gott von mir? Kann ich es? – Im Beten der beruhigenden Abendpsalmen des Completorii Dominicae [der Sonntagskomplet: Ps 4; Ps 90/91; Ps 133/134] spüre ich wieder Ruhe und Geborgenheit. Aber Klarheit der Entscheidung tut not. Ein eigenes „halb zog es (ihn), halb sank er hin“[1] – oder, ja ich glaub’ es nun zu sehen: eine heimliche Führung des Heiligen Geistes führt mich in die Aula [des Collegium Borromaeum], wo der Dichterfreund Dr. [Paul] Wolffs, der morgen über „Nietzsche und das christliche Ethos“[2] spricht, Rosenberg seine Novelle „Der Tod im Gehorsam“ oder „Der letzte Akt spielt 1000 Jahre später“ uns vorträgt. Es wird zu einer eigenartigen Weihestunde: Die ganze geistige Situation, des „satten“ Kultur-Katholiken ist treffend gezeichnet. Dieser Egoist, ich fühle mich mitgezeichnet! – O diese „Legende“ von der cellula [Zelle] St. Bernulfi – und nach 1000 Jahren das Leben des Kaplan Reinhold: Der Tod im Gehorsam. – Erschüttert geh’ ich auf meine cellula – und jetzt kann ich nicht mehr schreiben – ich bin aufgewühlt und erschüttert. Das war ein Ruf der Gnade. Vernimm’ ihn. – Bist du bereit?
[1] „Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn“ – Schluß der Ballade „Der Fischer“ von Johann Wolfgang von Goethe
[2] Wolff, Paul: Nietzsche und das christliche Ethos, Regensburg 1940
Münster, Dienstag, 22. Februar 1938
Ma nel questo gaudio si commiscue un’ grav’ memoria di gran. Des. – Ma: sia quieto. Dio Te guidera! Pro examine non sia anxiato!
[Aber in diese Freude vermischt sich eine schwer(wiegende) Erinnerung an eine große Sehnsucht. – Aber sei beruhigt! Gott wird dich führen!]
Freiburg/Br., Sonntag, 20. März 1938
Es ist ein warmer Sonnentag im Frühling. – Mit Elisabeth besuch’ ich dann noch im Seminar [für Seelsorgehilfe] Fräulein Köster aus Kleve. – Auf dem Heimweg, da wird mir’s so weh ums Herz. – „Was soll ich jetzt machen?“ Diese Frage gibt mir einen Stich ins Herz. – Ich brauch’ die Woche Stille und Ruhe, um darüber zu sinnen. Alle Wehmut und Sehnsucht, alles Leid bricht mit neuer Wucht auf. Auf einsamer Wanderung suche ich Ruhe, um Gottes Ruf zu hören. – Ich bete und warte auf den Herrn [vgl. Ps 130,6; Lk 12,36]. – Die alte Unruhe und Unsicherheit nagt am Herzen. – Schon möcht’ ich’s übers Knie brechen, die Entscheidung erzwingen, aber: der Mensch denkt, Gott lenkt. Er führt mich zu P. C. N. [Pater Constantin Noppel SJ] – Ihm lege ich meine Charakterschwierigkeiten dar. Er meint, ein halbes Jahr ruhig sich klären im festen Hinschreiten auf Christus hin.
Münster, Dienstag, 5. April 1938
Ich bete auch zu ihm um rechte Erleuchtung in der Berufsfrage. Sein Tod [Jupp Kuhnes] und sein Begräbnis zu Ende August [2.9.1937] waren ja so sehr entscheidend. Ich ging aus, das [….[1]] zu suchen – nicht Rat wußte ich mehr vor Sehnsucht und Leid darum – und Gott führt mich an sein Grab und – ernüchtert und tief bewegt zugleich kehr’ ich zurück. Der Beruf ist „vorläufig“ gerettet.
[1] Die an dieser Stelle angeführten Zeichen sind nicht zu entziffern, haben aber offensichtlich mit Karl Leisners Liebe zu Elisabeth Ruby zu tun.
Münster, Montag, 16. Mai 1938

Marienbild des italienischen Malers Domenico Ghirlandaio (1449–1494)
Das Bild der lieben heiligen Jungfrau begleitete mich durch den RAD. Es lag im NT. – Tiefe Sehnsucht und Liebe weckte es immer wieder und hielt sie wach. – Das Bild einer Schwester [Elisabeth] Unserer Lieben Frau verband sich tief und innig mit ihm. Und doch klang es auf zu ihr, der heiligen Jungfrau, der himmlischen Mutter.
Ihr ewiges Antlitz ( Weiger[1]) leuchtete schimmernd auf im irdischen Bild des Malers und in der Liebe zu Gottes Erdenkind.
[1] s. Weiger, Josef: Mutter des neuen und ewigen Bundes. Fünftes Kapitel: Im Widerschein des Ewigen Antlitzes: 33–39
Münster, Donnerstag, 7. Juli 1938
Die ewige Frau [von Gertrud von Le Fort [1]]. Das Buch hat mir ganz tief ins Herz gesprochen. Was ist es um das Geheimnis des Weiblichen, der Frau? Sehnst du dich nicht auch ganz tief in der Seele nach so einem holden Geschöpf, nach so einer Mutter und Braut? – Ich gestehe mir nicht recht diese Tiefe der Sehnsucht ein, einerseits, weil ich’s nicht will und meine Schwäche sehe, andererseits ahne ich auch wohl um die heimlichsten innersten, gewaltigsten Tiefen, die geistiges Leben mit Gott und edlen Menschen bringen kann. Es ist ein Gewoge im Herzen nach der Krankheit [Rippenfellentzündung]: soll ich, soll ich nicht!
Passio Domini nostri Jesu Christi [Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus] – Das Opfer ist gefordert, aber ich bin zu schwach, es restlos zu bringen. – 28.2.1937. – Unvergeßlich. Eine wunderbare Mischung von selbstloser, göttlicher und – noch nicht restlos niedergerungener menschlicher Liebe. Tief dunkel sinkt der Abend über den Vogesen nieder.
[…]
Und doch singe ich das heimliche Lied einer namenlosen Sehnsucht. – Eine Seele ist mir aufgesprungen. – Tödliches Ringen. Daheim in den Kartagen [zwischen Beendigung der Außensemester in Freiburg/Br. und dem Beginn des RAD am 1.4.1937] Ruhe. Deo gratias! – Die alte, ach so ferne Sehnsucht nach Gott.
[1] Le Fort, Gertrud von, Die ewige Frau, München 1934