Karl Leisner und Wilhelm Conrad Röntgen

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Wilhelm Conrad Röntgen (* 27.3.1845 in Lennep, † 10.2.1923 in München) – Ent­decker der nach ihm benannten Strahlen 1895 – erster Nobelpreis für Physik 1901

Quelle des Fotos: Wikimedia Commons / gemeinfrei (abgerufen 26.03.2016)

 

 

 

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Vera Dünkel
Röntgenblick und Schattenbild – Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern
Gebr. Mann Verlag, Berlin 2016
ISBN 9783942810357
Gebunden, 296 Seiten, 79,00 EU

 

 

Unter der Überschrift „Fotos von der unsichtbaren Hand – Da waren nicht nur die Mediziner von den Socken: Vera Dünkel durchleuchtet in einem exzellent illustrierten Band die Frühgeschichte der Röntgenbilder“ besprach Jan von Brevern in der F.A.Z. vom 30. September 2016 das Buch von Vera Dünkel.

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Während des „Gemeinschaftslagers“ in Rheinshagen besuchte Karl Leisner unter anderem auch das Röntgenmuseum. Damals ahnte er nicht im geringsten, wie oft er sich später einer Röntgenuntersuchung unterziehen mußte.

Reinshagen, Mittwoch, 17. Januar 1934, 6. Tag
Gegen 16.00 Uhr nach Lennep gefah­ren. (Schneewetter. Es taut!) – Röntgenmuseum: (Menschendurchleuchtung – Materi­a­l­ausleuchtung, zum Beispiel Gemälde.)

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Deutsches Röntgen-Museum in Remscheid-Lennep, Schwelmer Str. 41

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Quelle des Fotos: Wikimedia Commons / Author: Frank Vincentz / CC-BY-SA 3.0 (abgerufen 03.03.2016)

Im Zusammenhang mit seiner Lungentuberkulose hat Karl Leisner das Röntgen schätzen gelernt; denn dadurch bekam er einen Einblick in seine Krankheit und einen Überblick über deren Entwicklung.

Vermutlich ließ er sich am 27. Mai 1939, dem Samstag vor Pfingsten, beim Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. Alexander Theben[1] untersuchen[2], „weil er einen hartnäckigen Husten nicht loswerden konnte“.[3] Dazu kam auch eine zunehmende Müdig­keit. Höchstwahrscheinlich stellte Dr. Alexander Theben mittels einer Röntgenuntersuchung sofort die Diagnose „Offene Tbc“; denn er wartete nicht auf das Ergebnis einer Speichel­untersuchung, sondern bemühte sich offensichtlich direkt um einen Platz für Karl Leisner im Für­st­abt-Gerbert-Haus, einem Lun­gensanatorium in St. Blasien.
[1] Theben, Familie
1.
Generation:

Dr. med. Alexander Theben (* 19.7.1870, † 11.4.1958) – Abitur in Münster 1890 – Medizinstudium – Praxis in Schna­cken­burg in Niedersachsen u. in Lichtenau bei Paderborn – Heirat 1904 – Praxiseröff­nung in Münster, Fried­richstr. 5, 1906 – Stabs­arzt im Ersten Weltkrieg – Wegen der vielen Lungenkranken spezialisierte er sich und war 1920 der erste Lun­gen­facharzt in Münster. Ende Mai 1939 untersuchte er Karl Leisner und entdeckte dessen Tbc.
2. Generation:
Dr. med. Alexander The­ben (* 23.2.1906 in Lichtenau/Kreis Bü­ren, † 4.1.1991) – Facharzt für Lungenkrank­heiten – Abitur in Münster 1925 – Medizinstudium in Freiburg/Br. u. Mün­­ster – Promotion bei Professor Heinrich Többen (1880–1951) in Mün­ster 1935 – Wohnung u. Praxis in Münster, Friedrich­str. 5, 1936–1989
[2] Bernhard Leusder:
Die ärztliche Betreuung im Hause [Priesterseminar] war nicht gerade gut. So machte ich Karl den Vorschlag, wir sollten doch zusammen zu dem Lungen­fach­arzt Dr. Theben gehen, wozu er dann auch bereit war. Dieser stellte eine Kaverne in der Lunge fest infolge einer offenbar schon ziemlich weit fortge­schrittenen Tbc (Seligsprechungsprozeß: 842).
[3] Paula Leisner, Seligsprechungsprozeß: 305

2013_11_09_St.BlasienFürstabt-Gerbert-Haus in St. Blasien
Eröffnung als Lungensanatorium 6.12.1930 – Namensgebung nach Fürstabt Martin II. Ger­bert (* 11.8.1720 in Horb, † 13.5.1793 in St. Bla­sien) – In Erinnerung an den ab 1764 dort täti­gen Abt führte die Stadt Fürstabt-Ger­bert-Tage ein und setzte ihm 1982 im Kur­garten ein Denk­mal.
Auszug aus dem Hausprospekt des Fürstabt-Gerbert-Hauses aus den 1930er Jahren:
Heilanstalt für Lungenkranke
Über der Talsohle des Kurortes gelegen, 826 m über dem Meeresspiegel, eine der mo­dernsten und schön­sten Anstalten Süddeutschlands. Ärztliche Leitung: Dr. med. E. Melzer[1]:, Facharzt für Lungenkranke.
Im Fürstabt-Gerbert-Haus war Karl Leisner zur Aus­heilung seiner Tbc-Erkrankung vom 5.6.1939 bis zu seiner Verhaftung am 9.11.1939, zuerst im Waldsanatorium, auch Wald­haus oder Gartenhaus genannt (10 Betten), dann in Zimmer 201, das vermutlich im 2. Stock an die linke Außenwand grenzte. Damals befand sich bereits ein Lazarett im Lun­gen­sanato­rium. Von 1945–1950 stand das Haus unter französischer Besatzung. Heute heißt es Feld­berg-Klinik.
Ernst Melzer:
Karl Leisner (KL) kam im Frühjahr 1939 in das von mir geleitete Sanato­rium Fürstabt-Gerbert-Haus, St. Blasien, mit einer einseitigen, offenen, kavernösen, rechtsseitigen Oberlappentuberculose; kleinere Herde waren auch auf der linken Seite. Nach etwa einmonatiger Beobach­tungszeit wurde ein rechtsseitiger Pneumothorax[2] angelegt, um die Kaver­ne zu schließen.[3]
[1] Dr. med. Ernst Melzer (* 22.11.1900 in Frankenstein/Schle­sien/Ząbkowice Śląskie/PL, † 10.11.1981 in Waldshut-Tiengen, beigesetzt in St. Blasien) – Chefarzt (Obermedizinalrat) – Facharzt für Lungen­krankheiten im Lungensanatorium Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Bla­sien 1933–1966 – Er behandelte Karl Leis­ner und hat im Seligsprechungsprozeß als Zeuge ausgesagt.
[2] Pneumothorax (Pneu, Pnth)
Bei einer Tuberkulosebehandlung wurde bis in die 1950er Jahre ein therapeutischer Pneu­mo-thorax an­gewen­det. Zwischen den inneren und äußeren Lappen des Brustfells wird Luft eingeführt. Dadurch wird ein befal­lener Lungenflügel ruhiggestellt. Die Lunge atmet weniger, der gesunde Lungenflügel wird vor Infektion ge­schützt, und der Krankheitsherd kann ab­heilen. Nach der Be­handlung wird der Pneumothorax wieder ent­fernt. Eine solche Behandlung war bei Lungenfachärzten üblich, als die modernen Me­dikamente noch nicht zur Verfügung standen. Bei länger bestehendem Pneumothorax kam es oft zu einer gewis­sen Ergußbildung (Exsudat). Bei Karl Leisner war diese, wie die Durchleuch­tungsbefunde aus dem KZ Dachau zeigen, verhältnismäßig groß (Auskunft von Prof. Dr. med. Hans H. Lauer).
[3] Seligsprechungsprozeß: 1451

Krankheitsgeschichte Planegg:
Frühjahr [19]39 vermehrter Husten und Auswurf, grosse Müdigkeit. Ärzt­liche Untersuchung. Feststellung einer offenen Lg.-Tuberkulose. Ende 5. 39 [Mai 1939] Einweisung in das Sanatorium St. Blasien.[1]
[1] Vermutlich hat sich Dr. med. Alexander Theben schon am Dienstag nach Pfing­sten, dem 30.5.1939, um die Einweisung bemüht. Bis die Zusage vom Sa­nato­rium kam, werden einige Tage verstrichen sein; denn Karl Leisner war erst ab 1.6.1939 Patient im Fürstabt-Gerbert-Haus.

Karl Leisner aus Freiburg/Br. am 20. Januar 1940 an seine Familie in Kleve, hier Auszug an seinen Bruder Willi Leisner:
(Noch eins: an Deiner Stelle würde ich mich nach den tollen Anstren­gun­gen der letzten Zeit in Berlin mal gründlich untersuchen lassen[1], wo­mög­­lich mit Röntgenbild (auf irgendeinem städtischen Gesundheitsamt, da ist’s am billig­sten) weißt Du, ich will Dir keine „Flausen“ in den Kopf set­zen; aber viel­leicht hast Du irgendwann mal was von mir [von der Tbc] auf­ge­schnappt. – Und Du weißt ja: durch Überanstrengung geht die Ge­schichte dann los. – Und vorbeugen für 5,00 RM ist billiger als hinter­her 1.000,00 RM und mehr.) Na ja! Halt Dich in aller Zä­higkeit und Fri­sche!
[1] Willi Leisner hatte am 25.11.1939 seine Abschlußprüfung als Ingenieur abgelegt und bekam mit dem Zeugnis am 25.1.1940 die Dienstver­pflich­tung in der Rüstungsindustrie bei Telefunken in Berlin.

In St. Blasien erfuhr Karl Leisner im Fürstabt-Gerbert-Haus eine Behandlung, nach der er im Herbst 1939 hätte entlassen werden können. Er wurde immer wieder geröntgt, um seinen Zustand zu kontrollieren. Aber durch die Verhaftung wegen seiner Äußerung zum Attentat auf Adolf Hitler brach die Krankheit vor allem Im KZ Dachau wieder voll aus, so daß er dort die meiste Zeit im Revier verbrachte.
Auch dort waren , wie es seine Krankenakte belegt, Röntgenuntersuchungen immer wieder angesagt.

Auszüge aus der Krankenakte im KZ Dachau

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Nach der Befreiung aus dem KZ Dachau am 4. Mai 1945 kam er ins Waldsanatorium Planegg. Unter anderem brachte er aus dem KZ drei Röntgenfilme mit.

PlaneggWaldsanatorium Planegg – Errichtung durch den Verein für Volksheilstätten als Lungen­heil­stätte 1896–1898 – Leitung durch die Barm­herzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul (Vinzenti­nerinnen) 1898 bis 30.9.1984 – Seitdem leben dort Schwe­stern im Ruhe­stand. Seit 1997 ist es als öffentliches Altenheim anerkannt. Auf Grund der im Frühjahr 2003 beendeten Generalsanierung genügt es modernsten Ansprüchen. Das Heim, in dem sich Or­dens­schwestern und weltliche Mit­arbeiter die Arbeit teilen, bietet Platz für insgesamt 86 Personen. Karl Leisner wurde dort im Zimmer 76 vom 4.5.1945 bis zu seinem Tod am 12.8.1945 gepflegt.

Planegg, Samstag, 5. Mai 1945
Der Chefarzt [Dr. Bernhard Cramer[1]] kommt schauen. Der Oberarzt Dr. Corman[2] aus Aachen wird mich behandeln. Ehemaliger NDer. Ia! Wie herrlich sich alles fin­det.
Gegen 10.00 Uhr runter im Wa­gen. Durch­leuchtung. Untersuchung. Rönt­genauf­nahme. – Ein feiner Arzt und Mensch [Dr. Wilhelm Corman]. Hat gleich mein volles Vertrauen und Sympathie. – Ich vergehe fast vor Freude und Dankbar­keit.

[1] Dr. Bernhard Cramer (* ?, † ?) – 1945 Chefarzt im Waldsanatorium Planegg
[2] Dr. med. Wilhelm Corman (* 13.12.1910 in Aachen, † 2.6.1982) – Facharzt für Lungen­krankheiten u. Stationsarzt im Waldsanato­rium Planegg ab Novem­ber 1944 – Er sorgte freundschaftlich für Karl Leisner und hat im Seligsprechungsprozeß 1981 als Zeuge ausgesagt.

Aus der Krankheitsgeschichte Planegg:
Seite 5:

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Röntgenbefund:
Film vom 5.V.1945: Die linke Lunge ist durch einen rand­ständigen Sero-Pn­th im Mittel- und Obergeschoß gering­fügig kollabiert; im 1. ICR [Inter­costal­raum, dem Raum in der Höhe zwischen er­ster und zweiter Rippe,] walnuß­große Ca­verne; das UF [Um­feld] ist von exsudati­ven Schatten­her­den besät, auch dort Verdacht auf Ein­schmelzung; Zwerchfell hoch­ge­zo­gen und lateral ver­schwartet. Rechts findet sich in Höhe der 3. v. R. [drit­ten vorderen Rippe] eine unbe­stimmt begrenzte, etwa mark­stück­große Aufhel­lung; im Spitzenge­biet fleck-streif Zeichnung; zahlrei­che klein­fleck Kalk­herdchen.
Ergänzungsdurchleuchtung: Rechts Zwerchfell genü­gend beweglich, links Zwerchfell fi­xiert.
Diagnose:
Doppelseitige, exsudativ-ca­vernöse, durch Sero-Pnth und Thoraxfisteln kom­plizierte Lungentu­berku­lose. Darmtuberku­lose.[1]
5.5.45/241/a.
Röntgen=Aufnahmen:
Drei Filme [aus dem KZ Dachau] mitgebracht.
[1] „Darmtuberku­lose“ ist handschriftlich nachgetragen.

Erstes und letztes Krankenblatt:

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Karl Leisner starb an seiner Krankheit am 12. August 1945.

Krankheitsgeschichte Planegg, Kurverlauf:

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12.8.1945. Morgens 5.45 Uhr erfolgt der exitus letalis [das tödliche Ende]. Todesursa­che ist eine ausgedehnte Lun­gen- und Darmtuberkulose.

 

Karl Leisner war der 27. Patient, der im Jahr 1945 im Waldsanato­rium starb.

Schwester Ir­mengard Mayer trug ins „Rücklaß-Register“ ein:

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Leisner, Karl, kath. Priester, geb. 28.2.15, aus Kleve, Nie­der­rhein, Flan­dri­sche Straße 11, + 12. Aug. 1945, 545, ver­se­hen. Rücklaß [zu­rück­gelas­sene Sachen] erhal­ten: kommt in die Hei­mat

* * * * *

Karl Leisners Freund Alfred Stecken[1], den er im Tagebuch Alfredo Bacculo[2] nannte, arbeitete später als Röntgenologe.
[1] Dr. med. habil. Alfred Antonius Stecken (Deckname Bacculo von baculum (lat.) = Stock) (* 5.1.1918 in Münster, † 6.3.2002 in Hof) – 1945 Münster, Sternstr. 5 – Besuch der Volks­schule in Münster 1924–1928 – Eintritt ins Gymnasium ebd. 1928 – Teilnahme an der Fahrt in die Bockholter Berge u. in die Schweiz 1932 – Inhaftierung durch die Ge­stapo 1936/1937 – Abitur in Münster 1937 – Sprachstudium in Münster – Medizinstudium 1938 – Studienverbot aus politischen Gründen – Sprachstudium in Hamburg 1939 – Ab­schluß­examen in Spanisch u. Englisch – RAD u. Soldatenzeit – Wiederaufnahme des Medizin­studiums nach Verwun­dungen 1941/1942 – Kriegsgefangen­schaft – Staatsexamen 2.2.1947 – Heirat mit Gesa Edel – 3 Kinder – Leiter der Röntgenabteilung der 1. Medizinischen Klinik und Poliklinik an der Humboldt-Universität in Berlin (Cha­rité) September 1955 bis September 1961 – Habilitation 1960 – Flucht in den Westen auf Grund des Mauerbaus 13.8.1961 – Veröf­fentlichungen wissen­schaftlicher Beiträge auf dem Gebiet der kar­diologischen Röntgen­dia­gnostik u. Publi­kati­onen von verschiedenen Studien über Lungen­gefäße – Bis zum Eintritt in den Ruhe­stand arbeitete er als Röntgenologe in Hof.
[2] Vermutlich hat Karl Leisner den Namen verschlüsselt, weil Alfred Stecken 1936/1937 fast ein Jahr von der Gestapo wegen illegaler Jugendarbeit inhaftiert war.

Quelle der nicht ausgewiesenen Fotos: Karl Leisner-Archiv