Kreuzreihe auf dem Heldenfriedhof in Langemark
Foto Wilhelm Haas
Woumen, Donnerstag, 15. August 1935, 13. Tag, Mariä Himmelfahrt
5.30 Uhr raus. – 6.30 Uhr heilige Messe.[1] (Vorher Kakao gekocht, dran geleckt.[2] Gräßliches Hochamt. (Schauderhafter Choralgesang.) Dazu „Kerkpolitie“.[3]) – Nachher Kakao mit Korinthenbrot.
Nach dem Abschiedslied „Auf, du junger Wandersmann“ – auf nach Langemark[4].
10.000 deutsche Brüder gefallen. Ergreifende Stimmung. Kleine Feier mit Lesung und Liedern auf den Gräbern der toten Brüder – Studenten (freiwillig), die dort jung starben. Wofür?
[1] Obwohl der Bauernhof zu Woumen gehört, ging man damals in die näher gelegene Kirche St. Bavo von Merkem.
[2] Wegen des damaligen Nüchternheitsgebotes vor der Kommunion trauten sich die Jungen nicht, vorher etwas zu trinken.
[3] Eine ehemalige Schulrektorin im Altenheim in Merkem, geboren 1908, erinnerte sich, daß in den 1930er Jahren hinten in der Kirche während des Gottesdienstes ein Mann für Ordnung sorgte. Seine bloße Anwesenheit flößte den Kindern und Jugendlichen Respekt ein.
Bei uns ist eine solche Person als Kirchenschweizer bekannt und nur noch selten anzutreffen.
[4] Auf einer Gedenktafel in der Eingangshalle des Soldatenfriedhofs Langemark heißt es:
In den [19]50er Jahren erfolgten im Rahmen der Zusammenlegung aller deutschen Toten des Ersten Weltkrieges in Flandern auf den drei großen Sammelfriedhöfen Langemark, Menen und Vladslo weitere Zubettungen. Fast 25.000 unidentifizierte Gefallene wurden in einem neu angelegten Kameradengrab bestattet, während 10.000 bis dahin in Einzelgrablegen ruhende Gefallene ihre letzte Ruhestätte auf dem ehemaligen Mohnfeld, einer etwas höher gelegenen Terrasse des Friedhofs Langemark erhielten. Auf diesem Friedhof ruhen somit 44.061 deutsche Soldaten des Krieges 1914–1918. 1971 wurden die bislang nur durch kleine Nummern-Steine bzw. Eichenblöcke mit Kupferschildern gekennzeichneten Gräber durch Grabzeichen in Form von liegenden Natursteinplatten mit Namen, Dienstgrad und Todesdatum gekennzeichnet. Im Laufe des Jahres konnten schließlich durch Auswertung von Archivunterlagen 16.940 der im Kameradengrab Bestatteten identifiziert werden. 1984 wurden deren Namen auf 68 bronzenen Tafeln festgehalten.
Karl Leisner hat nur kurze Notizen zur Flandernfahrt gemacht, während sein späterer Schwager Wilhelm Haas ausführlich beschrieben hat, was die 9 Teilnehmer dort erlebt haben[1].
[1] Der Bericht beginnt mit einer Auflistung der Teilnehmer:
- Karl Leisner: Student, Führer, Sanitäter
- Hermann Mies: Student, „Küchenbulle“, Photograph
- Johann Peters: Oberprimaner, Wegweiser, Kundschafter
- Fränz Ebben: Obertertianer, Clown
- Heinz Ebben: Obertertianer, Küchenbullegehilfe
- Urban Peiffer: Quartaner, Küchenbullegehilfe
- Willy [Wilhelm] Haas: Oberprimaner, Butterbrotschmierer
- Gert Paanakker: Untersekundaner, Dolmetscher, Photograph
- Jacques Gilbert: Student, Führer in Brüssel, Dolmetscher
Wilhelm Haas:
Wir fahren weiter – immer durch die flache Gegend mit den vereinzelten Bauernhäusern, mit den gradlinigen Alleen!
Freundliche Flamen zeigen uns deutschen Ehrenfriedhof [in Langemark]. Majestätisch wirkt die Eingangshalle. Wir treten ein. Im Hintergrunde der Halle leuchten die Worte: „Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen.“[1]
Ergriffen und ehrfurchtsvoll stehen wir acht deutsche Jungen da. Links auf einer Steintafel lese ich: „Hier ruhen 6.254 bekannte und 3.780 unbekannte Soldaten. Ihren Kameraden und Kommilitonen die Deutsche Studentenschaft.“ Rechts sind die Namen der Gefallenen in die Holztafeln eingeschnitten – viele Tausende – ein verwelkter Kranz der Deutschen Studentenschaft liegt auf der Erde.
Karl öffnet ein schweres Eisengittertor. Da – Tausende schwarze Kreuze! Still und gedankenvoll schreiten wir durch die endlosen Reihen. Schlicht und einfach, aber sehr wirkungsvoll ist die ganze Anlage. Mitten auf dem Friedhof setzen wir uns hin. Hermann [Mies] liest aus dem klassischen Buch der deutschen Jugend im Weltkrieg „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ [von Walter Flex] vor. Andächtig und gesammelt hören wir zu. Ich nehme mein Fahrtentagebuch und schreibe: „Wir sind auf dem Ehrenfriedhof in Langemark. Hier liegen unsere deutschen Brüder. Sie starben für unser deutsches Vaterland, für unsere Heimat. So wie diese deutschen Studenten will auch ich mein ganzes Leben meine Pflicht erfüllen, meine Pflicht Gott und dem Vaterland gegenüber.
Diese Worte sind im einstigen Felde entstanden. Sie sollen mir heiligste Verpflichtung sein. Ich werde sie behalten, denn sie sind mir aus der Seele geschrieben.“ – Hermann liest noch immer. Man merkt, er ist ganz ergriffen, die anderen sehen stumm vor sich hin.
Mich beseelten schwere Gedanken. Ich dachte an die vielen pflichtgetreuen Soldaten, die hier ihr Leben ließen; dachte über den Sinn des Krieges für ein Volk und für den Einzelmenschen: Wie oft hat ein Krieg die schwülen, faulen Stimmungen verjagt, die fast jeder jahrelang dauernde Friede begünstigte – welche Rettung war er für manchen, aus abstumpfender Häuslichkeit in heilsame Todesnähe entrückt zu werden – wieviele leidenschaftliche – unergiebige Verstrickungen wurden mit einem Schlage gelöst. Wenige brauchen den Ausnahmezustand ihrer Seele, um ihr Bestes in sich aufzufinden – und unzählige wurden durch den Krieg ruhige, charakterfeste Männer, – dachte an die Kriegsbücher. „Sieben vor Verdun“[2] und an Heinrich Zerkaulens Drama „Jugend von Langemarck“[3], die ich kurz vor der Flandernfahrt gelesen hatte. Hier in Langemark wurden sie mir alle Erlebnis.
Hermann bricht ab. – Stille um uns. Dann spricht Karl, unser Führer, von diesen Toten und von ihrem Vermächtnis. Meist waren es junge Studenten und Primaner wie wir. Voll heiliger Begeisterung starben sie für ihr Vaterland. Der Tagesbericht der Obersten Heeresleitung vom 10. November 1914 lautet: „Westlich Langemark brachen junge Regimenter unter dem Gesang „Deutschland, Deutschland über alles“ gegen die ersten Linien der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Diese treue Pflichterfüllung soll uns das Vermächtnis von Langemark sein.“ – Tief ergriffen stehen wir da, die Augen auf die Erde gerichtet. Dann beten wir für unsere toten Brüder. Feierlich erklingt das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ und darauf „Deutschland, Deutschland über alles“. Still gehe ich nochmals durch die Kreuzreihen, pflücke mir von den jungen deutschen Eichbäumen einige Blätter als bleibendes Andenken.
Diese Kämpfer haben das Beispiel eines unerhörten Opfers gezeigt. Langemark ist deshalb Symbol für alle deutschen Kämpfer in Flandern. – Weit breitet sich die Landschaft aus, ganz breit entfaltet sie sich, in unendlicher Ruhe und Stille – und ernst wie die Landschaft ist das Volk, das diese Erde bearbeitet.
Hier marschierten ungezählte Völkerschaften Europas, hier die unabsehbaren Reihen der Kämpfer von 1914 in gleichem Schritt und Tritt. Ihr Lebensweg führte sie über Flanderns endlose Straßen, immer fort, bis sie die Unendlichkeit des Jenseits betraten – die endlosen Reihen sanken in den Tod! War das Massensterben damals nötig? Mir erzählten Mitkämpfer – nein! Lange trauerte Deutschland damals im November 1914 – als ich geboren wurde. Das Massensterben ist durch die vielen Friedhöfe und Gräber in der Erinnerung festgehalten. Einige prunkvolle Totenstätten passen schlecht in den ernsten Charakter dieser Landschaft. Aber sie zeigen, daß die Heimat kein Opfer für die Gefallenen scheute. Große und kleine Friedhöfe wechseln in schneller Reihenfolge – immer neue Gräber, immer neue Kreuze – überall der Tod in Flandern. Wir stehen hier auf dem gefährlichsten Kriegsschauplatz mit im Westen – man spricht ja von der „Hölle von Flandern“. – Tausende liegen hier – Tausende sind nicht genannt, sie ruhen hier als unbekannte Soldaten des großen Krieges. Auf dem Friedhof steht kein Monument, kein Grabhügel, nur diese ewige Reihe schlichter Kreuze. Hier sehe ich zum ersten Male auch Massengräber. – Vor jedem Kreuz steht ein Stein mit der Matrikelnummer des Gefallenen. Gras und Moos haben die Steine schon fast bewachsen. [Am 10.7.]1932 wurde der Friedhof erst eingeweiht.[4]
[1] Schlußzeile einer jeden Strophe des von Heinrich Lersch 1914 geschriebenen Soldatenabschied. Als Gefreiter bedankte sich Heinrich Lersch im Dezember 1916 bei Walter Flex für dessen Buch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“.
Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis, München 1918
[2] Wehner, Josef Magnus: Sieben vor Verdun. Ein Kriegsroman, München 1932
[3] Zerkaulen, Heinrich: Jugend von Langemarck. Ein Schauspiel in drei Akten und einem Nachspiel, Leipzig: Dietzmann-Verlag 1933, 41934. Das zeitgenössische Drama gab es als Schulausgabe.
[4] Haas, Wilhelm: Fahrtenbericht über die Flandernfahrt 1935, (Manuskript): 69–72
Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis, München 1918
In einem Referat, das Karl Leisner 1935 gehalten hat, erwähnt er Langemark und Walter Flex:
Eine äußere Zusammenfassung:
Da bricht der [Erste] Weltkrieg herein, die große Feuerprobe. – Viele junge Führer und Mannen der Wv’s [Wandervögel] – Studenten und junge Arbeiter gehen als Freiwillige zum Heer. Langemark ist der große Aderlaß, aber diese 10.000 gefallenen Studenten und Wandervögel sind ein herrliches Opfer deutscher Jugend.[1]
Eine der schönsten deutschen Kriegsdichtungen schuf einer aus der Jugendbewegung: Walter Flex „[Der] Wanderer zwischen beiden Welten.“ Nach dem Krieg dann bricht der unterbrochene Lebensstrom mit erneuter Kraft auf. Allüberall wieder neues Leben aus den Ruinen.
[1] Anklang an die Heldenverehrung bei Walter Flex
Siehe auch Rundbrief des IKLK Nr. 43 – Februar 2001: Flandernfahrt 1935.