Müngstener Brücke
Die Nationalsozialisten verpflichteten per Erlaß alle Abschlußjahrgänge von Gymnasien zu einem nationalsozialistischen Lehrgang. Vom 11. bis 25. Januar 1934 verbrachte Karl Leisner mit seiner Klasse in einem Gemeinschaftslager interessante Tage im Bergischen Land.
s. auch Aktuelles vom 8. September 2013
Die Schüler wohnten in einem Kreisheim in Reinshagen. Recht bald „eroberten“ sie die Umgebung, teils im Zusammenhang mit Führungen und Besichtigungen, teils auf eigene Faust. Ein Anziehungspunkt war die Müngstener Brücke. So machten sich Karl Leisner und sein Klassenkamerad Jupp Gerlings am zweiten Tag auf, dieses technische Wunderwerk zu bestaunen. Karl Leisner schrieb in sein Tagebuch:
Reinshagen, Freitag, 12. Januar 1934, 1. Tag
Gebet. Mittag. – Nachher mit Jupp [Gerlings] zur Müngstener Brücke. – Es regnet. – Es ist glänzend, an dem technischen Wunderwerk der Brücke seine Sehstudien zu machen. Auf nassen „Schleichwegen“ kommen wir ins Lager noch rechtzeitig zurück, um uns fertig zu machen für den gemeinsamen Marsch zur Brücke. Wir bewundern den herrlichen Bogen immer wieder aufs neue. Über die Steinbrücke[1] gehen wir auf die andre Wupperseite. Auf Wanderwegen wandern wir bis zur nächsten Brücke[2] flußaufwärts, um wieder auf die rechte Flußseite zu gelangen. Über Küppelstein[3] erreichen [wir] hungrig unser Heim, wo der warme Kaffee auf uns wartet.
[1] eine Wupperbrücke in der Ortschaft Müngsten neben der Bundesstraße 229
[2] eine Stahlkonstruktion beim Wiesenkotten
[3] eine Hofschaft nahe der Müngstener Brücke
Reinshagen, Freitag, 19. Januar 1934, 8. Tag
7.30 Uhr raus etc. 8.30 Uhr Kaffee. – 9.30 bis 10.00 Uhr Singen (vier Lieder). Nachher Marsch zur Müngstener Brücke. Durch’s Morsbachtal zurück.
Reinshagen, Sonntag, 21. Januar 1934, 10. Tag
Nach dem Kaffee geh’ ich spazieren. Ich lese die „Junge Front“ (ein sehr interessanter Artikel über den Balkan, den „Wetterwinkel Europas“. – Asien in Rom – etc. – ). Ich treffe Reinshagener Jungens im Alter von 9 bis 13 Jahren. Wir ziehen zusammen los in den herrlichen Sonnenmorgen. In der Nähe von Schloß Küppelstein[1] stehn wir und schauen in das herrliche Tal des Morsbachs und zu den gegenüberliegenden Höhen auf. (Cronenberg[2], Schaberg[3] – etc.) Wir haben auch feinen Ausblick auf die Müngstener Brücke. Die vier hellen Kerlchen [aus Reinshagen] wissen alles!
[1] Eine große romantische Ausflugsgaststätte aus der Gründerzeit (nach 1870), im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört. Heute befindet sich dort das städtische Kinderheim Waldhof.
[2] Die Stadt Cronenberg wurde 1929 nach Wuppertal eingemeindet.
[3] Ortsteil von Solingen
Die Müngstener Brücke ist eine Eisenbahnbrücke über die Wupper zwischen Solingen und Remscheid. Der erste Spatenstich war am 26. Februar 1894, die Einweihung auf den Namen Kaiser-Wilhelm-Brücke am 15. Juli 1897. Die 5.000 Tonnen schwere Eisenkonstruktion hat eine Länge von 500 m, eine Höhe von 107 m und eine Bogenspannweite von 170 m.
Der letzte von insgesamt 950.000 Nieten sei aus Gold gewesen, so erzählt man sich. Die damaligen Kosten von 2.646.386,25 Reichsmark reichten heute nicht einmal für einen Anstrich.