Schwarzer Freitag für Karl Leisner

2013_10_29_Tagebuch

 

 

Karl Leisner trauert um seine von der Gestapo beschlagnahmten Tagebücher.

 

 

 

 

Er wußte sich unter Beobachtung der Gestapo, daher ließ er seine Tagebücher in Sicherheit bringen.

Monika Kaiser-Haas befragte am 22. August 2013 ihre Mutter zur Auf­bewahrung seiner Tagebücher:
An das Haus von Frau Apollonia Mönnichs in Kleve, Hohenzollern­straße, waren Stallungen (Schuppen) angebaut. Frau Mönnichs ging je­den Morgen zum Gottesdienst in die Stiftskirche St. Mariä Himmelfahrt; von daher kannten Vater und Mutter Leisner sie.
Da sie über die Traurigkeit ihres Sohnes Karl, der große Angst hatte, die Gestapo könne seine Tagebücher beschlagnahmen, sehr verzweifelt waren, teilten sie Frau Mönnichs vermutlich auf dem Nachhauseweg von der Kirche ihre Sorge mit und baten sie um Hilfe. Gemeinsam suchten sie nach Lösungen, die Tagebücher in Sicherheit zu bringen. Frau Mön­nichs erklärte sich bereit, sie unter den Kohlen in ihren Stallungen zu verstecken. Dort lagerten sie, bis die Eltern Leisner sie auf Wunsch ihres Sohnes, bevor er aus dem RAD zurückkam, nach Hause holten. Er wollte sie wieder einsehen und bei sich haben; denn er glaubte, nach seiner Zeit im RAD werde die Ge­stapo ihn in Ruhe lassen, doch sie beschlagnahmte seine Tagebücher be­reits am Morgen nach seiner Rückkehr.

Karl Leisner notierte am Freitag, dem 29. Oktober 1937, in sein Tagebuch:
Und da kam am Freitag, 29. Oktober morgens 7.15 Uhr, Besuch von der Ge­stapo. Um 6.30 Uhr war ich in Christkönig [der Christus-König-Kirche] in der heiligen Messe gewe­sen – Kaf­fee hatte ich noch keinen getrunken. Bis 10.30 Uhr dauerte der Besuch. Gegen Quittung nahmen die beiden Her­ren [Gestapobeamten aus Düsseldorf] mir Willis und meine Tagebücher von 1928 bis 1935 mit.
Daß ich erst seit 1933 Juni im [Katholischen Jungmänner-]Verband bin, und weder ich noch Willi zur Zeit führend noch Mitglied [dort] sind[2] in der Diözese Münster, interes­sierte diese Her­ren gar nicht. Ich habe mich als Arbeitsmann des Emslandes tapfer und mit letzter Ener­gie eines getrete­nen Herzens gewehrt, aber – – – – – – Ich war hinter­her fertig und tief­trau­rig. Diesen ersten Morgen in der Heimat nach der Entlas­sung aus dem RAD ver­geß ich nie im Leben. Das Hei­ligste, Persönlichste, Feinste – – – nein, ich darf nicht dran denken, sonst über­kommt mich tiefe Trauer, daß solches ge­schehen kann im deut­schen Volk, das doch immer tiefe Achtung und Ehr­furcht vor dem andern und sei­ner Person und seinem innersten Leben hatte. Oh, es ist mir, als sei da ganz tief drinnen etwas zer­sprungen, so etwas ganz Feines. Unter bitteren Tränen schreib’ ich das. Ich bin namenlos traurig über dies Erleb­nis. Was ich mit Gott und den Brü­dern und Schwe­stern im Volk und auf der weiten Welt er­lebte an feinsten Stunden – die Taufrische dieser feinsten Dinge, das gewal­tige innere Ringen um Reife und Beruf, um Christus, Kirche und Volk, es wird zer­treten; beschämend!
Meine Seele schrie auf, war verwirrt und voll tief­ster Erregung diese ganzen Tage daheim. – Bitter, sehr bitter, aber laß dich nicht verbittern! Und vor allem: dies wunderbare Bewußtsein des „Sorget nicht ängstlich.“ – „es fällt kein Haar von euerm Haupte ohne den Willen des Vaters.“ [vgl. Mt 10,29–31] – das darf einen nicht verlassen!

[2] Vorher war Karl Leisner mit seinen Jungen Mitglied im Jungkreuzbund und im Katholischen Wandervogel (KWV).

2013_10_29_Gestapo

Die Gestapo hat folgende Bescheinigung ausgestellt:

Stapo II B. 80.10
Kleve, den 29. Oktober 1937
Nachweisung der sichergestellten Gegenstände.
1)       1 Stück persönl. Brief [Heinrich] Tenhumberg Lünten i. Westf.
2)       1 Stück Posteinlieferungsbuch f. Geldsendun­gen
3)       1 Stück Tagebuch Nr. 1 Jahrgang 1928/1929 von Willi Leisner
4)       1 Stück Tagebuch Nr. 2 Jahrgang 1930/1932 von Willi Leisner
5)       1 Stück Tagebuch Nr. 2a Jahrgang 1931 von Willi Leisner
6)       1 Stück Tagebuch Nr. 3 Jahrgang 1932/1933 von Willi Leisner
7)       1 Stück Tagebuch Nr. 5 Jahrgang 1934 von Willi Leisner
8)       1 Stück Tagebuch Nr. 6 Jahrgang 1935 von Willi Leisner
9)       1 Stück Tagebuch Nr. 4 Jahrgang 1933 von Willi Leisner
10)       1 Stück Tagebuch Nr. 1a Jahrgang 1929 [heutige Zählung Nr. 3] von Karl Leis­ner
11)       1 Stück Tagebuch Nr. 2a Jahrgang 1930 von Karl Leisner
12)       1 Stück Tagebuch Nr. 2b Jahrgang 1931 von Karl Leisner
13)       1 Stück Tagebuch Nr. 3 Jahrgang 1934 [heutige Zählung Nr. 6] von Karl Leisner
14)       1 Stück Tagebuch Nr. 4 Jahrgang 1935 [heutige Zählung Nr. 16] von Karl Leis­ner
15)       1 Stück Liederbuch Singsang (Widmung von Legler)
16)        diverse Druckschriften und Liederbücher pp.
Gegen diese Beschlagnahme erhebe ich hiermit Widerspruch Karl Leisner

Nach Kevelaer zur Mutter[1] fuhr ich dann über Goch [bei den Tanten Jul­chen und Maria vorbei]. Um 16.00 Uhr war ich glücklich da. Kaplan D. [Fritz Dyckmans[2]] gab ich die Stiftung von Tante Maria für die beiden heili­gen Messen: in Intentione I. mea (Sac. et ineff. [pro sacerdotio et ineffa­bili]) II. pro populo atque familia et omn. bene­fact. eius in iuv. [omnibus bene­factoribus eius in iuventute].[3] – Gottes Gnaden­segen wird fließen im Blute Seines geliebten Soh­nes. Von 16.00 bis 17.10 Uhr eine heilige Stunde des Erschlagenseins, des Verzich­tes, des letzten ver­klärten Glühens, des Da­heim­seins bei der Mutter! Und – das Große: letzte Weihe zu heiliger Rein­heit der Seele und des Lei­bes vor ihrem Bild. O – Con­solatrix afflictorum – Ora pro nobis! [Trösterin der Be­trübten – Bitte für uns![4]] Letzte Hingabe – letztes tiefstes Ver­trauen. – Servus Mariae nun­quam peribit [Ein Diener Ma­riens geht nie zu Grunde]. Mater habebit curam [Die Mutter wird sorgen]! Ora pro omni­bus, prae­cipue pro istis tribus! [Bitte für alle, beson­ders für diese drei![5]] Zwei Opferkerzen bren­nen groß und leuchtend. Fiat Voluntas Tua! [Dein Wille ge­schehe! (Mt 6,10)] – das sag Deinem Sohn, lieb­ste Mutter. – Und das mög Er mir schen­ken, dies unbedingte Jasagen zu Gottes Willen!
Zurück nach Erledigung dreier Postalia – eins jenes ineff. [ineffabile – un­aussprech­lich] Feine! Ja, ich schreibe es nochmals und unterschreibe es! Treue jetzt! Wenn ich’s vielleicht auch nicht restlos ver­stehe. Letzte Ent­schlossenheit!
Um 19.45 Uhr bei der Gestapo [in Kleve] um Zurückgabe der per­sönlichen Bücher, die bei Kaplan H. [Wilhelm Hetterix] mitbe­schlagnahmt wurden.[6] Das war mir versprochen worden am Mittag. Und abends bekam ich nichts. Was soll man da sagen? Ich weiß es nicht. Abends bis 23.00 Uhr im Kreise betagter Freunde zu Gast.[7] Von 23.00 bis 24.00 Uhr in stiller Stern­nacht spazieren. Die Span­nung löst sich ein wenig. Ich bete den „noch fälli­gen“ dritten [glor­reichen] Teil des Rosen­kranzes, den ich in Ke­velaer zu „flech­ten“ begann. „Der von den Toten aufer­standen ist.“ – „Der uns den Heiligen Geist ge­sandt hat“. – Ja die Resurrec­tio [Auferstehung] ist das Ende, nicht die Passio [das Leiden], die unbe­greifliches Vorsta­dium ist und bleibt! So klingt denn der Tag recht feierlich aus und recht erhebend und stolz!

[1] Karl Leisner nannte die Gottesmutter Maria oft einfach Mutter.
[2] In Kevelaer war damals auch Kaplan Franz Dahlkamp tätig.

Im Protokoll der Sitzung vom 28.2.1975 des Karl-Leisner-Kreises heißt es unter Punkt 3:
Pastor Fritz Dyckmans berichtete über seine Begegnung mit Karl in Keve­laer nach der Beschlagnahme seiner Tagebücher, die ihn tief getroffen hatte.
[3] Es handelt sich um zwei Meßintentionen: 1. In­tention für Karl Leisner selbst (mea) bezüglich des Priester­werdens (Sac.) und des Unaus­sprechli­chen (ineff.), seiner Liebe zu Elisabeth Ruby, 2. Intention für das Volk und die Fa­mi­lie und alle Wohltäter in der Jugend.
[4] Unter dem Titel „Trösterin der Betrübten“ wird die Gottesmutter Maria in Keve­laer verehrt.
[5] Gemeint sind vermutlich die zuvor genannten Anlie­gen:

1. Priesterwerden und Liebe zu Elisa­beth,
2. Volk und Familie,
3. Wohltäter in der Jugendzeit.

[6] s. URL http://www.heimat-kleve.de/geschichte/chronik/17.htm – 2.2.2012

[7] Vermutlich Freunde von Vater Wilhelm Leisner wie z. B. Eduard Bettray, Franz Peiffer u. a.

Es ist erstaunlich, daß die Gestapo keine Vornotizen von Karl Leisner mitge­nommen hat. Entweder wurden sie nicht gefunden, waren ausgeliehen, oder es war ihm in seiner kämpferischen Art gelungen, den Beamten klar­zumachen, daß die Vornotizen in den Tagebüchern enthalten sind.

Wilhelm Leisner aus Kleve am 7. November 1937 an Bernhard Ruby in Backnang:
Lieber Arbeitsmann!
[…] und dann wollten wir Dir auch etwas Pikantes mitteilen. Donnerstag, 28.10. nachmittags, 4.00 Uhr kam Karl aus dem Arbeitslager bzw. von Münster von der Generalreinigung [den Exerzitien]. Freitagmorgen [29.10.1937] ging er 6.30 Uhr zur Messe und ge­stärkt im Herrn empfing Karl 7.15 Uhr die Herren der Gestapo aus Düs­seldorf, die sich drei Stunden lang angelegentlichst mit Karl unter­hielten über den aufgelösten Jung­männerverband [KJMVD] im Bistum Münster. All die schönen Tagebücher von Karl und Willi und sonstige Kleinigkeiten nah­men sie mit. Etwa 50 Beamte hielten schlagartig überall [in Kleve und Umgebung] Haussuchung. Karl hat um je­des Buch gekämpft wie ein Löwe. Wir wa­ren schließlich froh, daß dieser Kämpfer am 2.11. ins [Col­legium] Borro­maeum ab­reiste, von wo er uns schrieb, daß er seine Ruhe wieder­bekommen hätte. Die ganze Sache verlief natürlich etwas lebhafter als wie ich sie hier schildern kann.

Während Karl Leisner auch nach der Beschlagnahme seine Art Tage­buch zu führen bis auf häufigere Verschlüsselungen weitgehend beibehielt, orien­tierte sich sein Bruder Willi diesbezüglich anders.

Willi Leisner aus Berlin am 22. Februar 2006 an Hans-Karl Seeger:
Nach der Beschlagnahme von Karls und meinen Tagebüchern wollte ich nicht für die Gestapo schreiben. Die Unterlagen für meine Romfahrt 1937 hinterlegte ich bei [Anna] Maria Vehreschild [geb. Kempkes] am Mittel­weg. Ich habe seit der Zeit meine Hinweise in Stichworten in den Taschen­kalendern ver­merkt, zum Teil verschlüsselt.]

Willi Leisner war während der Beschlagnahme in Bingen, wohin er sein Tagebuch Nr. 7 mitgenommen hatte.

Bezüglich der beschlagnahmten und wiedergefundenen Tagebücher existie­ren folgende Dokumente:

Elisabeth Schulenkorf aus Vreden/Westfalen, Oldenkotterstraße 11, am 16. September 1945 an Familie Wilhelm Leisner in Kleve:
Sehr geehrte Familie Leisner!
[…] Ich habe im Juli [1945] von jemand in Münster drei Tage- und Fahr­ten­bücher von Karl be­kommen, die er beim Durchsuchen des Gestapo­hau­ses in Mün­ster fand. Vom münsterischen Gericht aus waren die Ju­risten nämlich damit beauftragt, die Ak­ten etc. aufzuräumen. Nun war der Bru­der von einer Bekannten aus der Schön­statt-Jugend dabei. Er nahm die Hefte an sich und so bekam ich sie dann. Ich möchte sie Ihnen zustel­len, sobald es geht.
Nun wünsche ich Ihnen alles Gute!
Haben Sie Ihr Heim [in Kleve, Flandrische Straße 11] behalten dürfen? Ihre Anschrift fand ich in ei­nem der Hefte[1].
Mit den besten Grüßen! Elisabeth Schulenkorf

[1] Tagebuch Nr. 1, nach heutiger Zählung Nr. 2

Wilhelm Leisner aus Kleve am 20. Juni 1960 an Götz Freiherr von Pölnitz:
Er [Karl Leisner] hat seit seinem 14. Lebensjahr 16 Tagebücher geschrie­ben, die am 29.11.[10.]1937 bei der Auflösung der katholischen Jugend von der Gestapo hier in Kleve beschlagnahmt und beim Umbruch 1945 im Gestapokeller in Münster in Westfalen – teilweise im Dreck und Speck – wiedergefunden wurden.

Wilhelm Haas:
Die Tagebücher – 1945 im Gestapokeller in Münster wieder aufgefunden – wer­den intensiv von der Gestapo ausgewertet: für sie wichtige Eintra­gungen sind mit Rotstift markiert worden.[1]

[1] Haas, Wilhelm: Endlich frei von der verdammten Nazityrannei. In: Hei­mat­kalender für das Klever Land 1986, Kleve 1985: 43

Auch in nicht beschlagnahmten Tagebüchern finden sich Unterstreichungen in roter Farbe.

Wilhelm Haas:
Etwa 1950 konnte ich dann auch die damals noch im Gestapokeller zu Mün­ster vorhandenen [drei] Tagebücher des DG [Diener Gottes Karl Leisner] einsehen, die von einer Dame gefunden und zu dem späteren Bischof [Heinrich] Tenhumberg ge­bracht worden waren.[1]

[1] Martyrerprozeß: 164

Willi Leisner aus Berlin am 26. April 2000 an Hans-Karl Seeger:
Da Karl und ich unterschiedlich wichtig waren, haben die Nazis Karl und mich und unsere Tagebücher auch unterschiedlich behandelt. Ich habe nur Tagebuch Nr. 5 [von sieben beschlagnahmten] wiederbekommen, das in Münster an einer an­deren Stelle aufbewahrt wurde als Karls Tagebücher.
Meines Wissens hat sich Heinrich Tenhumberg bemüht, Karls Tage­bü­cher wiederzubekommen.

Willi Leisner aus Berlin am 28. August 2004 an Hans-Karl Seeger:
In einer Sparkasse in Münster waren Unterlagen der Gestapo aufbe­wahrt.[1] Beim Aufräumen fand eine Frau ein Tagebuch [Nr. 5] von mir und schickte es an die darin notierte Anschrift: Wilhelm Leisner in Kleve[, Flandrische Straße 11]. So kam das Tage­buch an meinen Vater nach Kleve, und ich bekam es später nach Berlin.

[1] Zu der erwähnten Sparkasse wurden keine näheren Angaben gefunden.

Willi Leisner aus Berlin am 11. Januar 2006 an Hermann Gebert in Sim­mern/Ww.:
Meine Tagebücher lagen bei einer untergeordneten NS-Stelle, weil ich nur Dekanatsjungscharführer war. Diese Kontrollstelle arbeitete in einer Bank-Stelle, die für die Nazis räumen mußte. Als sie wieder in die Bank durften, fand eine Angestellte eines meiner Tagebücher (Nr. 5) und schrieb an die Klever Anschrift. Da in Berlin Blockade war, erbat sich Vater die Sendung nach Kleve.