
Gedenkstein an den Todesmarsch vom KZ Dachau nach Süden im April 1945. Errichtet 1989
Reichsdeutsche und sowjetische Häftlinge mußten sich am 26.4.1945 im KZ Dachau zum Abmarsch aufstellen. Dieser wurde durch verlangsamte Ausgabe der Proviantrationen verzögert. Offensichtlich blieb aber im Lager, wer wollte, ganz abgesehen von den Kranken. Viele versteckten sich in den Revierbaracken, welche die SS-Leute aus Furcht vor Ansteckung mieden. Um 21.00 Uhr begann der Abzug des Evakuierungsmarsches aus dem Lager Dachau, nachdem schon um 9.00 Uhr der Befehl ausgegeben worden war: „In drei Stunden hat das ganze Lager marschfertig auf dem Appellplatz anzutreten.“ Zwischen 21.00 und 22.00 Uhr verließen laut Lagerschreiber von den mehr als 30.000 Häftlingen 6.887 Personen das KZ Dachau in Richtung Ötztal in Gruppen zu je 1.500, unter ihnen ca. 120 Priester. Der erste Nachtmarsch ging über Allach, Untermenzing, Pasing, Lochham, Gräfelfing, Planegg, Krailling, Gauting und Leutstetten. Die Fortsetzung des Marsches erfolgte in der nächsten Nacht um 21.00 Uhr über Starnberg, Percha, Berg, Aufkirchen, Hohenrain und Wolfratshausen bis ca. 3 km südlich Richtung Beuerberg. In Bad Tölz wurden die Häftlinge am 30.4.1945 von den Amerikanern befreit.
Am 27. und 28. April 1945 sollte es mit den Transporten so weitergehen, wie es am 26. April begonnen hatte, aber wegen der bedrohlichen Fliegerangriffe kam es nicht mehr dazu, die bereitstehenden Häftlinge in Marsch zu setzen.
Quelle des Fotos: Wikimedia Commons / Bildhauer: Hubertus von Pilgrim / Fotograf: Furukama / CC BY-SA 3.0 (abgerufen 26.03.2017)
Kranke wie Karl Leisner blieben im Krankenrevier. Von dort erlebte Karl Leisner am 29. April die Befreiung durch die Amerikaner.
Dachau, Samstag, 28. April 1945
Tgb 27 01 (1)Nach dem Transport am 26. abends (fast 100 deutsche Priester mit) kein Transport mehr.
Dachau, Sonntag, 29. April 1945
Tgb 27 02 (1)
Tgb 27 03 (1)
Tgb 27 04 (1)
Morgens in der Bettruhe Einschläge schwerer Artillerie in der Nähe. Maschinengewehr- und Gewehrfeuer. Die Nacht zuvor schon gute Schießerei. Große Hoffnung! „Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an“ – singe ich spaßhaft und doch ernst.[1] Es wird so. Die weiße Fahne auf Kommandantur etc. – Was wird geschehn? Um 17.30 Uhr die ersten amerikanischen Soldaten. (Vorher Gerücht, das Lager sei übergeben). Riesiger Jubel im Lager, Freudenausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die amerikanischen Soldaten werden zerdrückt. Polen stürmen Jourhaus, zertrampeln das Hitlerbild, zerschmettern die SS-Gewehre. Eine Stimmung, unbeschreiblich. In zehn Minuten flattern die Fahnen der befreiten Nationen.[2] Herrlich! Ich liege schwer krank da. Höre das alles nur von weitem und vom Erzählen. Ziehe mir die Decke übers Gesicht und weine zehn Minuten vor überwältigender Freude. Endlich frei von der verdammten Nazityrannei! Bis auf zehn Tage waren’s fünfeinhalb Jahre hinter Gittern [9.11.1939 bis 29.4.1945]. Ich bin überglücklich. Heil unseren Befreiern! Die Aufregung auf der Tbc-Station [im Block 13] ist groß.[3] Jeder Halbgesunde rennt ins Lager und erzählt hinterher. Die Turmbesatzungen [des Wachturms B] hatten weiße Fahne gehißt. Trotzdem zieht noch einer seine Browning. Alle werden prompt umgelegt. Das ist Recht![4]
Die Nacht schießt eine schwere amerikanische Batterie über’s Lager weg. SS will das Lager wieder erobern, sagt man. Aber alles geht gut! Deo gratias!
[1] Es handelt sich um die letzte Zeile der zweiten Strophe des Liedes „Die Fahne hoch“ von Horst Wessel, die Karl Leisner auf seine Weise interpretiert.
Es war nicht ungewöhnlich, daß auch Gegner des Nationalsozialismus das Horst-Wessel-Lied zitierten, wenn der Inhalt paßte. So schrieb Franz Brocks, Engagierter in der Jugendarbeit, 1935 an stud. theol. Heinrich Tenhumberg:
Ich weiß: Du „marschierst im Geist in unsern Reihen mit“.
[2] KZler Heinrich Auer:
[…] alle Nationen waren [im Nu] mit ihren Flaggen vertreten, 26 an der Zahl, nur eine fehlte: denn welche deutsche Flagge hätten wir hissen sollen? (Auer, Heinrich: Meine Erlebnisse im Konzentrationslager Dachau (1943–1945), (Typoskript): 12).
KZ-Priester Johann Steinbock:
Die Deutschen waren die einzigen, die in diesen Tagen keine Fahne hatten (Steinbock, Johann: Das Ende von Dachau, Steyr 1995: 44).
KZler Edgar Kupfer-Koberwitz:
Überall im Lager wehen jetzt von den Blocks die Fahnen in den Farben aller Länder, die hier vertreten sind. – Wo sind sie nur hergekommen? – Weißer Stoff, – gut: Leinentücher, Bettlaken, – aber die anderen Farben? – Ob die Kameraden sie in den Magazinen der SS fanden? (Kupfer-Koberwitz, Edgar: Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814, München 1997: 451, zit. Kupfer-Koberwitz 1997)
[3] KZler Edgar Kupfer-Koberwitz:
Dann wieder Getöse: „Ein Soldat ist im Revier, ein Amerikaner, – gleich wird er hier sein!“ – Und gleich darauf ist er da, – ein Hüne im Stahlhelm, lächelnd, ganz ruhig und Gummi kauend. – „Hallo boys!“ – sagt er. – Sie umringen ihn, – jeder gibt ihm die Hand, – wer ein paar Worte englisch kann, sagt sie ihm. – Der kleine italienische Advokat, ein älterer Mann, kriecht aus dem Bett, geht hin, gibt ihm die Hand. – Er steht neben dem Riesen wie ein Zwerg: „I thank you for all what you have done for us“ [Ich danke Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben], – sagt er und schaut mit nassen Augen zu dem großen Soldaten auf. – Der sagt: „Oh, das war nicht schlimm, nur so ein kleines Gefecht.“ – Und er geht durch den Raum, umringt, alle Hände strecken sich ihm entgegen. – Er beginnt zu singen: „It’s a long way to Tipperary, it’s a long way to go …“ – Alle singen mit (Kupfer-Koberwitz 1997: 445f.).
Am 31.1.1912 gegen Mittag komponierte der britische Varietésänger Jack Judge auf Grund einer Wette innerhalb von 90 Minuten dieses Lied und trug es am selben Abend in seinem inzwischen nach ihm benannten Stammlokal im englischen Stalybridge vor. Als eines der Lieblingsmarschlieder der britischen Soldaten im Ersten Weltkrieg wurde es weltbekannt. Es entwickelte sich zu einem wahren Ohrwurm. Wurde es später von einer Folkgruppe gesungen, kleidete diese sich nicht selten wie die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
[4] Jürgen Zarusky:
Bei der Einnahme des Schutzhaftlagers wurde, offenbar in zwei kurz nacheinander stattfindenden Aktionen, die gesamte 17 Mann umfassende Besatzung des Wachturms B getötet, nachdem sie sich ergeben hatte. Dabei wirkten in nicht genau zu bestimmender Weise auch Häftlinge mit, die über den Lagerzaun geklettert waren (Zarusky, Jürgen: Die Erschießung der gefangenen SS-Leute bei der Befreiung des KZ Dachau. In: Wolfgang Benz u. Angelika Königseder: Das Konzentrationslager Dachau, Berlin 2008: 103–124: hier 122).
Wilhelm Haas:
Dadurch, daß das Wort „Recht“ großgeschrieben ist, deutet Karl Leisner an, daß man diese Aktion der Amerikaner als rechtens im Rahmen des Kriegsrechtes ansehen kann.
Hildegard Niestroj:
Nach meinem Verständnis beziehen sich diese Worte Karl Leisners auf die gesamte Befreiungssituation des Lagers und drücken aus, dass die Befreiung von der verdammten Nazityrannei nicht mehr umzukehren war, auch nicht durch Hitlers Schergen, die mit Gewaltakten versuchten, die Befreiungsaktion zu verhindern.
Viele Menschen, Betroffene und Beobachter haben den Evakuierungsmarsch beschrieben, jeder aus einer anderen Perspektive. P. Otto Pies SJ war bereits am 27. März 1945 aus dem KZ entlassen worden. Als er von dem Todesmarsch erfuhr, wagte er eine Aktion, die ihn hätte das Leben kosten können, aber letztlich dazu führte, daß viele Priester auf dem Marsch befreit wurden.
Dachau, Mittwoch, 2. Mai 1945
Tgb 27 06 (1)Alles geht langsam weiter. Otto [Pies] kommt überraschend zu Besuch![1] Geistlicher Rat [Friedrich Pfanzelt] von Dachau auf Block 26. Große Freude dort. Otto hat [auf dem Evakuierungsmarsch] 32 Priester befreit.[2]
[1] P. Otto Pies SJ hat den Satz „Otto kommt überraschend zu Besuch!“ in seinem Buch „Stephanus heute“ in den Text von Karl Leisner eingefügt, s. Pies, Otto: Stephanus heute. Karl Leisner. Priester und Opfer, Kevelaer: Butzon & Bercker 1950: 186 und 7. Auflage 2008 kommentiert von Hans-Karl Seeger: 177 u. 258 .
[2] KZ-Priester P. Josef Fischer SAC:
Besuch im Lager von Herrn Pfarrer Pfanzelt und Herrn P. Pies
[…] Auch Herrn P. Otto Pies konnte ich sprechen. […] Nachher beantragten P. [Emil] Schumann [MSC] und Herr Pfarrer von Dachau und Herr P. Pies beim amerikanischen Kommandanten [im Lager Dachau], daß die deutschen Priester bald entlassen und daß Nachforschungen über den Verbleib der Geistlichen, die auf Transport gegangen waren, angestellt würden. Herr P. Pies brachte, um die Intervention beim Kommandanten noch zu unterstreichen, ein Schreiben vom Herrn [Michael] Kardinal [von] Faulhaber mit, in dem auch die Bitte ausgesprochen wurde, die Geistlichen bald zu entlassen (Fischer, Josef: Dokumentation über den Gründer Schönstatts [P. Joseph Kentenich SAC] und die Schönstattgemeinschaften im KZ Dachau 1941–1945, 3 Bde., (Typoskript um 1964, Kopie; Original im Priesterhaus Berg Moriah, Simmern Ww., hier 1964 Bd. III: 159f., zit. Fischer 1964 Bd. III).
P. Josef Fischer SAC:
2.5.1945. Herr Pfarrer Pfanzelt von Dachau kommt ins Lager. Er besichtigt die Lagerkapelle, die Blocks. […] Später kam der schon durch die SS früher entlassene P. Otto Pies SJ zu uns. Er erzählte uns, wie er von dem Transport vom 26. April 32 Priester auf einem Lastauto entführt habe (Fischer 1964 Bd. III: 230, s. auch: Fischer 1964 Bd. III: 159f.).
KZ-Priester Josef Rohrmoser:
Pater Pies SJ machte sich in jenen Tagen des Umbruchs sehr verdient um die Geistlichen des KZs. […] Er sammelte sich mit Autos viele Geistliche nach Pullach aus dem erwähnten Transport (Rohrmoser, Josef: Bericht des frommen Pfarrers von St. Wolfgang. In: Weiler, Eugen: Die Geistlichen in Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und in Gefängnissen. Nachlaß von Pfarrer Emil Thoma, Mödling 1971 1971: 970–973, hier 972, zit. Weiler 1971).
KZ-Priester P. Johann Lenz:
2. Mai. – Der Pfarrherr von [St. Jakob in] Dachau überraschte uns mit seinem lieben Besuch. Er wurde von uns allen mit größter Begeisterung empfangen. Er hatte viel für uns getan in diesen schweren Jahren und bleibt auch in Zukunft unser treuer Freund (Lenz, Johann: Christus in Dachau oder Christus der Sieger. Ein religiöses Volksbuch und ein kirchengeschichtliches Zeugnis (mit 100 Bildern). Für Priester und Volk, Wien 61957: 373).
P. Otto Pies SJ:
Vom Todesmarsch weggeholt
Es waren schlimme Tage mit naßkaltem Wetter, mit Regenschauern und Schneetreiben, wie wir sie von der Plantage vor allem vom Sommer 1942 in Erinnerung haben, als mich die Schreckensbotschaft erreichte: Das Dachauer Lager ist auf Transport, die Belegschaft marschiert, diese Nacht, es war der 28. April 1945, sind sie in der Nähe von Aufkirchen vorbei über Wolfratshausen getrieben worden. Jäher Schrecken erfaßte mich beim Gedanken an meine Kameraden, vor allem an die Kranken. Ein solcher Marsch ist für viele der Tod. Das war mir klar. Ich war vorher entlassen und befand mich seit einer Woche in meinem neuen Heim als Gast im Exerzitienhaus in Rottmannshöhe. Da muß geholfen werden. Einer meiner Theologen, Oberleutnant [Fr. Franz] Kreis SJ, war bereits in der Frühe mit dem Fahrrad nachgefahren und hatte die SS-Führer gestellt und sich über Marschrichtung und Lagerplatz Auskunft geben lassen. Mit ihm fuhr ich per Rad dem Zuge nach, über Wolfratshausen hinaus bis vor Beuerberg, wo wir in einem Wald rechts und links von der Straße die Dachauer fanden, 700 bis 800 Mann von zirka 250 SS-Posten, zum Teil mit Hunden, bewacht. Es regnete in Strömen. Ich trug Motorradkleidung, darunter andere Zivilsachen, wechselte mehrmals die Kleidung, während ich einige Male hin- und zurückfuhr, mitten durch den Lagerplatz, um Bekannte zu sehen. Richtig, da sind sie von Block 26 und einige Kapos von der Plantage und die Reichsdeutschen überhaupt. Schnell einige Zivilsachen vom Gepäckträger abgeschnitten und zugeworfen, Wiederkommen versprochen, kurze Verabredung, und weiter ging’s. Posten wurden schon aufmerksam, verwehrten den Häftlingen das Sprechen mit dem Zivilisten und wollten das Verteilen von Brot nicht erlauben. Nach einer halben Stunde und später öfter wiederholt dasselbe in anderer Kleidung und nicht wiedererkannt. Unterwegs wurden [P.] Prinz [Alban zu] Löwenstein [OFM] und Pfarrer Quack [Karl Quaß] völlig marode aufgefunden, gegen ihren Willen – sie hatten schon alle Hoffnung verloren und sich aufgegeben – im Walde versteckt und später abgeholt, verkleidet in das Pfarrhaus in Wolfratshausen geschmuggelt. Mit einem LKW des Pullacher Berchmanskollegs am Abend in der Dunkelheit Marode von der Straße aufgenommen und unter SS-Bewachung an den Lagerplatz gefahren und im Dunkeln abgeliefert. Während der Unterhaltung mit der SS-Bewachung, die dabeistand, wurden die Kranken abgeladen und unter viel Lärm und Geschrei zehn Geistliche, die in der stockdunklen Nacht im Walde gefunden wurden, eilends in den Wagen hineinbefördert, und weg ging’s mit ihnen in die Nacht hinein nach Rottmannshöhe. Dort waren schon [Otto] Kohler, [Anton] Burger und [P. Engelbert] Rehling [OMI] eingetroffen, auf der Flucht entkommen. Kein SS-Mann hat etwas gemerkt. Das machte Mut und reizte zu größerem Wagen. Am Tage darauf gelang es mit Hilfe des Paters [Franz] Graf von Tattenbach SJ, aus einem Wehrmachtsmagazin 1.000 Brote, Büchsenfleisch usw. zu organisieren, einen ganzen Wagen voll Lebensmittel, und mit ihnen ging es wieder dem Zuge nach in die stockdunkle Nacht hinein. Am Lagerplatz fanden wir sie noch, todmüde, durchnäßt von dem ständig fallenden Regen, unter bleischweren nassen Decken auf dem Boden liegen, ringsum rauchende, qualmende Feuer, bellende Hunde, schießende SS-Posten, phantastische Situation, wilder als wildester Wildwest. Wir ließen den verantwortlichen SS-Führer rufen, erklärten ihm, die Bevölkerung sei in größter Unruhe wegen der vielen Toten und Maroden am Straßenrand, man wisse, daß die Versorgung der Häftlinge unzureichend sei, die oberste SA-Führung habe Lebensmittel geschickt – stimmte; das Lazarett Berchmans habe Befehl mitgegeben, die Maroden abzuholen und abzuliefern – stimmte halbwegs; die Straße sei bereits abgeschnitten, der Feind im Norden und im Süden, ein Weitermarschieren sei unmöglich – stimmte fast; für die SS Schnaps und Zigaretten und – sie ließen sich überrumpeln und überzeugen, ohne nach Papieren und Legitimation zu fragen, und gaben uns die Möglichkeit, die Lebensmittel der „obersten SA-Führung“ zu verteilen und die Fußkranken mitzunehmen. Die Beute dieser Nacht bestand aus 20 Geistlichen. Auf lautlosen Waldwegen, durch schlafende Ortschaften brachte uns der treue Mercedes in den Morgenstunden heimlich nach Rottmannshöhe. Dort erst erwachten viele wie aus einem Traum. Wir fielen uns um den Hals, freuten uns unbeschreiblich, manche weinten vor Freude, endlich frei, gerettet und wieder einmal eine Tasse heißer Milch, ein Bett, wenn auch etwas primitiv in dem unvorbereiteten Quartier der Rottmannshöhe, zu erhalten (Pies, Otto: Karl Leisner. In: Weiler 1971: 1067–1069).