Nach den Jubiläen in die Zukunft schauen

ZukunftSelbst im Sterben dachte Karl Leisner noch an eine mögliche Zukunft im irdischen Leben.

 

Bundespräsident Joachim Gauck am 23. September 2014 auf dem 50. Deutschen Historikertag in Göttingen:
Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und die Zukunft zu siegen. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der „Geschichtslosigkeit“ oder „Geschichtsvergessenheit“ der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen. Unaufhörlich, so sieht es aus, sind wir mit der Geschichte, sind wir mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen und Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin?[1]

[1] Siehe Link zur Rede.

Ein ganz auf Vergangenheit gerichtetes Erinnern durch Wiederholung beziehungsweise Wiederherstellung des Vergangenen als Vergangenes hat keine Zukunft, sondern ruht im Gestern. Erwächst jedoch aus der Erinnerung ein neues und anderes Handeln, gestaltet es den Augenblick und eröffnet neue Perspektiven.

Hans-Karl Seeger:
Karl Leisners letzter Tagebucheintrag, am 25. Juli 1945, dem Fest des hl. Jakobus, endet mit den Worten: „Segne auch, Höchster, meine Feinde!“ […]
Eine Aussage im Seligsprechungsprozeß von Schwester Arsenia Stöger, die Karl Leisner in St. Blasien gepflegt hat, beinhaltet ein letztes geschriebenes Zeugnis von Karl Leisner:

Einige Wochen vor dem Tod KL’s [Karl Leisners] bekam ich eine Ner­venent­zündung am lin­ken Arm und mußte in sta­tionäre Behandlung nach Mün­chen-Haid­hausen. So habe ich die letzten Tage und Stun­den KL’s nicht miterlebt. KL hat mir am 1. August 1945 folgende Karte geschrie­ben:
Pla­negg, den 1. August 1945.
Liebe, Ehrwür­dige Schwe­ster Arsenia!
Wir entbehren Sie sehr und denken oft an Sie. Wir beten für Ihre baldige Gene­sung und Heimkehr. Ich segne Sie oft in Dankbar­keit und Liebe. Haben Sie viele Schmerzen? Zur Zeit bin ich auch reich geseg­net mit Lei­den. Aber wir wissen ja wofür und sprechen allezeit zum Himmelsvater „Mir ge­schehe nach Deinem Worte“ wie Unsere Liebe Frau [Lk 1,38]. Herz­lichst Ihr Karl Leisner, Kapl.

Diese Karte, die ich bis heute in einer durch­sichti­gen Hülle aufbewahrt habe, stellt auf der Rückseite eine farbige Wiedergabe des Bildes „Ver­kündi­gung“ (der Erzengel Gabriel bringt Maria die Botschaft) von Kon­rad Witz, Nürn­berg[1], dar.[2]

[1] Konrad Witz (* um 1400, † um 1445) schuf um 1440 den Marien­al­tar mit den drei Tafeln: „Joachim und Anna an der Golde­nen Pforte“, „Verkün­digung an Ma­ria“ und „Die Hll. Ka­tha­rina und Magdalena“. „Die Verkündi­gung an Ma­ria“ befin­det sich im Germanischen Natio­nalmuseum in Nürn­berg.
[2] Seligspre­chungs­prozeß: 1284

„Kaplan“ ist Karl Leisners letztes schriftliches Wort. Was mag er empfunden haben, als er es schrieb? Die Stelle eines Kaplans hatte er nie. Er hätte sie bekommen, wenn er unter normalen Verhältnissen, das heißt gesund und in Freiheit, geweiht worden wäre. Er hätte „Neupriester“ schreiben können. Aber das wäre ein Blick in die Vergangenheit gewesen. Er aber schaut noch kurz vor seinem Tod in die Zukunft. Er wollte als Priester wirken, und das, wie allgemein üblich, zunächst als Kaplan. Auch in seiner Krankenakte des Waldsanatoriums Planegg steht in der Rubrik „Beruf“ das Wort „Kaplan“. Offensichtlich hat er selbst diese Angabe gemacht; denn er wollte, […] die Herrlichkeit Christi, „die er in seinem kurzen und doch so starken Leben so geliebt“ hat „immer und überall darstellen“.[1],[2]

[1] Von Karl Leisner ist kein letztes gesprochenes Wort überliefert. Als er starb war nur sein Freund P. Otto Pies SJ bei ihm. Auch er erwähnt in „Stephanus heute“, seiner Biographie über Karl Leisner, kein letztes Wort des Sterbenden. Er beschreibt die Situation wie folgt:
Am Sonntag, dem 12. August [1945] kurz vor 5 Uhr wurde der Sterbende etwas unruhig. Der bei ihm wachende Priester betet die Sterbegebete und reicht ihm das Kreuz zum Kuß. Er versteht, betet mit und reicht die Hände zum Abschied. Bald wird der Atem kurz und oberflächlich. Mutter und Schwestern begleiten seine Seele mit ihren Gebeten über die Schwelle des anderen Lebens, wo er die Herrlichkeit Christi schauen soll, die er in seinem kurzen und doch so starken Leben so geliebt und immer und überall darstellen wollte.
(Otto Pies: Stephanus heute. Karl Leisner. Prie­ster und Opfer, Kevelaer: Butzon & Bercker 1950: 200)
[2] Siehe Link zum Vortrag.

Wir haben uns an die Vergangenheit erinnert. Wenn wir von Karl Leisner lernen, Christus zu unserer Leidenschaft zu machen und für unsere Feinde zu beten, dann gestalten wir die Zukunft hoffnungsvoll.
Gedenken an Karl Leisner, wie wir es viele Wochen gepflegt haben, erinnert daran, daß Geschichte nie nur Geschichte ist, sondern die Möglichkeit, daraus zu lernen. „Dann ist Hoffnung sinnvoll, dann kann uns Hoffnung zu entschiedenem Handeln motivieren.“ So formulierte es Joachim Gauck in seiner oben erwähnten Rede.