Gewiß hätte er das mit dem heutigen Reformationstag, dem 31. Oktober 2016, beginnende Jubiläumsjahr, in dem sich am 31. Oktober 2017 die Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers zum 500. Mal jährt, mit großem Interesse verfolgt.
Zahlreiche Begebenheiten zeigen seine Offenheit und Weite gegenüber den Protestanten.
Der IKLK fühlte sich bereits bei seiner Gründung vor 40 Jahren dieser Haltung verpflichtet; denn bei der Aufnahme von Mitgliedern gibt es keinerlei Einschränkungen in Bezug auf die Religionszugehörigkeit
Schon als Junge hatte Karl Leisner keine Berührungsscheu vor evangelischen Christen. Viele seiner Freunde waren Protestanten. Am 22. April 1925 kam er auf das Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Kleve und saß dort sieben Jahre neben seinem evangelischen Mitschüler Hermann Ringsdorff.[1] Mit ihm stand er sein Leben lang in Kontakt.
[1] Dr. rer. pol. Hermann Ringsdorff (* 25.3.1913 in Essen/Ruhr, evangelisch getauft, † 14.10.2002) – Er studierte nach dem Abitur zunächst zwei Semester evangelische Theologie in Bonn, wohnte Bergstr. 211 bei Frau Ganter, zusammen mit den Konabiturienten Hermann Mies und Jupp Gerlings, war Universitätsassistent im Fachbereich Altes Testament, promovierte aber auf Wunsch des Vaters zum Dr. rer. pol., um als Verkaufsdirektor die Ringsdorffwerke in Bonn zu übernehmen. 1937 verlobte er sich mit seiner späteren Frau Margot Schloenbach. Im Zweiten Weltkrieg war er Oberleutnant im Kavallerieregiment von Philipp Freiherr von Boeselager (1917–2008), der mit seinen Offizieren dem militärischen Widerstand angehörte.
Hermann Ringsdorff aus Kalkar an Hans-Karl Seeger:
Im Zuge weiterer französischer Maßnahmen, dem aktiven und passiven Widerstand der Bevölkerung an der Ruhr Einhalt zu gebieten, wurde unsere Familie 1923 ins unbesetzte Gebiet ausgewiesen. Mein Vater war als Reichsfinanzbeamter führend im Passiven Widerstand engagiert.
Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat Hermann Ringsdorff 1981 als Zeuge ausgesagt.
Ringsdorff-Werke
Gründung als P. Ringsdorff oHG (offene Handelsgesellschaft) in Essen 1886 – Installation, Wartung u. Handel von elektrischen Beleuchtungs- und Förderanlagen – Beginn der Herstellung von Naturgraphitbürsten 1900 – Übersiedlung nach Bonn 1910 – Dort firmiert das Unternehmen heute als „SGL CARBON GmbH Werk Ringsdorff“ und zählt weltweit zu den führenden Herstellern von Produkten aus Carbon.
Hermann Ringsdorff aus Kalkar am 3. Dezember 1998 im Gespräch mit Hans-Karl Seeger:
Karl Leisner hat mich, den pietistisch erzogenen Jungen, als Schüler gefragt: „Bekreuzigst Du Dich, wenn Du morgens aufstehst?” – „Nein” – „Dann tue es nur!” – „Ich tue es auch heute noch.“ Das Kreuz war für Karl Leisner etwas ganz Wichtiges. Es war so, als wäre in ihm das Märtyrer-sein-Müssen schon angelegt gewesen.
Daß Karl Leisner auch eine gute Beziehung zu anderen evangelischen Klassenkameraden hatte, zeigt sich unter anderem darin, daß einige von ihnen im Seligsprechungs- bzw. Märtyrerprozeß ausgesagt haben, so zum Beispiel:
Dr. med. dent. Otto (Ött) Andrae (* 27.11.1912 in Kalkar, evangelisch getauft, † 1991) – Er wechselte Ostern 1929 von der Rektoratsschule in Kalkar in die Obertertia des Gymnasiums in Kleve und war Konabiturient von Karl Leisner. Er trug als erster aus der Klasse lange Hosen und Schlips, wurde Zahnarzt und übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg die Praxis seines Vaters. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
Karl-Heinz Schulz (* 18.3.1912 in Moers, evangelisch getauft, † nach 1981) – Molkereileiter in Neustadt an der Weinstr. – Im Seligsprechungsprozeß 1981 und Martyrerprozeß 1990 für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.
Als am 3. Februar 1927 die Gruppe St. Werner gegründet wurde, deren Mitglieder zunächst alle aus der Quinta des Gymnasiums in Kleve stammten, waren die ersten Mitglieder alle katholisch, aber sie hatten keine Scheu, mit evangelischen Jungen etwas zu unternehmen.
Karl Leisners ehemaliger Lehrer und Mentor Walter Vinnenberg[1] brachte Karl Leisners Gruppe mit gleichaltrigen evangelischen Jungen zusammen, so zum Beispiel am Sonntag, dem 26. Juni 1932, beim Johannisfeuer.
An Leuten waren da: Die Jungkreuzbundmädchen, die Sturmschar Materborn, die „C.-P.-ler“ [Evangelischen Christlichen Pfadfinder] und wir [vom Katholischen Wandervogel].
[1] Prälat Dr. phil. Walter Vinnenberg (* 8.6.1901 in Lippstadt, † 1.12.1984 in Bocholt) – Priesterweihe 27.2.1926 in Münster – Kaplan in Kleve St. Mariä Himmelfahrt u. Religionslehrer am Gymnasium in Kleve in allen Klassen 1.4.1926 bis Pfingsten 1929 – Außerdem unterrichtete er Hebräisch und Sport und leitete eine religionsphilosophische Arbeitsgemeinschaft. Später unterrichtete er auch Französisch. Er gewann Karl Leisner für die Jugendarbeit und gab den Anstoß zur Gruppenbildung. Mit den Jungen unternahm er zahlreiche Fahrten auch noch nach seiner Tätigkeit in Kleve.
* * * * *
Auf der Gruppenfahrt nach Rügen erwähnt Karl Leisner eine Begegnung mit zwei protestantischen Missionaren.
Hamburg, Donnerstag, 8. August 1929, 6. Tag
Von Lübeck gings nach Bützow. Eine Station vorher stiegen ein protestantischer deutscher und ein indischer Missionar zu uns in den Zug. Der Inder sprach uns allerhand auf tamulisch [tamilisch] vor, was uns der deutsche Missionar übersetzte. Zum Beispiel: Über die indische Schule, über indische Sitten und Gebräuche. Hierbei zeigte der Inder uns viele Bilder und das indische Trinken.
Er trank, wie die Figur zeigt, ohne dabei die Lippen zu berühren und ohne zu „schlabbern“, während der Zug fuhr.
In Bützow mußten wir leider nach Rostock umsteigen, während die beiden protestantischen Missionare weiter nach Güstrow fuhren. Wir verabschiedeten uns herzlich von ihnen.
Im November 1929 freute er sich sehr über den „Brückentag“ auf Grund des Reformationsfestes.
Kleve, Donnerstag, 31. Oktober bis Sonntag, 3. November 1929
Kleine Ferien – Fein!
Dieses Jahr hatten wir es sauber. Am 31.10. war Reformationsfest der Evangelischen, am 1.11. Allerheiligen, am 2.11. Allerseelen (Eigentlich kein Feiertag. – Doch diesen Tag bekamen wir an den Weihnachtsferien abgezogen.) und am 3.11. war Sonntag. So hatten wir vier Tage frei! „Ia“!!
Zum Osterfest 1932 machte er folgenden Eintrag in sein Tagebuch:
Kleve, Sonntag, 27. März 1932, Ostersonntag
Auferstehungsfeier katholisch und protestantisch
Im Mai 1932 fand er mit seiner Jugendgruppe auf dem Weg zum Bundestag des Katholischen Wandervogels in Marienthal bei Wesel eine Übernachtungsmöglichkeit bei einer evangelischen Familie.
Monreberg, Freitag, 13. Mai 1932, 2. Tag
Auf der Landstraße irrten wir von Kilometer zu Kilometer weiter auf der Suche nach einer Lagerstätte. Auf gut Glück bogen wir irgendwo ein und sahen eine feine Obstwiese. Ich geh’ fragen. „Ja sicher, gerne!“
Also los, Affen runter! Willi und ich schlagen das Zelt auf. – Den Tee kocht die Bauersfrau [Änne Sons]. Ich helfe mit und komme mit der Großmutter ins Gespräch. Ich hatte schon vorher an einem Wandkalender gesehen, daß die Familie protestantisch war. Wir redeten über die Gefahr des Bolschewismus und wie wir Christen beider Kirchen uns dagegen stemmen sollten. Ich erzählte der Frau so allerhand von den katholischen Jugendverbänden. Aus dem ganzen Leben konnte man das echtfromme Wesen der Familie erkennen. Jawohl, es gibt gute Christen in beiden Kirchen! (Leider auch schlechte!) – Nach dem warmen Tee schliefen wir auf Decken, die wir noch bekamen, und nach dem anstrengenden Tag großartig. Willi[1] pennte mit Fränz [2] auf den Spänen in der Schreinerwerkstatt.[3]
[1] Wilhelm (Willi) Josef Maria Antonius Leisner (* 9.5.1916 in Goch, † 24.8.2010 in Berlin) – Am 22.4.1934 übernahm er von seinem Bruder Karl das Amt des Bezirksjungscharführers. Er bekam am 25.1.1940 die Dienstverpflichtung in der Rüstungsindustrie bei Telefunken in Berlin. Im Seligsprechungsprozeß 1981 und Martyrerprozeß 1990 für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.
[2] Franz (Fränz) Ebben, genannt Schluff wegen Gehbeschwerden durch Blasen auf einer Wanderfahrt, (* 20.10.1920 in Kleve, † 30.9.1994 ebd.) – Nach der Volksschule besuchte er die Höhere Landwirtschaftsschule in Kleve und wurde kaufmännischer Angestellter. Er gehörte zu der von Karl Leisner geführten Gruppe und hat am Pfingstlager 1932, an der Fahrt in die Bockholter Berge 1932, der Baltrumfahrt 1933, der Pfingstfahrt 1934 und der Flandernfahrt 1935 teilgenommen. 1940/1942 war er als Soldat in Norwegen und bis 1948 in russischer Gefangenschaft. Dort erhielt er Anfang 1945 einen Brief mit einem Primizbild von Karl Leisner. Später arbeitete er in der Molkerei Wöhrmann zwischen Kalkar und Marienbaum und war im IKLK lange Jahre als Beisitzer tätig. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
[3] Die Jungen übernachteten bei Familie Wilhelm Sons/Bernhard Hardacker, Kleinbauern in Obrighoven-Lackhausen, Löhrhof 69, mit einer kleinen Schreinerei. Das Haus hat sich seit 1932 kaum verändert, die Schreinerei gibt es jedoch nicht mehr. Magdalene Lause, geb. Hardacker (*27.11.1920, † 27.6.2009) erinnerte sich an einen Jungen (Willi Leisner), der eine Behinderung an Hals und Rücken hatte. Sie besaß noch das Foto, das Karl Leisner an Familie Wilhelm Sons geschickt hatte.
Familie Wilhelm Sons/Bernhard Hardacker aus Wesel am 31. Dezember 1933 an Karl Leisner in Kleve:
Herzlichen Segenswunsch zum Jahreswechsel sendet Ihnen, sowie Ihrer Gruppe, Familie W. Sons und B. Hardacker. Herzlichen Dank für Ihren Weihnachtsgruß. Kämen Sie mit Ihrer Gruppe noch mal in diese Gegend, würden wir Sie gerne wieder aufnehmen.
Wesel, Samstag, 14. Mai 1932, 3. Tag
Um 7.00 Uhr raus! Die Bauersfrau [Änne Sons] kochte uns Griespapp. So konnten wir uns nach dem Zeltabbruch sofort an den „gedeckten Tisch“ setzen. Nachher machten wir obenstehende Aufnahme. Wir bedankten uns und zogen los.
* * * * *
Auf der Gruppenfahrt nach Baltrum erlebte Karl Leisner zum ersten Mal Diaspora.
Emden, Montag, 7. August 1933
Um 6.30 Uhr stehn wir auf, während Walter [Vinnenberg] im fast ganz evangelischen Emden nach einer katholischen Kirche sucht, um die Messe zu lesen. – Wir machen uns fertig und packen unsre Sachen. Um 7.50 Uhr ist endlich der „Morgenpapp“ für uns fertig. Wir beten und essen. Um 8.15 Uhr heißt’s „Opstappen!“. Es eilt, wenn wir noch die Fähre nach Baltrum bekommen wollen. […] Wir fahren und trampeln, als ob wir meersüchtig wären. Ab und zu kommen wir durch Dörfer. Eins heißt Marienhafe. Es hat zwei mächtige Kirchen aus Backsteinen erbaut gegen die starken Winde, die vom Meere her wehn. Marien-Hafe! In ganz protestantischer Gegend ein Name, der uns an die Muttergottes, an die katholische Zeit erinnert.
* * * * *
Während seiner Exerzitien in ’s-Heerenberg notierte er am 8. Dezember 1933:
Ich bedaure aufs tiefste die Streitigkeiten in der Kirche unsrer getrennten Brüder in Christo – der Protestanten – , die sich in den letzten Wochen zugetragen. [1]
[1] Nach einem Brief von Walter Stempel aus Wesel vom Oktober 1997 an Hans-Karl Seeger:
Es handelt sich vermutlich um die generellen Auseinandersetzungen, die damals theologisch und kirchenpolitisch in der Evangelischen Kirche in Preußen und in ganz Deutschland stattfanden. Es war kein Kampf der Evangelischen Kirche gegen den Staat, sondern ein innerhalb der Kirche entbrannter Kampf um den vor Gott verantworteten Weg der Kirche in dem sich zunehmend totalitärer gebärdenden Staat.
1933 überwog bis Mitte Juni im Protestantismus in Deutschland die Zustimmung zum nationalen Aufbruch und zum Ende der Weimarer Republik. Durch die staatlich begrüßte und unterstützte allgemeine Kirchenwahl am 23.7.1933 kam es auf allen Ebenen zu einer Mehrheit der „Kirchenpartei“ der Glaubensbewegung „Deutscher Christen“, die weltanschaulich dem Einheitsprinzip und dem Führer- und Gehorsamsprinzip der NSDAP nahestand und eingebunden war. Sie betrieb sofort die organisatorische Umbildung der Kirchen und ihrer Leitungsorgane. Dagegen gründete Martin Niemöller, Pfarrer in Berlin, am 21.9.1933 den Pfarrer-Notbund. Damit begann die Bildung der „Bekennenden Kirche“, der sofort ca. 2.300 Pfarrer in Deutschland beitraten, ⅛ aller Pfarrer. Im Rheinland hatte die (letzte) ordentliche Synode am 23./24.8.1933 zum Beispiel spontan mit dem Singen des Horst-Wessel-Liedes geschlossen!
In Preußen, in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, zu der auch das Rheinland gehörte, wählte man am 5.9.1933 den Pfarrer aus Königsberg, Ludwig Müller, zum preußischen Bischof, noch im gleichen Monat wurde er „Reichsbischof“, genannt „Reibi“.
Am 13.11.1933 stellten sich die „Deutschen Christen“ bei der Sportpalast-Kundgebung in Berlin mit der Forderung nach der Abschaffung des Alten Testamentes bloß. Sie verloren viele Anhänger. Zwischen ihnen und der „Bekennenden Kirche“ fand sich zunehmend eine kirchenpolitische Mitte, die sich gegen jede Politisierung der Kirche wandte und die Wahrung der Eigenständigkeit der kirchlichen Organe zum Ziel setzte.
Im Dezember 1933 war der Kirchenkampf im vollen Gang, die Evangelische Jugend war zum größten Teil in die Hitler-Jugend überführt worden. Den Pfarrern, die kirchenpolitische Auseinandersetzungen führten, drohte man Amtsenthebung an.
Die Evangelische Kirche war organisatorisch, kirchenpolitisch und theologisch in drei Gruppen zerbrochen: „Deutsche Christen“, „Bekennende Kirche“ und Mitte. Jede einzelne Gemeinde und jede Landeskirche suchte für sich einen Weg.
* * * * *
Auch während seines Theologiestudiums setzte Karl Leisner sich mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Offenheit mit anderen Glaubensrichtungen auseinander.
Münster, Freitag, 11. Mai 1934
9.00–10.00 Uhr Schreiber[1]: Über die „Reformationszeit“. Sehr aufschlußreich und blickweitend. Es gibt nicht nur eine protestantisch-evangelische Reformation des 15./16. Jahrhunderts, sondern auch eine katholische. Aus Urkräften des katholischen Gedankengutes bricht neues Leben aus den Elitekreisen der italienischen Bruderschaften hervor. Das Wort „Gegen-Reformation“ fälschlich von einer rein protestantischen Geschichtsschreibung geprägt, die lange nicht unsere modernen Quellenstudien kannte. Selbst der große Ranke[2] da noch „rückständig“.
[1] Prof. Prälat Dr. phil. Dr. theol. Georg Schreiber (* 5.1.1882 in Rüdershausen, † 24.2.1963 in Münster) – Priesterweihe 7.4.1905 in Hildesheim – Professor für Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1917–1935 u. 1945–1951
Prof. Georg Schreiber hielt im SS 1934 am Donnerstag und Freitag eine Vorlesung über „Kirchengeschichte des Reformationszeitalters“.
[2] Prof. Franz Leopold von Ranke (* 21.12.1795 in Wiehe, † 23.5.1886 in Berlin) – Historiker – Er erblickte in der Geschichtsforschung einen „Weg zur ahnenden Erkenntnis des göttlichen Wirkens“.
Münster, Donnerstag, 17. Mai 1934
Schreiber äußerst tief Geschichte lehrend. Das ist doch was anderes als das Getöne mancher protestantischen, geistig antiquierten Geschichtsbücher! Hei, katholisches Leben!
Im Kollegheft zu Professor Georg Schreibers Vorlesungen findet sich keine zeitliche Zuordnung der Diktate über die Kirchengeschichte des Reformationszeitalters. Daher ist im Folgenden die gesamte Mitschrift wiedergegeben.
image
georgschreiber
* * * * *
Zum Hören kam das vertiefende Lesen. Karl Leisner hatte keine Scheu, in evangelischen Schriften zu stöbern, wozu man damals noch eine eigene Erlaubnis brauchte.
Münster, Samstag, 23. November 1935
Um 11.05 Uhr nach „Rücker“[1], wo wir im Lesesaal [Universitätslesesaal am Domplatz] herumpendelten – feine Neuentdeckungen. Unter anderem in der evangelischen [Schülerzeitschrift] Jungwacht [November-Nr. 1935] (vom CVJM [Christlichen Verein Junger Männer]) der Spruch: „Siegen kommt nicht von Liegen!“
[1] Prof. Dr. theol. Dr. phil. Adolf Rücker, genannt Purim, von רופ pur (hebr.) = Los, Plural םירופ purim, (* 26.5.1880, † 13.11.1948) – Priesterweihe 23.6.1906 – Priester im Erzbistum Breslau/Wrocław/PL – Professor für Kunde des christlichen Orients, alte Kirchengeschichte u. christliche Archäologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1928–1948
Münster, Diesntag, 26. November 1935
Ich probiere einmal statt Kollegs Privatstudium im Lesesaal. ([Johann Peter] Kirsch [1861–1941] „Kirchengeschichte“ – Zeitschriften (evangelische Theologie) (aus allem spüre ich die gewaltige Sehnsucht nach Gott und zur einen heiligen Kirche. Wieviel Schönes steht und wächst auch bei den getrennten Brüdern!)
* * * * *
Mit Hermann Ringsdorff hatte er ein ökumenisches Gespräch.
Kleve, Donnerstag, 2. Januar 1936
Mit Hermann plaudere ich morgens über Theologie. Er zeigt mir ‘ne gute Bibelkunde von seinem Professor Thilo, der neben seinem Professorat noch ‘ne praktische Pfarrstelle hat.[1] – Abends spazieren wir zusammen bis Donsbrüggen, und er erzählt mir vom Leidensweg der evangelischen Kirche, der bekennenden Brüder [in der Bekennenden Kirche]. Im Gespräch ist christliche Höhe und Brudersinn.Furchtbar beschämend diese Dinge, die er mir erzählt von seiner Kirche. – „Ach – hätten wir doch christliche Einheit.“ Das ist mein Denken. Aber nur in christlicher Liebe und im Leiden der Zeit, die so groß und schwer ist, wird sie kommen. Unsere Generation ist der Samen, der sterben muß.[2] Ich glaube, es kommt durch uns und nach uns die Einheit. Das ist unsere Lebensaufgabe: christliche Gaben der Liebe bringen für das Werk der Einheit im Glauben. – Es beginnt zu regnen. Fest und froh, in herrlicher Laune verabschieden wir uns – beide einmal, so ist unser Hoffen, Priester nach dem Herzen Gottes.
[1] Thilo, Martin: Alttestamentliche Bibelkunde. Ein Handbuch für Bibelleser, Stuttgart 1935
Prof. Dr. theol. Emil Martin Thilo (* 23.6.1876 in Borgholzhausen, † 14.3.1950 in Eitorf) – Pfarrer – Privatdozent für Altes Testament an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
[2] Karl Leisner dachte vermutlich an das Gleichniswort vom Weizenkorn (Joh 12,24) oder auch an den Satz von Tertullian „Semen est sanguis Christianorum – (lat.) = Samen [neuer Christen] ist das Blut der Christen [der Martyrer]“.
Karl Leisner am 28. Dezember 1936 an Walter Vinnenberg:
Hermann[1], unser stud. paed. [Student der Pädagogik], wird Dir ja auch „tropfenweise“ aus seiner Arbeit schreiben. Er wohnt mit zwei Conabiturienten zusammen.[2] Hermann Ringsdorff kennst Du ja davon. In den Weihnachtstagen trafen wir uns. Er leidet stark unter den bösen Verhältnissen im deutschen Protestantismus. Adam’s „Wesen des Katholizismus“[3] studierte er damals grade im Vergleich zu Heim’s „Wesen des Protestantismus“[4]. Bei allem Elend und aller getretenen Freiheit (manchmal möcht’ ich Eierbomben schmeißen!) ist’s doch fein, daß wir Christen uns langsam innerlich näher kommen. Und vielleicht – Gott weiß es – ist das der tiefste Sinn dieser elenden Zeit heute, daß wir uns zum Corpus Christi mysticum [Mystischen Leib Christi] durchleiden, zu der so heißersehnten Einheit der Kirche.
[1] Karl Hermann (Manes) Joseph Mies (* 27.4.1915 in Kleve, † 27.1.1984 in Goch) – Klassenkamerad von Karl Leisner in der Volksschule Mittelstadt u. am Gymnasium in Kleve –Mitglied der Jungkreuzbundgruppe St. Werner – Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
[2] Hermann Mies, Hermann Ringsdorff und Josef Gerlings wohnten in Bonn, Burgstraße 211, bei Frau Ganter.
[3] Adam, Karl: Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 81936
[4] Heim, Karl: Das Wesen des evangelischen Christentums, Leipzig 1926
* * * * *
Auch im Reichsarbeitsdienst, den Karl Leisner vom 1. April bis zum 23. Oktober 1937 in Sachsen und im Emsland ableistete, zeigt sich seine ökumenische Offenheit. Gleich zu Beginn bekam er einen Eindruck vom Leben in der Diaspora.
Oschatz, Samstag, 3. April 1937
An der Kapelle treffe ich den Hochwürdigen Herrn Pfarrer Gewinner[1] – wie abgepaßt. „Mit üblichem Schwein“, schrieb ich heim. […] Wir sind gleich Freunde. Los geht’s gleich mit dem kleinen DKW älteren Modells: Aber den König tragen wir bei uns in unserer Mitten im allerheiligsten Sakrament. Ihn dürfen wir zu stiller Fahrt begleiten. Er will zu einer Kranken in den Offizierswohnungen der Luftwaffe. – 10.00 Uhr zur Gräfin (von Harbuval)-Chamare „Konvertitenunterricht“. Ich bleibe bis 12.30 Uhr in der Stadt (Trampkarte, Generalstabskarte von Oschatz und Umgebung besorgt, Kirche [St. Aegidien] angeschaut: Erinnert noch an die große katholische Zeit in vielem […]) 12.30 Uhr Mittagessen bei der Gräfin und ihrem Gemahl, dem Rittmeister an der Remonten-Schule. – Feine Kultur beim Essen. – Rundfahrt nach Strehla. Vasen für die Kapelle geholt. Wir schmücken das schöne Gotteshaus, das aus einem alten zerfallenen Tanzsaal hergerichtet wurde. – Bei der Familie, die den Schlüssel verwaltet, sind wir zu Kaffee und Mohnkuchen eingeladen, der mir schlecht bekommt. Ganz „internationale“ Gesellschaft. – Kinder aus Haarlem, deren Eltern Heilsarmisten sind, zu Besuch. Der alte Opa ist evangelisch. – Echt Diaspora! – Um 17.30 Uhr – nach dem Beten des Kreuzwegs – starten wir nach Dahlen. 18.00 Uhr Abschied voneinander.
[1] Maximilian (Max) Gewinner (* 8.2.1901 in Kronach/Oberfranken, † 3.1.1986) – Abitur am Gymnasium in Passau – Theologiestudium in München u. Innsbruck/A – Eintritt ins Priesterseminar in Schmochtitz (Diözese Meißen) – Priesterweihe 1.2.1931 – Pfarrvikar in Hubertusburg u. Oschatz 1934–1938 – Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
Dahlen, Mittwoch, 7. April 1937
Rühl Trupp 6, Abiturient, gut evangelisch, lerne ich kennen. Ein feiner bescheidener Mensch. (Schwarzer Schmaler). […]
Vom Dienst weg läßt der Chef [Oberstfeldmeister Walter Franz] mich in die Kantine holen. Dort sitzt er mit dem Dahlener Ortsgruppenleiter, einem Forstmeister. – Ein zweistündiges Gespräch entspinnt sich. Man will mich aushorchen. „Was halten Sie von konfessioneller Schule? Judenfrage?[1] Kirche und Staat etc.“ Ich gebe ehrlich und freiweg ohne jede Hemmung Bescheid. – Etwas zu sehr will ich imponieren und lasse mich dadurch zu weit aus. Die Klugheit und das Maß fehlen noch. – Sonst ist’s wohl recht geworden. Über Gefängnis[2], Erbsünde wird Tf. [Truppführer] Kowzak, ein gekippter evangelischer Theologe[3], dazugeholt. – Fm. [Feldmeister Thilo] Riemer mischt sich näselnd ein. – Sonst war’s urgemütlich und bequem, das Abendessen kriegte man serviert und guten Trank dazu. – Der Chef hat mich seitdem aber nie mehr kommen lassen. Er hatte, scheint’s von einem Mal genug. Und um ruhiges, ehrliches, gemeinsames Wahrheitssuchen war’s ihm ja nicht zu tun. – Er wußte wohl, was er an mir hatte, und das war gut so.
[1] Dies ist die einzige Tagebuchstelle, in der Karl Leisner die Juden erwähnt. Familie Leisner kaufte noch in jüdischen Geschäften, nachdem dies bereits verboten war.
Hermann Ringsdorf aus Kalkar am 25.9.2001 an Hans-Karl Seeger:
Als er [Karl Leisner] 1936/1937 von Willi Joosten einmal auf das Judenproblem angesprochen wurde, antwortete er: „Du hast doch im Geschichtsunterricht gelernt, daß die Gottesmutter eine Jüdin war. Was sollte ich gegen sie und ihr Volk haben?“
[2] Vermutlich dachte Karl Leisner an die Unbefleckte Empfängnis Mariens, auf Grund derer die katholische Kirche Maria als ohne Erbsünde empfangen verehrt.
[3] Einen Theologiestudenten, der sein Studienfach gewechselt hat, bezeichnet man als gekippten Theologen.
In gleichgesinnten Kameraden wie Franz Schöndorf[1] und dem Protestanten Walter Flämig[2] fand Karl Leisner gute und engste Freunde. Sie finden in seinen Tagebuchnotizen mehrfach Erwähnung.
[1] Dr. phil. Walter Flämig (* 8.10.1918 in Eilenburg, evangelisch getauft) – Abitur u. RAD 1937 – dort intensiver Kontakt mit Karl Leisner – Soldat im Zweiten Weltkrieg – Einsatz im Polenfeldzug – Verwundung in Rußland – Studium der Germanistik, Geographie u. Philosophie in Leipzig 1942–1945 – Staatsexamen 1946 – Oberstufenlehrer am Gymnasium 1946–1953 – Er erkrankte an Lungen-Tbc, wurde mit einem Pneumothorax behandelt, durfte aber nach seiner Gesundung den Lehrerberuf nicht mehr ausüben. Von 1953–1959 arbeitete er mit zwischenzeitlicher Promotion 1957 als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Leipzig. Anschließend war er bis zur Emeritierung 1983 wissenschaftlicher Arbeitsgruppenleiter an der Akademie der Wissenschaften in Berlin.
[2] Franz Schöndorfs Schwester Agnes Schöndorf-Zemann aus St. Ingbert, Kohlenstr. 24, an Hans-Karl Seeger:
Franz Schöndorf (*als Sohn eines Schmiedemeisters 22.1.1918 in St. Ingbert, † an den Folgen einer Infektion als Assistent bei einer Operation 9.9.1944 im Reserve-Lazarett in Stettin/Szczecin/PL) – 1937 guter Kamerad von Karl Leisner im RAD – Gaugraf im ND – zwei Jahre Studium der Theologie in Eichstätt für den Priesterberuf – Medizinstudium mit dem Ziel Hirnspezialist – Sein Vater wäre wegen einer Äußerung gegen Hitler fast ins KZ Dachau gekommen, wenn sich der Bürgermeister von St. Ingbert nicht für ihn eingesetzt hätte.
Dahlen, Dienstag, 13. April 1937
Am Abend (es kann auch morgen oder übermorgen gewesen sein) halten die andern „Saufabend“. Franz S., Walter Fl. und ich – uns wird’s zu doof – wir schleichen uns hinter die Kammer mit Klampfe und Schifferklavier.[1] – Mondnacht – Jugenderinnerungen. Unser Ideal – Freundschaft – Singen: Das feinste Erlebnis! Wir drei haben uns beglückt gefunden. Wir halten eine geistige Linie im Trupp hoch. Die Mistviecherei hört auf! – Das Triumvirat beginnt. Faktum est! [Es ist Tatsache!]
[1] Ein Arbeitsmann aus einem anderen Trupp spielte das Schifferklavier.
Walter Flämig aus Leipzig am 12. Mai 2008 an Hans-Karl Seeger:
Als junger unerfahrener Abiturient war mir die Freundschaft erfahrener Studenten besonders wert. Die Gespräche und Diskussionen „hinter der Baracke“ haben mir die öde Zeit im Moor sehr erleichtert. Nach unserer Entlassung habe ich keine persönlichen Kontakte mehr gehabt – außer der Todesnachricht von Franz Schöndorf.
Von der Seligsprechung Karl Leisners erfuhr ich durch die Presse, und ich durfte wohl annehmen, daß es sich um „unseren“ K. L. handelte. Aus der gleichen Quelle habe ich erfahren, daß Papst Johannes Paul II. Karl Leisner zum Märtyrer erklärte. […]
Daß Karl Leisner angenommen hatte, ich wollte Theologie studieren, mag mit meinem allgemeinem „theologischen Interesse“ zusammenhängen, das ja in unseren gemeinsamen Gesprächen immer wieder deutlich wurde. […] Außerdem bin ich evangelisch getauft, allein daraus könnte man eine mehr „lutherische“ Einstellung erwarten. Gerade darin sehe ich das „spannende Element“ in unseren Emsland-Diskussionen.
Karl Leisner aus Dahlen am 24. April 1937, an Walter Vinnenberg in Coesfeld:
Grüß Gott, lieber Walter!
Nun sollst Du endlich von mir aus dem RAD hören. […]
Der „tonus moralis“ [moralische Ton] unter den Kameraden ist oft „sub omnibus canonibus“[1], aber es gibt auch einige feine Kerls unter dem allgemeinen Schlamm, den ich in solcher Niedrigkeit und Verbreitung nicht für möglich gehalten hätte. Was entbehren doch diese armen Kerls. Sie haben ja oft eine derart katastrophale „Erziehung“ erhalten. Im Protestantismus Sachsens hat’s doch arg flau gegangen. So Mischung zwischen Himbeerwasserchristentum und Katholikenhetze. Die Vorurteile und Greuelmärchen über die Kirche sind oft direkt zum Kranklachen, wenn’s nicht so ernst wäre. Aber es gibt auch Suchende drunter. Und das macht froh.
[1] Diese Redewendung ist abgeleitet vom lat. Substantiv canon = Regel, Norm, Richtschnur, bedeutet „unter aller Kritik“ und hat folglich keinerlei Bezug zu Kanonen.
Georgsdorf, Dienstag, 22. Juni 1937
Coll. rel. con 2 camerati pr. [Colloquium religiosum cum duobus sociis protestantibus – Religiöse Gespräche mit zwei protestantischen Kameraden.] – Fein! Wiedervereinigung im Glauben! – Dafür alles opfern!
Georgsdorf, Donnerstag, 15. Juli 1937
So ‘ne Sache. Wie im Nu schon neun Tage verstrichen. Ich streiche (Kammer, Speisesaal, Türen). Das Türenstreichen mit Walter oder Franz ist ganz feine Sache! Colla. [Colloquia – Gespräche].
Georgsdorf, Dienstag, 3. August 1937
0.00 bis 2.00 Uhr mit Walter auf Streife. Feines Gespräch über innere Haltung, über religiöse Duldung etc., heutige religiöse Situation und Methode. Fein! Exempla circa nos. [Beispiele um uns herum.]
* * * * *
Karl Leisner traf auch auf eine ungewöhnliche Gemeinde mit einem ihm außerordentlich sympathischen Pastor, dem evangelisch-altreformierten Pfarrer Egbert Kolthoff[1], der ihn sehr beeindruckte.
[1] Egbert Kolthoff (* 6.1.1870 in Bunde, † 16.3.1954 in Veldhausen) – evangelisch-altreformierter Pastor in Veldhausen 17.2.1895 bis 1.1.1940 – unverheiratet – Er gilt als profiliertester altreformierter Theologe der ersten Hälfte des 20. Jh.
kolthoff_grab-1
Georgsdorf, Sonntag, 6. Juni 1937
18.00 Uhr raus mit Walter und Franz ins Moor. Bei einem einsamen Moorhof (etwa 2,5 km nördlich vom Lager) angeklopft. Bald das Vertrauen der Leute gewonnen. Liebe, junge Frau [Johanna Kruse] mit köstlichem eineinhalb jährigen Buben [Heinrich]. Zwei kernige Bauern. – Milch mit „Beschütt“ [Zwieback] und guter Butter wird aufgetafelt. 70/80 Jahre steht das Haus schon da. Vorher alte Torfbrennerei gewesen. Geplaudert und mit dem Jungen gespielt. Fein. Vor zwei bis drei Jahren in Veldhausen in der [evangelisch-]altreformierten Kirche noch holländisch gepredigt (Pastor Kolthoff). Forschen![1] –
[1] Unter holländischem Einfluß hatte sich die altreformierte Gemeinde 1838 von der evangelisch-reformierten (auch calvinistischen) Kirche der Grafschaft Bentheim u. a. wegen Fragen des strengen Prädestinationsverständnisses, wegen der Einführung neuer Kirchengesänge (neben den bis dato ausschließlich üblichen vertonten Psalmen) und wegen der liberalen Tendenzen in den Predigten junger Pastoren getrennt.
Georgsdorf, Sonntag, 1. August 1937
Nach Veldhausen. Pastor Kolthoff nicht daheim. Die holländische Psalmen-Übersetzung[1] gesehen.
[1] Glotzbach, Andreas (Hg.): De Psalmen voor deze Tijd, Bewerkt door Andreas Glotzbach, van Loghum-Slaternus, Uitgeversmaatschappij N.V., Arnhem – in ’t Jaar MCMXXXVII
Pastor Fritz Baarlink[1a] aus Veldhausen am 31. März 1998 an Hans-Karl Seeger:
Das holländische Gesangbuch (nur Psalmenbereinigung – die Reformierten singen die biblischen Psalmen in entsprechender Bereinigung von Jorissen und neuerdings auch neu bereimt noch heute nach der Genfer Melodie) war lange Zeit in unseren Gottesdiensten und entsprechend in den Hausandachten das einzige Liederbuch der altreformierten Gemeinde. Bis zum Verbot durch die Nazis 1936 wurden Gottesdienste ausschließlich in der niederländischen Sprache gefeiert, auch für den kirchlichen Unterricht mußten niederländische Psalmstrophen und Bibelverse auswendig gelernt werden.
Wenn bis 1936 die niederländische Sprache auch in Gottesdiensten, Liederbüchern u. ä. benutzt wurde, spricht dies vielleicht dafür, daß 1838 bei der Spaltung etliche Niederländer hier über die Grenze gekommen waren.
Ab 1838 entstand in der Grafschaft Bentheim die Evangelisch-altreformierte Gemeinde.
[1a] Fritz Baarlink (* 27.10.1957) – Ordination 19.5.1985 – Pastor der evangelisch-altreformierten Kirche in Veldhausen 27.10.1991
Georgsdorf, Sonntag, 15. August 1937, Mariä Himmelfahrt
Dann zum altreformierten Pastor von Veldhausen Kolthoff. – Feine Gespräche. Herrliches Gebet vor und nach Tisch. – Ich „erbe“ das holländische Psalmenbuch [von Andreas Glotzbach] und kaufe mir das deutsche.[1]
[1] Es ist nicht klar, um welche deutsche Psalmenübersetzung es sich handelt.
Unter der Überschrift „»Herrliches Gebet vor und nach Tisch« Der katholische Märtyrer Karl Leisner als Gast von Pastor Kolthoff in Veldhausen“ verfaßte Karl Koch, ehemaliges evangelisches IKLK-Mitglied aus Nordhorn, folgenden Artikel in der Zeitschrift „Der Grenzbote“ vom14. Juni 1998:
grenzbote1998_1-1
grenzbote1998_2-1
grenzbote1998_3-1
Unter der Überschrift „‚Er hatte einen feinen Charakter’ – In der Grafschaft Bentheim auf den Spuren Karl Leisners“ verfaßte Astrid Heimermann im Kirchenboten des Bistums Osnabrück Nr. 32 vom 9. August 1998 folgenden Artikel:
kirchenbote3-1
kirchenbote1-1
kirchenbote2-1
Unter der Überschrift „Kolthoff-Gesprächspartner Karl Leisner erhält eine Gedenkstätte in Kleve“ verfaßte Karl Koch folgenden Artikel in der Zeitschrift „Der Grenzbote“ vom 22. April 2001:
grenzlandbote1grenzlandbote2-1
* * * * *
Karl Leisner lernte im RAD eine weitere evangelische Familie kennen, der er sich sehr verbunden fühlte.
Georgsdorf, Samstag, 3. bis Sonntag, 4. Juli 1937
Schließlich weiter nach Veldhausen. Wuchtiger Kirchturm![1] Für 30 Pfennig Waffeln. Dann zu Büssemaker, Bäckerei. Hintenrum. Zwei feine Jungfräulein [Hanna und Diana Büssemaker][2] sitzen im Garten.[3] – Bescheiden gefragt. – Enderfolg herrlicher Teeabend mit Gebäck und guten Sachen für uns drei! – Nett geplaudert. Der „Alte“ [Hermann Büssemaker] kennt P. Ho. [Heinrich Horstmann SJ] und seine Brüder. Interessant. – Abschiedslieder. – Wir sind toll von Spaß.
[1] In Veldhausen gibt es eine evangelisch-reformierte Kirche ohne bestimmtes Patrozinium. Der massive, aus gehauenem Stein erbaute Turm erreicht in drei Absätzen (11 m, 9,60 m, 10,80 m) eine Höhe von 31,40 m. Bis in die Spitze der Kappe gemessen beträgt die Höhe 36,70 m.
[2] Büssemaker, Familie
1. Generation:
Familie Hermann Büssemaker – Bäckerei in Veldhausen, Hauptstr. – äußerst kritische Einstellung der Familienmitglieder gegenüber dem Nationalsozialismus
2. Generation:
2a. Hanna Büssemaker (* 12.7.1912, † 28.2.2006)
2b. Diana Büssemaker (* 25.9.1914, † 21.3.1988)
[3] Heinz Sloot an Hans-Karl Seeger:
Die Bäckerfamilie Büssemaker gehörte der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde an. Zwischen den Häusern an der Hauptstraße in Veldhausen gibt es einen Zugang nach hinten in den zum Haus gehörenden Garten. Die Bäckerei wurde später an den Bäcker Arends verpachtet. Bis auf die Schaufensterfront ist das Haus seit 1937 fast unverändert. Der Garten mußte einigen Nebengebäuden Platz machen. Hanna Büssemaker erinnerte sich 1998 noch sehr gut an die Besuche von Karl Leisner. Er sei ein gern gesehener liebenswerter Gast gewesen. Besonders gern habe er sich mit dem Vater unterhalten. Alle seien traurig gewesen, als er eines Abends mit den Freunden gekommen sei, um sich zu verabschieden. Zum Abschied wurde gesungen.
(Heinz Sloot (* 19.4.1929 in Georgsdorf) – Wietmarschen-Füchtenfeld – Recherchen zu Karl Leisners Zeit im RAD im Emsland)
Georgsdorf, Sonntag, 1. August 1937
Dann zu Bäcker Hermann Büssemaker, Hauptstraße. Zum Abendessen eingeladen. Brief fertig zur Post. Froher Abschied. Fein! 21.45 Uhr im Lager.
Georgsdorf, Sonntag, 15. August 1937, Mariä Himmelfahrt
Gespräch und Erzählen von der Romfahrt [22.5. bis 8.6.1936] bei Büssemaker.
Sogar im Traum begegnete Karl Leisner das Thema Ökumene.
Münster, Montag, 6. Dezember 1937
In der Nacht träumte ich ganz interessant. Ich sitze im Hörsaal. Vor mir ein wundervoll „rassiges“ Mädel; wir kommen eng zueinander, lernen uns kennen. Sie entdeckt sich als Protestantin und zeigt mir ein neueres evangelisches Buch und bittet mich um meine Meinung als katholischer Theologe; darüber werd’ ich wach. – Interessant.
Die Nachhaltigkeit von Karl Leisners ökumenischen Begegnungen während seiner Zeit im RAD zeigt sich in folgendem Tagebucheintrag:
Das alte Jahr 1937
Was wird der RAD bringen? Und die Freundschaft mit Franz und Walter, das war Gewinn. Und Pastor Kolthoff in Veldhausen. O – das war alles so fein!
* * * * *
Karl Leisners Priesterweihe und Primz im KZ Dachau war ein außerordentliches ökumenisches Ereignis. Es läßt sich nicht mehr bis auf den letzten Mann nachvollziehen, wer in der Kapelle bei der Weihe anwesend war. Daher stellt sich die Frage, ob und wie viele evangelische Geistliche an der Priesterweihe teilgenommen haben. Laut Gabriel Piguet war es nur einer, vermutlich Pfarrer Christian Reger[1].
[1] Christian Reger (* 10.3.1905 in Bruchsal, † 12.10.1985 in Lorch-Weitmars) – evangelischer Pfarrer in Steglitz 1932 – Er kam wegen staatsfeindlicher Äußerungen am 11.7.1941 ins KZ Dachau, hat an Karl Leisners Priesterweihe teilgenommen und wurde am 3.4.1945 entlassen. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
Gabriel Piguet[1]:
Um mich herum befanden sich zuerst Priester aus der Diözese Münster, alle Seminaristen, für die ich bevorzugte Plätze gefordert hatte, zahlreiche Priester, die Gruppen verschiedener Nationen vertraten, und ein evangelischer Pfarrer, der die Zeremonien sehen wollte und der einem Priester geholfen hatte, meine liturgischen Sandalen anzufertigen.[2]
[1] Bischof Gabriel Emmanuel Joseph Piguet von Clermont (* 24.2.1887 in Macon-sur-Saône/Saône-et-Loire/F, † 3.7.1952) – Priesterweihe 2.7.1910 in Paris (St. Sulpice) – Bischofsweihe zum Bischof für das Bistum Autun/Saône-et-Loire/F 27.2.1934 – Wahlspruch „Veritatem in caritate – Wahrhaftig in der Liebe“ (Eph 4,15) – Bischof von Clermont 11.3.1934 – Er kam am 6.9.1944 ins KZ Dachau und dort am 25.9.1944 auf Block 26, am 22.1.1945 kam er in den „Ehrenbunker“ und wurde am 4.5.1945 von den Amerikanern auf der Evakuierungsfahrt vom 24.4.1945 nach Südtirol in Niederdorf/Villabassa/I befreit.
[2] Piguet, Gabriel: Mgr Gabriel Piguet. évêque de Clermont. Prison et déportation. Témoignage d’un Évêque français [Bischof Gabriel Piguet, Bischof von Clermont, Gefangenschaft und Deportation, Zeugnis eines französischen Bischofs], Paris 1947: 104
KZ-Priester Antonius Bornefeld am 12. September 1979 im Gespräch mit Albert Eise jun. in Wadersloh:
Bei der Priesterweihe von Karl Leisner haben die evangelischen Pfarrer die Wache am Tor übernommen und somit auch das Risiko einer Bestrafung auf sich genommen, um möglichst vielen katholischen Geistlichen die Teilnahme zu ermöglichen, die nicht vom Block 26 waren.[1]
[1] Eise, Albert: Priester im Konzentrationslager Dachau. Wissenschaftliche Zulassungsarbeit, Münster 1980, (Typoskript): 138
Präses Dr. Ernst Wilm[1], Senior der evangelischen Pfarrer im KZ Dachau, am 3. Januar 1976 an Wilhelm Haas in Kleve:
An dem feierlichen Hochamt mit der Priesterweihe von Karl Leisner haben wir evangelischen Geistlichen nicht teilgenommen, weil die Kapelle sowieso die anwesende Gemeinde der katholischen Priester kaum fassen konnte. Wir evangelischen Pfarrer hatten es uns aber zur besonderen Ehre angerechnet, [am Primiztag] dem neugeweihten Priester, seinem Bischof und den Assistenten und Conzelebranten ein schlichtes Essen auf gedecktem Tisch, soweit man das im Lager heranschaffen bzw. „organisieren“ konnte, zu bereiten. Und ich weiß noch, wie sich Bruder Leisner über diese brüderlich-ökumenische Gastfreundschaft gefreut und dafür gedankt hat.[2]
[1] Evangelischer Pastor Dr. theol. h. c. Ernst Wilm (* 27.8.1901 in Reinswalde/Złotnik/PL, † 1.3.1989 in Lübbecke) – Ordination 16.1.1927 – Er kam wegen Stellungnahme zur Euthanasie am 22.5.1942 ins KZ Dachau, nach kurzem Aufenthalt im Quarantäneblock auf Block 26/3 und wurde am 2.1.1945 entlassen. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er 1981 als Zeuge ausgesagt.
[2] Haas, Wilhelm: Christus meine Leidenschaft. Karl Leisner. Sein Leben in Bildern und Dokumenten, Kevelaer 11977, 21981, 31985: 57
Ernst Wilm:
So haben wir evangelischen Pfarrer – ich war zu der Zeit Senior der evangelischen Geistlichen im Konzentrationslager Dachau – an dieser Priesterweihe und Primiz lebendig und mittragend teilgenommen. In das Hochamt mit der Priesterweihe konnten wir nicht gehen, weil unsere Lagerkapelle schon die katholischen Confratres nicht fassen konnte, aber wir haben unsere Teilnahme an dieser Priesterweihe unseres Confraters und damit unsere Verbundenheit mit ihm dadurch bezeugt, daß wir für einen kleinen Kreis der an der Weihehandlung unmittelbar Beteiligten in Stube 3 einen Tisch festlich (Blumen, Tischtuch, Geschirr wurden dazu „organisiert“) deckten und den Feiernden ein Mahl bereiteten.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1466f.
Ähnlich äußerte sich Ernst Wilm beim Besuch von Papst Johannes Paul II. 1987 in Münster, s. Kirche + Leben 1987 – Nr. 44 vom 1.11.1987: 20
KZ-Priester Johannes Sonnenschein aus Ahaus am 22. November 1995 an Hans-Karl Seeger:
An der Feier der Priesterweihe des Karl Leisner hat kein evangelischer Pfarrer teilgenommen. So hat es mir inzwischen auch noch der evangelische Mitbruder Max Lackmann bestätigt. Dies war der Grund: Mit Rücksicht auf Leisners Atemnot und der schnell verbrauchten Luft in dem kleinen Barackenraum mußte die Zahl der Teilnehmer sehr eingeschränkt werden. Deshalb waren nur alle Münsteraner, die ältesten „Senioren“, Theologiestudenten verschiedener Nationen (französische, polnische, belgische, niederländische und andere), ein paar von Karl Leisner persönlich eingeladene bekannte Häftlinge, sowie die Choralschola (ca. 15 Personen) zugelassen. Erst gegen Ende der Feier füllte sich dennoch der Raum, da viele den Primizsegen erwarteten.[…] Die evangelischen Mitbrüder haben wohl eine Glückwunschadresse unterschrieben. Nach dem Primizamt luden sie Karl ein, auf Stube 3 [von Block 26] zu einem „Festfrühstück“, das sie gemeinsam aus ihren Paketen zusammengestellt hatten.
Auf ihren Glückwunschbrief haben die evangelischen Mitbrüder eine Art Andenkenbildchen aus Karton geklebt, auf den in schwarz-roten Farben der Evangelientext Mk 13,35–36 gedruckt ist:
So wachet nun, denn ihr wisset nicht, wann der Herr des Hauses kommt. Ob er kommt am Abend oder zur Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder des Morgens, auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend.
Ihre Widmung lautet:
Zu deiner Priesterweihe erbitten und wünschen wir dir, lieber Karl Leisner, Gottes Gnade, den Frieden unsres Herrn Jesus Christus und den Beistand des Heiligen Geistes, deine evangelischen Mitbrüder: Am 3. Sonntag im Advent 1944
KZ-Priester P. Léon de Coninck SJ:
Fügen wir noch, um vollkommen zu sein, hinzu, daß die protestantischen Geistlichen in großer Zahl kamen, der Feier beizuwohnen, und sich anboten, mittags dem Primizianten ein üppiges Festmahl zu bereiten, was eine ungeheure Ausnahme von dem mehr als bescheidenen Alltag bedeutete.[1]
[1] de Coninck, Léon: Priestergespräche in Dachau. Dachau, Konzentrationslager für Priester. In: Stimmen der katholischen Welt. Überblick und Auslese, Heft 2, 1946: 67–85, hier 72f.
KZ-Priester P. Otto Pies SJ:
Treue Kameraden hatten für Karl ein gutes Mittagessen bereitet. Es sollte für ihn ein wahres Festtagsmahl sein. Blumenkohl, Kalbsbraten, Röstkartoffeln, Pudding und eingemachtes Obst! Für einen KZler unvorstellbare Genüsse. Ein evangelischer Kollege und Kamerad hatte das Beste, was er hatte, hergegeben, noch zusammengebettelt und den Festtagsschmaus zubereitet. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er das Festessen in der Krankenstube bereiten lassen.[1]
[1] Pies, Otto: Stephanus heute. Karl Leisner. Priester und Opfer, Kevelaer: Butzon & Bercker 1950: 173f.
KZ-Geistlicher Christian Reger:
Ich habe noch in Erinnerung, daß ich zur Feier des Tages aus der SS-Küche Porzellan durch Schliche besorgt habe und auf die Bitte eines anderen katholischen Geistlichen aus der Erzdiözese Freiburg Rosenkohl kochte und servierte. Es gab sogar Tischkarten und auf die Karte des Bischofs hatte einer geschrieben: „Reverendissimus …“ [Hochwürdigster …]. Nach der Priesterweihe kam Karl Leisner in die Stube mit roten Backen, einem sichtbaren Zeichen des Fortschritts seiner Krankheit, um den Segen zu geben. Ich stand am Ofen mit einem Schürhaken in der Hand und habe den Segen auf diese Weise dankbar empfangen.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1263
KZ-Priester Heinz Römer:
Eine besondere Freude war es uns, daß Pfarrer Christian Reger als Vertreter der evang. Kirche [anläßlich der Umbettung der Gebeine von Karl Leisner im Rahmen der Großen Viktortracht 1966 nach Xanten] gekommen war; hatte er doch am Tag der denkwürdigen Priesterweihe [Primiz] Karl Leisners wesentlich zur Gestaltung der „sollemnitas externa“ [äußeren Festfeier], soweit man im KZ von einer solchen sprechen kann, beigetragen, indem er aus der SS-Küche anständiges Geschirr organisierte, so daß der Neugeweihte und sein Konsekrator einmal nicht aus dem Blechnapf sich verpflegen mußten.[1]
[1] Heinz Römer in: Stimmen von Dachau, 1966/67 – Nr. 7: 1
KZ-Priester Hermann Scheipers:
Am 26.12.1944 feierte der DG [Diener Gottes] seine erste und einzige Messe. Die evangelischen Geistlichen auf unserer Stube drei haben dem DG das Frühstück bereitet.[1]
[1] Martyrerprozeß: 151
KZ-Priester Matthias Mertens:
In der Stube III waren inzwischen die evangelischen Pfarrer liebevoll bemüht gewesen, einen den Umständen nach glänzenden Frühstückstisch herzurichten. Nicht nur ein weißes Tischtuch und Porzellan zierten ihn – vorher nie gesehener Luxus im Lager –, sondern kostbarste Leckerbissen, die die Pfarrersfrauen geschickt hatten, luden den Neupriester, den Bischof und den engsten Freundeskreis zu einer wohlverdienten Stärkung. Danach wurde es bald schon die höchste Zeit, dass der Kranke wieder zur Krankenstube und damit zur Ruhe kam.[1]
[1] Mertens, Matthias: Priesterweihe hinter Stacheldraht. Aus dem Konzentrationslager Dachau. Von Kaplan Matthias Mertens, Arosa. In: Neue Zürcher Nachrichten vom 28., 29., 30., 31.3. u. 1.4.1949. Abdruck in: Gaesdoncker Blätter 1988: 14–26, hier 25
KZler Alfred Berchtold:
Karl Leisner hat sich der am 26. Dezember 1944 gegründeten Gruppe unter uns mitgefangenen katholischen und evangelischen Geistlichen angeschlossen, die sich verpflichtet haben, jeden Tag ein „Vater Unser“, für die zu beten, die für unsere Verhaftung verantwortlich waren, einschließlich Himmler und Hitler. Nicht alle Priester im KZ haben sich dieses Versprechen zu eigen gemacht. Das war höchstens ein Drittel aller mitgefangenen Geistlichen. Ich habe Karl Leisner in der Freizeit ab und zu in der Kapelle in der Anbetung des Allerheiligsten angetroffen. Karl Leisner hat mir gesagt, er glaube, daß sein Schicksal in der Hand Gottes liege und Gott alles so wenden werde, daß sein sehnlichster Wunsch, Priester zu werden, in Erfüllung gehen werde. Ich schließe daraus, daß Karl Leisner auch der Hoffnung war, wieder einmal in die Freiheit entlassen zu werden, weil ja sonst der Wunsch nach dem Priestertum im KZ Dachau nicht erfüllbar schien.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1201
* * * * *
Am Samstag, dem 28. April 1945, begann Karl Leisner im KZ Dachau sein letztes Tagebuch. Auf die erste Seite schrieb er die sechste Strophe des Chorals „Befiehl du deine Wege“ aus dem evangelischen Gesangbuch. Karl Leisner vertraute auf Gottes Hilfe.
„Hoff’, o du arme Seele, hoff’ und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle, da dich der Kummer plagt,
mit großen Gnaden rücken. Erwarte nur die Zeit,
so wirst du schon erblicken die Sonn’ der schönsten Freud’!“
Siehe Aktuelles vom 26. Dezember 2015 – Karl Leisner und das protestantische Lied „Befiehl du deine Wege …“.
Es bleibt offen, woher Karl Leisner das Lied kannte. Johannes Sonnenschein vermutete, daß Karl Leisner im KZ ein evangelisches Gesangbuch erworben hatte. Es könnte auch sein, daß er sein „Magnifikat“[1], das er mit ins KZ gebracht hatte; eingetauscht hat; denn später tauchte dieses bei dem evangelischen Pfarrer Hermann Endres[2] auf.
[1] Katholisches Gebet- und Gesangbuch für die Erzdiözese Freiburg, Freiburg/Br. 1937
KZ-Priester Richard Schneider:
Ich habe Karl Leisner (KL) am Tage seiner Ankunft im Konzentrationslager Dachau (Block 30) am 14.12.1940 kennengelernt. Ich war dort seit November 1940. KL wurde vom Lager Oranienburg-Sachsenhausen [KZ Sachsenhausen in Oranienburg] nach Dachau verlegt. KL war damals Diakon, wurde aber dem Priesterblock 30 zugeteilt. […] In der Hand hielt er dabei das Freiburger Diözesan-Gesangbuch „Magnificat“, das er auf irgendeine Weise in das Lager hatte einschmuggeln können. Wir waren darüber sehr froh, damit das erste Gesang- und Gebetbuch in unserem Priesterblock überhaupt zu haben, nachdem uns alles – auch Brevier und Rosenkranz – bei der Einlieferung abgenommen worden war. (Seligsprechungsprozeß: 1445)
[2] Hermann Endres (* 5.4.1910 in Nürnberg, evangelisch getauft, † 2.1.1997) – Er war schon ab 1936 von München aus als Vikar für Dachau zuständig. 1941 wurde die Dachauer Gemeinde selbständig und bekam mit Hermann Endres einen eigenen Pfarrer. 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, an die Ostfront geschickt und kehrte erst 1945 zurück. Während seiner Abwesenheit oblag seiner Frau Elisabeth die Sorge für die Gemeinde. Sie übernahm auch die Aufgabe der „stillen Vermittlerin“ zwischen der bayerischen Landeskirche und den Häftlingen im Konzentrationslager (Lebensmittelhilfe). Hermann Endres war bis 1946 Pfarrer in Dachau.
Magnifikat. Katholisches Gebet- und Gesangbuch für die Erzdiözese Freiburg, Freiburg/Br. 1937
In dem im Nachlaß befindlichen Exemplar steht in der Handschrift von Wilhelm Haas:
28.8.1989 von H. Endres Breslauerstr. 23c, 8912 Landsberg, dem IKLK überreicht. Sohn des evangelischen Pfarrers Hermann Endres von Dachau.
Zum Thema Protestantismus und Reformation siehe auch Aktuelles vom 6. Juli 2015 – Vor 70 Jahren starb Jan (Johannes) Hus auf dem Scheiterhaufen.
Quelle der Fotos: Karl Leisner-Archiv und Heinz Sloot