Karl Leisner und Wilhelm Michels

Wilhelm (Willi) Michels (* 27.7.1913 in Rindern, † 18.3.2004) – 1932/1933 als Oberpri­maner in der gemischten Prima zusammen mit Karl Leisner als Unterprimaner – Studium der Philologie in Münster – währenddessen 1936 wohnhaft Mauritzstr. u. 1937 Katthagen 33 – Verlobung mit einem Mädchen namens Mine – später Oberstudienrat und ab 1971 Studiendirektor am Gym­nasium in Kleve – Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausge­sagt.

 

 

Unter der Überschrift „Wilhelm Michels – gefürchteter Pädagoge“ stellt Norbert Mappes-Niedek im „KALENDER FÜR DAS KLEVER LAND AUF DAS JAHR  2018“ auf Seite 121 unter anderem die Beziehung zwischen Wilhelm Michels und Karl Leisner dar. Der gesamte Artikel trägt die Überschrift „1968 wurde auch am Niederrhein rebelliert – Im Jahr 1968 ging es nicht nur in Berlin und Paris, sondern auch am Niederrhein turbulent zu – zu turbulent jedenfalls, als dass man das Geschehen einfach in Vergessenheit geraten lassen dürfte. Nach fünfzig Jahren sind die damals sehr jungen Akteure fast alle noch am Leben“ (S.110-124)

Kalender_Cover (1)

 

In die Word-Datei von Norbert Mappes-Niedek sind Ergänzungen eingefügt, die den Inhalt noch „bunter“ machen: Der Text von Norbert Mappes-Niedek mit den dazugehörigen Fußnoten ist schwarz, die Ergänzungen von Hans-Karl Seeger sind blau und die dazugehörigen Fußnoten rot.

Wilhelm Michels – gefürchteter Pädagoge
Der einzige Lehrer, der Informationshunger und Debattierlust unter den Jugendlichen aufgriff, war der schon erwähnte Wilhelm Michels. Er tat es aber auf eine besondere Weise. In seine „Politische Arbeitsgemeinschaft“ wurden Schüler persönlich berufen; „Altsprachler“, die Latein und Griechisch statt Englisch und Französisch lernten, genossen den Vorrang. Man traf sich abends in der egalitären Umgebung einer Klever Gaststätte und durfte sich eben damit aus der Masse der Schülerschaft herausgehoben fühlen. Michels organisierte für seine persönliche Arbeitsgemeinschaft sogar eine Reise in die Bundeshauptstadt Bonn. Ganz wie bei Schönfeldt in der Gruftstraße, allerdings schon früher, wurden in dem handverlesenen Kreis die Frühschriften von Marx, das Kommunistische Manifest sowie Hegel und der atheistische Philosoph Ludwig Feuerbach gelesen.
Michels, Jahrgang 1913, war vielseitig interessiert und gebildet. Der aus Rindern stammende Philologe hatte kurz zuvor gemeinsam mit dem Nimweger Peter Sliepenbeek ein reich illustriertes Buch über das „Niederrheinische Land im Krieg“ [1] veröffentlicht, das weite Verbreitung fand. Zwar stehen in dem Buch die militärischen Operationen, die Bombardements und die Fluchtbewegungen im Vordergrund. Immerhin aber dokumentierten sie den Fall des SA-Führers Ludwig Klüttgen, der 1945 in Kranenburg zwei gefangene amerikanische Fallschirmspringer erschossen hatte. Ansonsten sind, wie zu der Zeit üblich, die Namen aller lokalen NS-Größen weggelassen oder geschwärzt. Dass Klüttgen mit Namen genannt ist, liegt an seiner Herkunft aus dem fernen Aachen. Wer genau das Kriegsverbrechen aufgedeckt hat, geht aus dem Buch nicht hervor. An den gründlichen Recherchen jedenfalls hatte der Klever Wilhelm Haas wesentlichen Anteil. Nachher war er verärgert, dass er nur als „Mitarbeiter“ und nicht als Mitautor genannt wurde.
[1] Cover und Titelei
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Ganz gegen die Wahrnehmung der nachgeborenen Generation gehörte die nationalsozialistische Vergangenheit nicht zu den Themen des ADS [Aktionskreises Demokratische Schule]. Tatsächlich wussten wir Jugendlichen kaum etwas darüber, schon gar nichts über die Geschichte der eigenen Stadt oder gar der eigenen Schule. Dass wir in unserer Klasse nicht weniger als drei Enkel des „alten Kämpfers“ und für seine Brutalität berüchtigten zeitweiligen NS-Bürgermeisters Alwin Görlich [1] (von den Gegnern als „Grölich“ verspottet) sitzen hatten, ahnten wir nicht. Wahrscheinlich wussten die Jungen es selber nicht; zum Glück ist keiner der drei dem braunen Großvater nur ansatzweise nachgeschlagen. Geraunt wurde, dass sich der alte Dr. Heinrich Schönzeler[2] den Nazis entgegengestellt hatte, ein schon lange pensionierter Lehrer am Gymnasium, der – über eine Weihnachtsaktion für einsame alte Klever – auch zu jüngeren Schülergenerationen noch Kontakt hielt.

[1] Kleve, Samstag, 20. Mai 1933
Unser Bürgermeister Dr. Stepkes[1] abgesägt! Görlich[2], die Groß­schnauze, als Bonze eingesetzt!
[1]
Dr. jur. Johannes Stepkes (* 9.1.1884 in St. Tönis, † 5.8.1966 in Krefeld) – Bürgermei­ster der Stadt Kleve 14.4.1932 – Beurlaubung 19.5.1933 – Zentrumsmitglied bis 1933 – i. R. 4.1.1934 – Rechts­anwalt in Krefeld 6.6.1934 – Einsetzung als Bürgermei­ster der Stadt Kre­feld durch die Amerikaner 4.3.1945 – Oberbürgermeister ebd. 30.5.1945 – Ober­stadtdirek­tor ebd. 28.2.1946 – i. R. 31.3.1949 – Mitglied der CDU nach 1945
[2]
Alwin Görlich, von den Schülern Gröhlich genannt wegen seines lauten Auftretens als Bürgermeister u. seiner Einfluß­nahme im schulischen Bereich, (* ?, † ?) – Kleve, Mater­bor­ner Allee 97 – Spediteur – als Mitglied der NSDAP kommissarischer Bürgermei­ster von Kleve 22.5. bis 9.12.1933

Link zur NRZ vom 5. Februar 2013 – „Die Straße gehört jetzt der NSDAP“
Kleve, Montag, 22. Mai 1933

Morgens um 9.00 Uhr Zug der Nazis an der Schule vorbei. Der Oberbonze Görlich wird als Bürgermeister eingesetzt. Zur selben Zeit lasen wir Plato: Apologie [des Sokrates]; Kapitel XIX, folgende Sätze, die recht „aktu­ell“ wa­ren: siehe Kapitel XIX, S. 25. Zeile 11 – Schluß.[1]
[1] Platon:
Mir aber ist dies von meiner Kindheit an gesche­hen: eine Stimme nämlich, welche jedes­mal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, – zugeredet aber hat sie mir nie. Das ist es, was sich mir widersetzt, daß ich nicht soll Staatsgeschäfte betreiben. Und sehr mit Recht scheint es mir sich dem zu widersetzen: Denn wißt nur, ihr Athener, wenn ich schon vor lan­ger Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umge­kommen und hätte weder euch etwas ge­nutzt noch auch mir selbst. Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede! Denn kein Mensch kann sich erhalten, der sich – sei es nun euch oder einer andern Volksmenge – tapfer widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetz­wid­riges im Staate zu verhindern sucht: sondern not­wendig muß, wer in der Tat für die Gerech­tigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit er­halten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches (Platon: Des Sokrates Verteidigung Bd. I: 24).
Folgendes Foto aus: Weber, Hildegard (Fotoauswahl). Tausend ganz normale Jahre, ein Fotoalbum des gewöhnlichen Faschismus von Otto Weber, Nördlingen 1987 (Die andere Bibliothek, hg. von H. M. Enzensberger) Nördlingen 1987, S. 58f. könnte einen gewissen Eindruck vom im obigen Tagebucheintrag erwähnten Zug der Nazis an der Schule vorbei vermitteln.

NaziZug1936

 

 

NS-Aufmarsch vor dem Gymnasium in Kleve

 

 

Marienthal, Sonntag, 2. Juli 1933
Walter [Vinnenberg] schlägt eine Fahrt nach Baltrum vor. Dahin geht’s denn auch! [5. bis 19.8.1933] – Die Vorbereitungen werden durchgesprochen. – Mit Spaß und Witz unter­halten wir uns über die nationale Erhebung, die mancherorts wenig erhe­bend aussieht. (Görlichs Brief an W. [? Walter Vinnen­berg] hahaha! etc.!)

Kleve, Montag, 31. Juli 1933
Nach dem Mittagsschläf­chen und der An­dacht mußte Walter [Vinnenberg] bald wie­der los in Rich­tung Heimat [Münster]. Gegen 18.00 Uhr gondelten auch wir Klever unsrer gelieb­ten Heimat­stadt mit ihrem von uns noch ge­liebteren k. [kommissarischen] Bür­germeister [Görlich], dessen wir liebe­voll ge­dacht hatten, zu.

[2]  s. Aktuelles vom 29. September 2015 – Karl Leisners Lehrer Dr. Heinrich Schönzeler

 

 

 

 

 

 

Karl Leisner aus Kleve am Mittwoch, 27. Dezember 1933, an Walter Vinnenberg in Münster:
Die Lehrer sind schon gemäßigter: Herr Dr. Verleger[1] letzter Zeit sogar sehr! (Seine Frau starb vor eineinhalb Monaten, – k. [kom­missa­ri­scher] Bürger­meister Görlich, seine Hauptstütze, ist „abgesägt“[2])
[1] Dr. Wilhelm Verleger, genannt de Geit (Ziege) wegen seines schmalen Gesichtes, mit dem er eine Ziege zwischen die Hörner küssen konnte; zudem trug er einen Kinnbart, (* ?, evangelisch getauft, † ?) – Tod seiner Frau 1933 – Lehrer am Gymnasium in Kleve mit den Fä­chern Deutsch u. Erdkunde – Unterricht in Karl Leisners Klasse ab 1929 – Klassen­lehrer ebd. 1930 – 1927 wohnhaft in Kleve, Brabanterstr. 11 – 1936 Nassauer Allee 23 – Die Schüler nannten seine Wohnung „Geitenhof“.
[2] Sein Nachfolger wurde Karl Puff.
SS-Obersturmführer Karl Puff (* ?, † ?) – SA-Mitglied Mai 1929 – Mitglied der NSDAP Dezember 1929 – zunächst kommissari­scher Bürgermeister von Kleve – ordentlicher Bür­ger­meister von Kleve Dezember 1933 bis April 1936

Karl Leisner aus Kleve am Samstag, 21. Februar 1931, an Walter Vinnenberg in Münster:
Genau in der Fastnachtswoche mußte ich unten in der Kir­che [Unterstadtkir­che] bei Dr. [Bernhard] Peters [in der Messe] dienen.[1]
[1]
Wilhelm Michels aus Kleve am 22.3.1998 an Klaus Riße in Kleve:
Professor Peters las seine Messe um 6.00 Uhr in der Unterstadt, wo ich oft gedient habe. Man mußte eine ganze Woche [dienen]. Mitt­wochs las Peters seine Messe als Schulmesse um 7.15 Uhr in der Stiftskirche, wo wir dann jeweils dienen mußten.

 

Schönzeler, Jahrgang 1888 und damit ein Mann der Großelterngeneration, war nicht links, sondern eher deutsch-national eingestellt. Zumindest anfangs interessierte uns das aber nicht. Sympathie und Respekt genoss von den Erwachsenen jeder, der Jugendlichen überhaupt zuhörte und sich ihren Fragen stellte. Der autoritäre Stil und der elitäre Bildungshabitus der älteren Lehrer luden ebenso wenig zum Dialog ein wie die technokratische, kalt wirkende, demonstrative Leidenschaftslosigkeit der „skeptischen“ Nachkriegsgeneration, zu der die jüngeren Lehrer zählten. Zu den wenigen Erwachsenen, die die NS-Zeit überhaupt erwähnten, gehörte der Tabakhändler Walter Kowal, der in seinem kleinen Laden an der Linde Schülern einzelne Zigaretten verkaufte und offen über lokale „Nazi-Bonzen“ schimpfte. Fragte man genauer nach, zog aber selbst er sich auf Andeutungen zurück. Noch wurde das Tabu von Anhängern, Mitläufern und Gegnern des Regimes gleichermaßen beachtet.

Michels stieß mit seinem Buch über die Kriegsjahre am Niederrhein wenigstens bei der jüngeren Generation entsprechend in ein Vakuum. An der Deutungsmacht, die er sich damit eroberte, hatte er, wie man heute schließen darf, ein sehr persönliches Interesse. Hinweise darauf lassen sich bei Wilhelm Haas‘ Schwager finden, bei Karl Leisner, mit dem Michels am Ende seiner Schulzeit ein Jahr lang in dieselbe Klasse gegangen war.[1] Der Klever Katholik, der 1939 wegen seiner enttäuschten Reaktion auf das Scheitern eines Hitler-Attentats ins KZ kam und 1945 an den Folgen seiner Haft starb, wird in der katholischen Kirche als Märtyrer verehrt und wurde 1996 vom Papst seliggesprochen.
[1]  zusammengelegte Prima am Gymnasium in Kleve
auch „gemischte Prima“ genannt – Wegen der geringen Schülerzahl wurden die Klassen Unter- und Oberprima zu Ostern 1932 zusam­mengelegt. Karl Leisner nannte die Klasse „gemischte I g“.

Beide früheren Klassenkameraden studierten nach dem Abitur in Münster, Leisner Katholische Theologie, Michels Klassische Philologie. Sie schätzten einander wohl, waren aber politisch unterschiedlicher Meinung. „Jetzt fahre ich mit Willi Michels, mei­nem ehemaligen Klassen­kameraden von der Prima kombiniert – all­jetzo hoch­wohllöblicher Student der Philologie in Münster und treuer SA-Mann“, schrieb Leisner unter dem Datum 18. Mai 1934 in sein Tagebuch über eine gemeinsame Zugreise von Münster nach Hause. „Schon bald bin ich mit ihm in ein lebhaftes Gespräch über National­sozia­lis­mus und Katholizismus verwickelt, das sich mit kurzen Unterbre­chungen in erbitterter Schärfe bis Kleve fortsetzt.“ Auseinanderangesetzt haben die jungen Männer sich dem Tagebuch zufolge mindestens drei Mal. An anderer Stelle heißt es: „Ernste Probleme der Zeit – u. doch immer dieselben besprach ich mit ihm. Hartes u. Wahres über Kirche u. Christentum musste ich von ihm hören. Verkalkg., Verneinung des natürl.-triebhaften Lebens, Kulturfeindlichkt., Prüderie, Engstirnigkt. – u. das alles in ernstester Tiefe!“ An Heiligabend 1935 notierte Leisner: „Im Gespräch wird’s lebendig zwischen uns beiden.“[1]
[1] Leisner Tagebucheinträge zu Michels sind entnommen aus Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel (Hg.): Karl Leisner. Tagebücher und Briefe. Butzon & Bercker, Kevelaer 2014, Seite 2157-2164.

Tagebucheinträge

Karl Leisner aus Kleve am Samstag, 21. Februar 1931 an Walter Vinnenberg in Münster:
Genau in der Fastnachtswoche mußte ich unten in der Kir­che [Unterstadtkir­che] bei Dr. [Bernhard] Peters [in der Messe] dienen.[1]
[1] Wilhelm Michels aus Kleve am 22.3.1998 an Klaus Riße in Kleve:
Professor Peters las seine Messe um 6.00 Uhr in der Unterstadt, wo ich oft gedient habe. Man mußte eine ganze Woche [dienen]. Mitt­wochs las Peters seine Messe als Schulmesse um 7.15 Uhr in der Stiftskirche, wo wir dann jeweils dienen mußten.
Münster, Freitag, 18. Mai 1934
In Wesel steigen wir um [in die Box­teler-Bahn] nach Menze­len-West. Jetzt fahre ich mit Willi Michels, mei­nem ehemaligen Klassen­kameraden von der Prima kombiniert – all­jetzo hoch­wohllöblicher Student der Philologie in Münster und treuer SA-Mann.[1] Schon bald bin ich mit ihm in ein lebhaftes Gespräch über National­sozia­lis­mus und Katholizismus verwickelt, das sich mit kurzen Unterbre­chungen in erbitterter Schärfe bis Kleve fortsetzt[2], wo ich merke, daß ich darob in Men­zelen-West [beim Umsteigen nach Kleve] meinen Mantel habe hängen lassen.
[1] Am 23.11.1933 war die gesamte Studentenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit Ausnahme der Theologen in die SA überführt worden. Die Theologen verdankten ihre Situation Bischof Clemens August Graf von Galen. (s. Mattonet, Hubert: Jeder Student ein SA-Mann! Ein Beitrag zur Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in den Jahren 1933 bis 1939, Münster 2008: 65) (zit. Mattonet 2008)
Hubert Mattonet:
Man sah ein, dass der Bischof als der Stärkere aus diesem Streit hervor­gegan­gen war. Die Theologen wurden von allen übrigen Studenten beneidet, die keine Möglichkeit hatten, sich dem SA-Dienst zu entziehen (Mattonet 2008: 73).
[2] Wilhelm Michels aus Kleve am 15.5.1998 an Hans-Karl Seeger:
Karl war 19, ich 20 Jahre alt, beide jung, beide nicht ohne Temperament, da konnte es schon mal hart zugehen. Im üb­rigen war ich gläubiger und prakti­zie­render Katholik, wenn auch nicht ohne Pro­bleme mit meiner Kirche.
Zum SA-Mann: Jeder Student der ersten drei Semester war damals in der SA. Es gab ein SA-Hochschulamt, das das kontrollierte und dessen Beschei­nigung man bei der Immatrikulation im neuen Semester vorlegen mußte. Hätte Karl nicht ka­tholi­sche Theologie studiert, sondern ein anderes Fach, wäre er damals auch in der SA gewesen oder hätte nicht studiert. So einfach ist das.
Am 20.7.1934 wurde mit der Unterschrift von [Rudolf] Heß das SA-Hoch­schulamt aufge­löst. Wir erfuhren es erst bei Beginn des Wintersemesters 1934/35. Von da an konnte man ohne SA studieren.
Zu „treuer SA-Mann“: Woher Karl dieses Attribut genommen hat, weiß ich nicht. Vielleicht trug ich Uniform. Das ist gut möglich, da ich nur einen „Zi­vilan­zug“ be­saß, den ich schonen mußte.
Münster, Dienstag, 26. Juni 1934
12.00 bis 12.15 Uhr mit Jupp Köckemann und Ferdi Pieper „gekallt“ [ge­sprochen]. Dann Walter [Vinnenberg] am Marienoberlyzeum abgeschnappt und mit ihm „mei­nen Fall“ besprochen.[1] – Willi Michels kam zufällig hinzu. Er ist ein guter Kerl!
[1] Zuerkennung der Hochschulreife
Münster, Sonntag, 19. Mai 1935, 4. Sonntag nach Ostern
Um 13.00 Uhr c. t. traf ich mich mit mei­nem lieben Schulkameraden Willi Michels – Rindern, zu fröhlichem Maien­gang durch das Regenwetter. Bei Hegge, Dorotheenstraße, Paket abgege­ben. – Dann los mit W. [Michels]. – Ernste Probleme der Zeit – und doch immer dieselben besprach ich mit ihm. Hartes und Wahres über Kirche und Christentum mußte ich von ihm hören: Verkalkung, Verneinung des natür­lich-triebhaften Lebens, Kulturfeindlich­keit, Prüderie, Engstirnigkeit – und das alles in ernstester Tiefe! – Es gibt nur eins: Die junge Kirche an die Front – und siegen wird der Geist der alles verstehenden, alles über­brückenden herrlichen Liebe. – Laien an die Front! Ganz lebensmä­ßig er­griffene Menschen. – Omnia omnibus[1] der Tiefe un­endlicher Liebesergriffenheit zu Christus. Zwei stille Minuten des Dankes in [St.] Servatii und Bitte um Sieg. – Per glücklichen „Zufall“ kommt Gerd Tosses mit daher und lädt Willi [Michels] mit ein, von 19.30 bis 20.30 Uhr Emils (de Vries) Namenstag mitzufeiern.[2] Prächtige Sitzung. [Jo­hannes] Wahmhoff und Fritz Häfner funken – ebenso Hein Maags [jun.] mit seinem uner­setzlichen „Pastor van Schnorrenbeck“[3] – fröhlichste Heiterkeit freu­di­ger Gotteskinder – keine Prüderie, sondern herzliche Lebensbeja­hung. – Ordens­verteilung an Emil, unsern Frühsportdirektor. Tolle Sache!
Gott Dank – beste Praxislehre für W. M. [Willi Michels]!

[1] Omnia omnibus Omnibus omnia factus sum, ut omnes facerem salvos. (lat.) = Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten (1 Kor 9,22).
[2] Das Fest des Martyrers Emil wird am 22.5. gefeiert.
[3] De Pastor van Schnorrenbeck, Erzählung, (Typoskript o. J. [1935]).
Münster, Donnerstag, 13. Juni 1935
Karten an die BJSF [Bezirksjungscharführer], die nicht da wa­rn betreffs „Juta“ [Jungschartagungen]! 15.00 bis 16.00 Uhr Willi Michels – [Jugendhaus-]Fern­kurs fertig!
Kleve, Dienstag, 24. Dezember 1935, Vigil von Weihnachten
Dann geht’s per rijwiel naar Rinderen [mit dem Fahrrad nach Rindern] zu Willi Michels. Ich komme zu spät, er schreibt grade einen Brief an Jupp Vermeegen. Im Gespräch wird’s lebendig zwischen uns beiden. Er zeigt mir seine feine Madonnenbildsammlung. Ein Madonnenbuch (aus der Reihe der „Silbernen Bücher“[1]) schenkt er zur Weihnacht seiner Donna[2].
Mit frohem Weihnachtsgruß verabschiede ich mich von seiner Mutter, einer starken, herben, bäuerlichen Frau des Niederrheins voll Zähigkeit und Müt­ter­lichkeit. Gemeinsam fahren wir dann zur Stadt. An der Gruft sagen wir uns ade und frohe Weihnacht. Es ist so froh in uns geworden und so kindlich und demütig und hell. – Ach ja, heute ist ja Vigil der Geburt unse­res Herrn! Am Nachmittag wollte ich beichten, es kam aber nicht dazu. Ich be­sorgte für Willi [Leisner] einige Kleinigkeiten und besuchte (zum Kaffee kam ich grade) Dr. [Bernhard] Peters. (Um 14.00 Uhr war ich bei Kaplan [Franz] Demers und verkaufte ihm 45 Weihnachtskarten – sauber!)

[1] Foerster, Otto Helmut: Die silbernen Bücher (Reihe): Niederländische Madon­nen mit 6 Abbildungen im Text und 10 farbigen Tafeln, Berlin: Woldemar Klein Verlag 1938
[2] vermutlich seine Freundin Mine
Münster, Mittwoch, 22. Januar 1936
Feiner Spaziergang mit Willi Michels. (Allerlei: Über Ehe und Jungfräu­lich­keit (was ist „besser“? Canon des Conc. Trid. [Konzils von Trient[1]]) – Theodor Haecker und Katholische Zeitschau – Der Wind weht kalt und frisch um unsere Stirnen. – Nachher noch dreiviertel Stunde auf der Bude im Colle­gium Borromaeum (Laros[2] , Tage­buch, Briefe) zu­sammen.

[1] Das Konzil von Trient bestätigte das Gesetz, daß Kleriker höherer Weihen eheun­fähig sind (sess. 24 c. 9).
[2] Laros, Matthias: Pfingstgeist über uns. Die heilige Firmung als Sakrament der Persönlichkeit, des allge­mei­­nen Priestertums und des apostolischen Geistes hier und heute, Regensburg 1936
Münster, Mittwoch, 29. Januar 1936
Mit Willi M. [Michels] los.
Münster, Mittwoch, 19. Februar 1936
Mit Willi Michels los.
Münster, Montag, 24. Februar 1936, Rosenmontag
Nachmittags mit meinem lieben Konprimaner und Kamerad Willi M. [Michels] los. Den [Karnevals-]Zug betrach­tet. Festgestellt, daß er und das ganze Fastnachtstreiben ins münster­ländi­sche Volkstum nicht reinpaßt. Nach ei­nem kleinen Mißverständnis und Zu­sammenstoß mit dem Hausmeister der Altertumssammlung[1] ziehen wir los nach draußen, lassen uns den Winter­wind um die Backen streichen und spre­chen von griechisch-mykenischer und kretischer Vasenkunst. In begei­ster­ten Schilderungen stellt Willi mir alles vor und erzählt von den Schlüssen, die man aus der Vasen­malerei auf die Geschichte der frühgriechischen Wande­rungen zieht. In tieferen Gesprächen über Natur und Gnade, ihrem Bedingt­sein, ihrem Zu­einanderstehn gelangen wir durch Baumstraßen ins Häuser­meer der Stadt zurück und quetschen uns durch das Getümmel der Menschen. Auf dem Domplatz holen wir uns Süßwerk und Milch und feiern so Fastnacht. Nach­her sitzen wir noch auf Willis Bude in der Mauritzstraße. – Er zeigt mir seine Arbeit über den Begriff „numen“ [Göttliches Wesen]. Froh schauen wir zum Schluß noch seine feine Madonnenbildersammlung an und sehen, wie sich im Bild der reinsten Fraue das Frauenideal der Zeiten wi­derspie­gelt. Mit frischem Mut sagen wir uns ade.
[1] Der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens e.V. bewahrte damals seine Materialien im Landesmuseum am Domplatz auf.
Samstag, 4. September 1937
14.30 Uhr zu Willi Michels [Katthagen 33]. Paff und froh ist er. Spa­ziergang. In [St.] Serva­tii [Anbetung gehalten]. Zu seiner Braut Mine [nach Wolbeck]. Lustig und froh und schön!
Wilhelm Michels aus Münster, Katthagen 33, am 3. Oktober 1937 an Karl Leisner in Georgsdorf:

Lieber Karl!
Für Deine Karte „aus dem Moor“ herzlichen Dank. Du hast recht lange auf Antwort warten müssen. Aber Du weißt, wie das geht. Mine hat jetzt eine neue Stelle angetreten, und ich bin ebenfalls umgezo­gen. Ich habe mich jetzt direkt im Schatten des Kirchturms Unserer Lie­ben Frau von Überwasser [der Überwasserkirche] niedergelassen. Die Wohnung ist schön. – Du, vor 14 Tagen war Willi Schulte-Mattler hier. Wir haben einen sehr schö­nen Tag hier zusammen verbracht. – Was machst Du denn heute an die­sem wunderschönen Sonnentag? Es ist ja schon ein Tag, Ern­tedank zu fei­ern. Gratias agamus Domino Deo nostro! [Lasset uns dank­sagen dem Herrn, unserm Gott![1]] Singen und jubeln möchte ich über alles Schöne, Gute, über alle Gnade, die Gott mir geschenkt. Meine Seele ist so froh. – Die Fotografie des Bischofs [Clemens August Graf von Galen] sende ich Dir zu. – Lieber Karl, nun wün­sche ich Dir für die letz­ten Tage des Arbeitsdienstes noch aus ganzem Herzen alles Gute und sende Dir zu­sammen mit Mine aus der herrlichen Dom­stadt frohe, liebe Grüße in Dein stilles Moor Dein Wilhelm
[1] aus der Einleitung zur Präfation der Eucharistiefeier

Nach seiner SA-Mitgliedschaft befragt, schrieb der schon betagte Michels 1998 an den Leisner-Forscher Hans-Karl Seeger, bei der SA seien damals alle Münsteraner Studenten der ersten drei Semester außer den Theologen Zwangsmitglied gewesen. Die Darstellung trifft offenbar zu.[1] Warum Leisner ihn aber gar als „treuen“ SA-Mann qualifiziert habe, wisse er nicht, schrieb Michels weiter. “Vielleicht trug ich Uniform. Das ist gut möglich, da ich nur einen ‚Zi­vilan­zug‘ be­saß, den ich schonen musste.“ Er sei damals „gläubiger und prakti­zie­render Katholik“ gewesen, „wenn auch nicht ohne Pro­bleme mit meiner Kirche“. Nach dem Tagebucheintrag hatte Leisner aber Michels‘ Argumente und nicht seinen Anzug im Sinn. Tatsächlich trat Michels 1937, noch als Student, sofort nach dem Ende einer umfassenden Aufnahmesperre sogar der NSDAP bei. Gegenüber Seeger verschwieg er das.[2]
[1] Vgl. Hubert Mattonet: Jeder Student ein SA-Mann! Ein Beitrag zur Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in den Jahren 1933 bis 1939. Archivgestützte Erinnerungen eines damaligen Studenten. Münster 200. Seite 65-68.
[2] Laut NSDAP-Gaukartei, Bundesarchiv R 936-IX KARTEI / 28621230 wurde Wilhelm Michels, geb. 27.7.13 in Rindern, am 1.5.37 unter der Mitgliedsnummer 5245240 in Münster in die Partei aufgenommen und meldete sich später um nach Rindern-Schenkenschanz, Adolf-Hitler-Straße 40.

Später, als Lehrer am Gymnasium, war der untersetzte Mann mit dem markanten weißen Spitzbart und der getönten Brille gefürchtet wie kaum ein zweiter unter seinen Kollegen. Im März 1969 brachte der ADS ein „Extrablatt“ mit dem Vorwurf heraus, Michels, aus heute nicht mehr erfindlichen Gründen allgemein „Levi“ genannt, hätte Schüler mehrfach geschlagen. Die Veröffentlichung reduzierte die Faszination, die der Lehrer auslöste, auf ihren Kern: Angst.

Dass Lehrer sich gegenüber Schülern körperliche Übergriffe erlaubten, war nichts Außergewöhnliches; einige verteilten Kopfnüsse, andere warfen mit Gegenständen, manche schreckten auch vor Ohrfeigen nicht zurück. Das wurde nicht als so skandalös empfunden, wie es das heute wäre. Nicht nur die Macht der Lehrer und die Angst der Schüler waren größer, auch das Verhältnis zur Gewalt war noch ein ganz anderes. Dass etwa Jungen sich auf dem Schulhof unter einander prügelten, galt als altersgerechtes Verhalten und wurde nicht unterbunden oder geahndet. Die Schläge, die Michels austeilte, schmerzten aber besonders, denn sie waren von einem schneidenden, verächtlichen Ton begleitet. Wer von „Levi“ gemaßregelt wurde, fühlte sich gedemütigt.

Obwohl Handgreiflichkeiten gegen Schüler bereits verboten waren, schwieg die Schulleitung zu den Vorwürfen. Schließlich berief die SMV zum Thema eine Vollversammlung aller Klassen in die Aula ein, an der als stumme Beobachter einige Lehrer, unter ihnen auch Wilhelm Michels selbst, teilnahmen. Die Atmosphäre war hitzig. Schönfeldt, der mitten in den Abiturprüfungen steckte, bezeichnete Michels in der Versammlung als „Sadisten“. Der Angesprochene hob daraufhin mahnend den Zeigefinger und wies knapp auf die Strafwürdigkeit der Bemerkung hin. In der Sache allerdings stritt er den Vorwurf nicht ab. Auch ein nachfolgender Schulstreik lockte de Haar und die Lehrerschaft nicht aus der Reserve, obwohl das Verhältnis des feingeistigen Direktors zum robusten Michels gespannt war. Ob sich hinter den verschlossenen Türen des Lehrerzimmers Kontroversen abspielten oder ob dort drinnen genauso geschwiegen wurde wie nach außen, ist auch einem der damals jüngeren Lehrer heute nicht mehr erinnerlich.

Widerspruch bekamen die Schüler aber von unerwarteter Seite. Wolfgang Hagen, Student in Wien, hatte im Vorjahr in Kleve das Abitur abgelegt und bei der Feier in der Aula eine bemerkenswerte Rede gehalten. Darin sprach er das „Gespenst in Europa“ an, das, 120 Jahre nach Marxens und Engels‘ Manifest der kommunistischen Partei, nach seiner treffenden Beobachtung wieder umging. Etwas war im Gange, aber niemand in Kleve traute sich, es begrifflich zu fassen; außer dem 19-jährigen Wolfgang Hagen: „Wir stehen an der Front eines interessanten und, wie ich glaube, eminent wichtigen geschichtlichen Prozesses, eines Aufbruches von neuen Kräften, die alte Autoritäten und hierarchische Bindungen, die bisher als unantastbar und selbstverständlich galten, angreifen und in Frage stellen.“ Heute würde man zögern, den Abiturredner als Rebellen zu bezeichnen; er beschreibt und analysiert, will nicht provozieren, sondern wirbt vielmehr um Verständnis und gibt sogar dem Hunger des bildungsbürgerlichen Publikums nach klassischen Zitaten Futter. Aber der Hinweis auf das Gespenst und die Autoritäten reichte schon aus, um Kopfschütteln und hochgezogene Augenbrauen hervorzurufen.[1]
[1] Der Text der Rede kann unter http://www.whagen.de/publications/1968/6845HagenAbiturrede1968.pdf auf Hagens persönlicher Website nachgelesen werden.

Anfang Mai 1969 nun, gut ein Jahr später also, verteilte der junge Ehemalige am Gymnasium Kleve ein Flugblatt und geißelte die ADS-Aktion darin im Ton des SDS als „objektiv konterrevolutionär“. Später begründete Hagen seine Haltung in einem Pegasus-Artikel noch einmal ausführlich. Die Kritik an Michels sei „systemimmanent“, weil nur ein Einzelner damit kriminalisiert werde. Stattdessen sei die Frage zu stellen, warum es im Spätkapitalismus „so sein m u ß, daß Unmenschlichkeiten an der Schule geschehen m ü s s e n !“ Dass seine Intervention als Verteidigung für Michels aufgefasst werden musste, war Hagen offenbar bewusst: „Wo wir damals sehr ausgedehnt Marx/Engels und die folgenden Revolutionstheorien betrieben haben, das war die politische Arbeitsgemeinschaft des Herrn Michels. Drei von den früheren Teilnehmern stehen heute aktiv in der Studentenbewegung.“

Kurz nach dem Streit – und nach Schönfeldts Abitur – löste der ADS sich ein erstes Mal auf. Er sei am „Personenkult“ zerbrochen, so ein Mitglied. Der Vorwurf, „ein großer Teil der ADS-ler sei nur Nachläufer Rolfs [Schönfeldts]“, schrieb der ADS-ler Peter Rosner, entspreche der Realität. Noch im Protest fand unsere autoritäre Erziehung offenbar ihr Spiegelbild. Später im Jahr wurde der „Aktionskreis“ zwar noch einmal neu gegründet, verteilte auch wieder „Infos“, erlangte seine Bedeutung aber nicht wieder. Am Gymnasium dominierten inzwischen ADS-Mitglieder die Schülermitverwaltung und arbeiteten auch an der Schülerzeitung mit; eine parallele Organisation war nicht mehr nötig. In Bonn fand im Oktober 1969 der sogenannte „Machtwechsel“ zu einer sozialliberalen Koalition mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt als Bundeskanzler statt. Kein halbes Jahr später löste der SDS sich auf. Vom AUSS war schon ein Jahr zuvor nichts mehr zu hören gewesen. Auch in Kleve war die unruhigste Zeit vorbei. Nach de Haars Pensionierung leitete der allgemein beliebte Vize-Direktor Fritz Freutel interimistisch das Gymnasium und bemühte sich um Fairness und Dialog. Für Michels hatte die Skandalisierung seiner Methoden keine wirklichen Folgen. Freutel verriet, dass es zu einem Eintrag in die Personalakte gekommen sei. Trotzdem wurde der Oberstudienrat schon 1971 zum Studiendirektor befördert.

Mit der Selbstauflösung des ADS begann eine neue Phase. Wie in den Zentren der deutschen 68er-Bewegung, Berlin und Frankfurt, zerbrach auch in Kleve die bis dahin selbstverständliche Einheit der Protestgeneration. Die Schülerschaft, organisiert in der SMV, hatte erheblich an Selbstbewusstsein gewonnen und ließ sich viel weniger gefallen. Die politisch Aktiven jedoch teilten sich auf unterschiedliche Organisationen mit ganz verschiedenem Geist auf. Die empfundene Einheit von Protest, langen Haaren, Aktionskunst, Rockmusik und Sex war um 1970 unwiederbringlich dahin. Hatten 1968 noch die schlüpfrigen „Sankt-Pauli-Nachrichten“ mit ihren nackten Busen wie selbstverständlich zur linken Szene gehört, waren Porno-Protagonisten auf der einen und Feministinnen auf der anderen Seite nunmehr spinnefeind. Während viele Sanftmut und Gewaltlosigkeit predigten, forderten manche jetzt den bewaffneten Kampf. Antiautoritären standen treue Befehlsempfänger irgendeiner revolutionären Partei gegenüber, und während den einen die Haare bis zum Hintern wuchsen, ließen andere sich einen Fassonschnitt verpassen, um bei der Arbeiterklasse oder bei den albanischen Kommunisten nicht unangenehm aufzufallen. Gerade im grenznahen Kleve hatte zum Komplex aus Protest, Kunst, Rock und Sex auch Haschisch gehört. Einige meiner Gesprächspartner sind um 1970 in die Drogenszene gerutscht, haben Heroin konsumiert und für ihr Leben ein Trauma davongetragen. Kleve hatte auch einige Drogentote zu beklagen, junge Leute, die die Spritze anfangs für ein Instrument der Gesellschaftsreform gehalten hatten. Die anderen haben sich, wie ich in meinen Gesprächen erfahren konnte, an das Jahr 1968 erstaunlich lebendige und präzise Erinnerungen bewahrt.

Aussagen im Seligsprechungsprozeß

Seligsprechung (1)

 

Quelle der nicht ausgewiesenen Fotos: Karl Leisner-Archiv