Karl Leisners Ideal Papst Pius XI. wird „entzaubert“

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Kertzer, David I.
Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus
Aus dem Englischen von Martin Richter
Darmstadt 2016
ISBN: 9783806233827
38,00 €

 

 

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Achille Ratti (* 31.5.1857 in Desio/I, † 10.2.1939 in Rom) – Priesterweihe 1879 – Bischofs­­weihe zum Titularerzbischof von Naupactus 1919 – Erzbischof u. Kardinal von Mailand/I 1921 – Papst Pius XI. 6.2.1922 – Wahlspruch „Pax Christi in Regno Christi – Frieden Christi im Königrei­ch Christi“.

Quelle des Fotos: Wikimedia Commons / gemeinfrei (abgerufen 29.09.2016)

Jörg Ernesti besprach das Buch in der F.A.Z. vom 23. September 2016 unter der Überschrift „Abgrundtiefe Verachtung für Mussolini. Die Kirche im Faschismus: David I. Kertzers mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Buch über Papst Pius XI.“

Link zum Buch mit Leseprobe, Autorenportrait und Rezensionen unter bücher.de

Link zu DOMRADIO.DE vom 15. September 2016 – „Neues wissenschaftliches Buch über Papst Pius XI. und Mussolini – Von der Lichtgestalt zum tragischen Dunkelmann“

Link zu religion ORF.at Der Vatikan und der Pakt mit dem Faschismus

Link zu FALK-REPORT.DE „Der erste Stellvertreter“ – Pulitzer-Preisträger enthüllt die Beziehung zwischen Mussolini und dem Vatikan

In dem Theaterstück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth wurde 1963 dem angesehenen Papst Pius XII.[1] vorgeworfen, er habe angesichts des Holocaust geschwiegen.
[1] Eugenio Pacelli (* 2.3.1876 in Rom, † 9.10.1958 in Castel Gandolfo/I) – Priesterweihe 2.4.1899 – Eintritt in den Dienst des Staatssekretariates 1901 – Professor für kirchliche Diplomatie 1909–1914 – Bischofsweihe zum Titularerzbischof von Sardes/Sart/TR 13.5.1917 – Apostolischer Nuntius für Bayern in München 1917 – Nuntius für das Deutsche Reich 1920–1929 – Übersiedlung nach Berlin 1924 – Kardinal 1929 – Kardinal­staats­se­kretär in Rom 1930 – Papst Pius XII. 2.3.1939

Karl Leisner schätzte Eugenio Pacelli sehr und ahnte bereits 1930, daß dieser der nächste Papst werde.

Kleve, Sonntag, 26. Januar 1930
Nuntius Pacelli, der päpstliche Gesandte beim Deutschen Reich, wurde beim Jahreswechsel von seiner Stellung abberufen, in der [St.-]Peters­kir­che [in Rom] zum Kardinal geweiht[1] und ist jetzt statt des Kardinals [Pie­tro] Gasparri, – Kardinal­staatssekretär des Papstes [Pius XI.]. – Eugen Pacelli ist ein großer Deutschfreund. Vielleicht wird er der nächste Papst.
[1] Ein Kardinal wird vom Papst ernannt, aber nicht geweiht, die Überreichung des roten Biretts usw. in Rom durch den Papst erfolgt während einer Zeremonie.

Münster, Donnerstag, 2. März 1939
Cardinal Pacelli ist zum Papst Pius XII. gewählt worden. Deo gratias! Herr, bewahre, führe ihn zum Heile Deiner Weltkirche, und zum besonderen Heile in der deutschen Not! Erwecke uns Heilige und Helden, Herr und Gott! – Jubelnd klingen die Glocken von Dom und Über­was­ser [Kirche]. Te Deum laudamus! Die Tränen der Freude kommen mir.

Während seiner Romfahrt 1936 hat Karl Leisner Papst Pius XI. sogar persönlich in einer Privataudienz erlebt. Seitdem war er ihm besonders verbunden; denn dieser Papst gab ihm in manchem Orientierungshilfe. Noch im KZ Dachau erinnert er sich an ihn.

Tagebucheinträge

Münster, Samstag, 30. April 1938
Die Worte des Heiligen Vaters sollen mir ernste Mahnworte in diesem Semester sein: „… beson­ders aber, wer zur Sinnlichkeit neigt und auf Grund einer langen Erfahrung ge­zeigt hat, daß er sie nicht zu beherrschen versteht, … der ist für das Prie­stertum nicht geschaffen.“[1] – Was mir von Nöten ist: Geduld mit mir selbst, ehrliche, männliche Selbst­liebe, die sich auch hart anpacken kann, und Ge­bet, Betrachtung, Schriftlesung, Studium! Kurz: ein ganz tiefes geistliches Leben.
[1] Enzyklika von Pius XI., „Ad catholici sacerdotii“ vom 20.12.1935, Nr. 72

Münster, Freitag, 10. Februar 1939
Großer Pius, du bist tot. – Laß mich deinem Beispiel folgen! Segne mich vom Himmel her, erfleh mir Christi Gnade zum Priestertum, du großer hei­liger Papst und Priester unseres Herrn und Heilandes!

Karl Leisner aus Dachau am Samstag, 31. Mai 1941, an Ferdinand Stegemann:
Mein lieber geistlicher Vater, verehrter hochwürdiger Herr Kaplan!
Heute vor fünf Jahren durfte ich römische Pfingsten [vom 22.5. bis 8.6.1936] feiern. Die damalige Vigil [am Samstag vor Pfingsten, dem 30.5.1936, mit einer Audienz bei Papst Pius XI.,] war einer der schönsten Tage meines Lebens. Kirche und Prie­ster­tum erlebte ich nie so begeistert.

Siehe auch folgende Beiträge zu Pius XI. und Karl Leisner:

Aktuelles vom 5. März 2014 – Das Letzte Duell mit der Kunst

Aktuelles vom 21. März 2014 – Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ im Leben Karl Leisners

Aktuelles vom 20. April 2014 – Karl Leisner sah die Kolonnaden vor deren Restaurierung

Aktuelles vom 21. April 2014 – Pius XI. und Karl Leisner

Nun wird auch Pius XI. „entzaubert“. Wie paßt das alles zusammen mit den Wahrnehmungen von Karl Leisner? Wie hätte er auf das Buch von David I. Kertzer reagiert?

Die gängige Meinung lautete, Pius XI. habe dem Faschismus die Stirn geboten. Doch seit 2006 zeigt sich mit der ersten Öffnung des Vatikanarchives bezüglich seiner Person ein ganz anderes Bild. Benito Mussolini[1] und Pius XI. waren sich zwar nicht gewogen, stützten aber auf Grund des gegenseitigen Machterhaltes einander und schlossen einen verhängnisvollen Pakt. Erst ab 1938 begriff Pius XI. allmählich, worauf er sich eingelassen hatte.
[1] Benito Mussolini (* 29.7.1883 in Dovia di Predappio/I, † erschossen 28.4.1945 in Giulino di Mezzegra/I) – Mitbegründer des italienischen Faschis­mus durch die Fasci di com­batti­mento (Kampfbünde) 1919 – Führer (Duce) der Kampfbünde mit dem Marsch auf Rom 28.10.1922 – Ministerpräsident 30.10.1922 – König Viktor Emanuel III. berief ihn ohne Hinzuziehung des Par­lamentes zum Ministerpräsidenten. Benito Mussolini war für Adolf Hitler in vieler Hinsicht ein Vor­bild. Am 24/25. Juli 1943 setzte der „Große Faschistische Rat“ Benito Mussolini ab und König Emanuel III. ließ ihn verhaften und an unter­schied­li­chen Orten internieren, zuletzt auf dem Gran Sasso d’Italia in den Abruzzen.

Jörg Ernesti schlußfolgert in seiner Besprechung: „Für Nichthistoriker bietet das Buch sicher eine überraschend neue Sicht auf die beschriebene Periode; Fachleute dürften dagegen kaum Neues finden.“