Am 16. April 1946 fuhr Mutter Amalia Leisner in den Spessart nach Rothenbuch, um ihre am 2. Juni 1945 in Oberbessenbach geborene Enkelin Ursula Leisner kennenzulernen.
Willi Leisner hatte großen Wert darauf gelegt, daß seine Frau Fränzl sich vor der Niederkunft zu ihrer Familie in den Spessart zurückzog, wo die Welt im Gegensatz zur kriegsbedingt gefährlichen Lage in Berlin noch relativ in Ordnung war. Ihr Bruder Karl Sauer war Pfarrer in Oberbessenbach und ihre Schwester Maria führte ihm dort den Haushalt.
Mutter Amalia Leisner unternahm die Reise mit Pater Otto Pies SJ, der sie in Kleve besucht hatte. Von Kleve fuhren sie zunächst nach Niederlahnstein zu dessen Schwester Hanna Wieland und von dort weiter in den Spessart.
Auf der Fahrt dorthin traf sie in der ältesten Apotheke von Lohr, der 360 Jahre alten Marien-Apotheke, auf ehemalige Klever Bürger, die sich im Spessart niedergelassen hatten:
Walter Bartels (* 1904 in Kalkar, † 16.12.1958) und Elisabeth Bartels, geborene Dinnendahl (* 1908, † 1989) aus dem damaligen Modehaus Dinnendahl in Kleve.
Walter Bartels hatte ein Praktikum in Kleve gemacht, eine Stelle in der Marien-Apotheke von Lohr gefunden und diese am 1. Juli 1936 übernommen.
Mutter Amalia Leisner am Samstag, 20. April 1946 in ihren Notizen:
4.25 Uhr [von Gemünden] nach Lohr (14 km). Lohr an 5.00 Uhr. Postauto fahr [fährt] nicht in Rep. i. [Es ist in Reparatur in] Aschaffenburg. 7.00 Uhr Marienapotheke [in Lohr, Hauptstr. 10]. Fein Kaffee getrunken, mit Herrn [Walter] Bartels unterhalten, Frau B. [Elisabeth Bartels] lag krank zu Bett. 9.30 Uhr nach Rothenbuch angerufen, 11.30 Uhr Fränzl per Rad da. Dann per Lastwagen bis Rechtenbach. Von hier zu Fuß bis Rothenbuch. Alle begrüßt und dann todmüde von 16.00 bis 18.00 Uhr geschlafen. 19.00 Uhr Auferstehungsfeier. Ostereier gesucht mit Ursula, zu Abend gegessen, geplaudert, um 23.00 Uhr ins Bett.
Mutter Amalia Leisner am 20. April 1946 im Taschenkalender:
14.30 Uhr in Rothenbuch.
„Das Armenhaus Europas lag vor 150 Jahren im Spessart – Der Sozialmediziner Rudolf Virchow reiste 1872 durch die Dörfer und forderte danach vehement Reformen“ so überschrieb die Frankfurter Rundschau am 19. Mai 1998 einen Artikel über den verarmten Landstrich.
Karl und Willi Leisner hatten den Spessart 1936 auf einer Fahrt ins Allgäu kennengelernt. Von Karl Leisner ist kein Fahrtenbericht erhalten, wohl aber von Wilhelm Elshoff:
Würzburg, Sonntag, 23. August 1936, 23. Tag
[…] Heute ging es quer über den Spessart. Rechts und links der Straße zogen sich endlos die Wälder. Nur ab und zu kamen wir durch bewohnte Gegenden. Gegen Mittag kauften wir uns Brot für den „Mittagstisch“. Nach einer kurzen Ruhepause ging’s weiter nach Aschaffenburg. Jetzt hatten wir die Mainebene vor uns. Gott sei Dank, daß wir die Berg- und Talfahrten hinter uns hatten. Guten Mutes suchten wir uns den Weg nach Frankfurt/M.
Karl Leisner war Pate über seine Nichte Ursula. Obwohl er sie nie gesehen hat, verfolgte er ihr Werden als Menschenkind mit großer Aufmerksamkeit:
Karl Leisner aus Dachau, Block 26/3, am 30. Dezember 1944, an seine Familie in Berlin und Niedermörmter:
Meine Lieben alle!
[…]
Gleich nach der Handauflegung [bei der Priesterweihe am 17.12.1944] gab ich still Euch, viellieben Eltern, als ersten den Priestersegen. Am Abend des 17. jedem von Euch feierlich einzeln den Primizsegen; Fränzl und ihr Kleines war besonders mit dabei.
Karl Leisner aus Dachau, Block 26/3, am 10. Februar 1945 an seine Familie in Berlin und Niedermörmter:
Lieber Willi! Meine Lieben alle!
Deinen und Fränzls lieben Brief vom 31.1. erhielt ich mit Dank und Freude am 8.2. Hoffentlich geht es Euch noch gut. Ist Fränzl schon heil zum Spessart?
[…]
Ich denke oft an Euch. Wenn Fränzl sicher in Oberbessenbach ist, wirst Du ja als Strohwitwer Dich einsam fühlen, aber für Deine Zwei ist’s besser so. Gott behüte Dich!
Karl Leisner aus Dachau, Block 26/3, am 10. März 1945, an seine Familie in Berlin und Bedburg:
Liebe Fränzl!
An Deinem gestrigen Namenstag[, 9.3., dem Fest der hl. Franziska von Rom,] war ich Dir besonders verbunden und habe Deiner und Deiner Wünsche und Anliegen vor Gott gedacht. Willi schrieb, daß Du am 2.2. von Berlin in den ruhigen Spessart umgesiedelt bist zu Karl und Maria [Sauer] in Oberbessenbach. Das hat mich gefreut; denn ich war in Sorge um Euch wegen der vielen Angriffe auf Berlin. Willi kommt sich ja als Strohwitwer recht verlassen vor; aber so ist’s für Dich und das werdende Kleine besser. Für die mir zugedachte Patenschaft danke ich voll Freude, möchte nur zu gerne selbst dabei sein. Na ja, warten wir ab.
Auch Otto Pies nahm Teil am Leben der werdenden Eltern.
P. Otto Pies SJ am Gründonnerstag, 29. März 1945, an Willi Leisner in Berlin:
Pullach bei München, Postfach 9, 29.3.1945
Lieber Willi!
In Eile sende ich Dir die frohe Nachricht, daß ich plötzlich [am 27.3.1945] aus dem Lager entlassen wurde. Ich bin hier in unserem [Berchmans-]Kolleg [in Pullach] und bleibe bestimmt in der Nähe, werde intensiv für Karl sorgen und stets so weit möglich mit ihm Verbindung halten. Über obige Anschrift bin ich immer zu erreichen. Was sich für Karl machen läßt, werde ich energisch unternehmen. Ihm geht es nicht gut. Es ist höchste Zeit, daß er gute Pflege und Luftveränderung bekommt. – Wie geht es Fränzl? Hoffentlich wirst Du nicht auf längere Zeit von ihr abgeschnitten.
Ich nehme an allem herzlichen Anteil und bete auch für Euch drei! Laß uns wie Brüder sein.
P. Otto Pies SJ mit Willi und Fränzl Leisner und den Kindern Ursula und Hildegard in Berlin am 28. August 1947