„Tausend und eine Nacht“ im Konzentrationslager

 

Noel Daniel u. a. (Hrsg.)
Kay Nielsens Tausendundeine Nacht

Mappe mit 21 Kunstdrucken und dreisprachigem Begleitbuch
Köln 2018, 168 S., geb., 250,00 €

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Unter der Überschrift „Der versteinerte König – Vor hundert Jahren schuf Kay Nielsen opulente Bilder zu ‚Tausendundeiner Nacht’. Lange verschollen, erscheinen sie jetzt in voller Pracht“ besprach Tilmann Spreckelsen in der F.A.Z. vom 21. April 2018 das „Bilderbuch“ zu „Tausend und einer Nacht“.

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Gustav Weil
Tausend und eine Nacht

Sammlung morgenländischer Erzählungen – Klassiker der Welt­literatur – Rahmen­erzäh­lung mit Schachtel­ge­schichten
verschiedene Verlage

 

 

 

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Wie kamen KZler dazu, ihre Situation mit „Tausend und einer Nacht“ zu vergleichen?

KZ-Priester Andreas Rieser:
Am Vorabend [7.12.1940] des Immaculatafestes [am 8.12.]1940 wurde die­selbe Bot­schaft [„nicht mehr arbeiten dürfen, sondern nur noch beten“] den Prie­stern in Mauthausen und Gusen mitgeteilt. Wir Buchenwalder Priester aber wurden an diesem Vigiltag zwecks Besserstellung und Got­tes­dienst nach Dachau überstellt und trafen in geheizten Personen­wagen in Be­gleitung eines SS‑Arztes in Dachau ein. Von der Dachauer SS wur­den wir am Bahnhof Dachau mit abscheulichem Fluchen und Schimp­fen empfan­gen. Die Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1940 ver­brach­­­ten wir auf dem har­ten Betonboden im Dachauer Häftlingsbad.
Am 8. Dezember 1940, dem hohen Fest der Unbefleckten Emp­fäng­nis Mariens, gab es dann ein freudiges Wiedersehen mit vielen alten Bekann­ten. Sie erzählten uns Dinge, die wie ein Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ klangen. Wir kamen in eigene Baracken mit ordent­li­chen Betten und sauberer Bettwäsche.[1]
[1] Rieser, Andreas: Schutzhäftlinge Mariens. In: Fattinger 1949: 309–316 hier 312

Was war geschehen?

Monika Knop von der Gedenkstätte Sachsenhausen am 16. November 2010 an Hans-Karl Seeger:
[…] als das Reichskirchenministerium am 6. November 1940 Kardinal Bertram mitteilte, dass nach einer Entscheidung [Heinrich] Himmlers alle Geist­li­chen im KZ Dachau zusammengefasst werden, wurden tatsächlich am 13.12.1940 527 Geistliche nach Dachau trans­portiert. Das war von Sach­sen­hausen der einzige Massen­transport, der Geistliche nach Dachau trans­portierte. Danach bis 1944/45 folgten fast nur noch Transporte mit weni­gen bzw. einem Geist­lichen. Nicht alle kamen nach Dachau, zwei wurden nach Neuen­gamme, einer nach Flossenbürg, Mauthausen und mindestens einer nach Bergen-Belsen gebracht. Auch wurden zwischen 1941 und 1944/45 noch Geistliche (mindestens neunzig Häftlinge) im KZ Sachsen­hausen eingeliefert, die meisten von ihnen aber einige Wochen später nach Dachau verlegt. Eine Erklärung dafür habe ich leider nicht, denn aus den bei uns vorhandenen Unterlagen geht es nicht hervor.

Erklärungen

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonfe­renz Adolf Kardinal Bert­ram aus Breslau am 26. März 1940 an den Reichsminister für die kirchlichen An­gele­genheiten Hanns Kerrl:
C. A. 1925
Am 22. Juli 1938 habe ich an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin namens der Oberhir­ten aller Diözesen Deutschlands die Bitte ge­richtet, anzuordnen, daß in den Konzen­trations­lagern für die katholischen Schutz­häftlinge regel­mäßiger katholischer Gottesdienst und Seel­sorge eingerich­tet werde, sowie insbesondere seelsorgliche Besuche der Kran­ken und Spen­dung der Sterbesakramente auf rechtzeitige Verständigung des zu­stän­digen Geistlichen zu­gelassen werden. Dabei habe ich auf Art. 28 des Reichskonkordats Bezug genommen und noch mehr auf das seelsorg­liche Bedürfnis der Inhaf­tierten, zu dem noch besonders der ver­söh­nende Ein­fluß der Religion und ihrer Gnaden­mittel hinzutritt. Laut Schreiben des Reichskir­chenministeriums vom 30. August 1938 G. II. 4565 ist dieses Ge­such abgelehnt aus sicher­heitspolizeilichen Gründen, obwohl ich die Er­füllung der Pflicht der Bischöfe, für die Beob­achtung al­ler Ordnungs­vorschriften ihrerseits Sorge zu tragen, zugesagt habe. Da ich mir nicht denken kann, daß auf die Dauer den Schutzhäftlingen selbst jene seel­sorgliche Hilfe verweigert bleiben könne, deren selbst die schwersten Ver­brecher in Zuchthäusern – si­cher nicht zum Nachteil der staatlichen Inter­es­sen – sich erfreuen, so bitte ich das Reichskir­chenmi­ni­sterium, diese Angelegenheit erneuter Prüfung unterziehen zu wollen. Es ist mir nicht möglich, bei jenem Bescheid mich zu beruhigen. Habe ich doch von Kind­­­heit an und in der katho­lischen Volksschule und im katholi­schen Gym­nasium, dem ich meine Ausbildung verdanke, stets den Grundsatz gehört und befolgt gese­hen, daß man bei aller Treue zur eige­nen reli­giö­sen Überzeu­gung stets pietätvolle Achtung und Rücksicht dem religiösen Innenle­ben An­dersdenkender zu erweisen verpflichtet sei: ein Grundsatz, den man doch auch im Bereiche der nationalsozi­ali­stischen Weltanschau­ung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu beo­bachten bestrebt sein wird. Und hat doch noch in den letzten Mo­naten das Oberkommando der Wehrmacht in verständiger Würdigung des Ein­flusses religiö­ser Übung entgegenkommende Vergünstigung ge­währt für Gottesdienst und Seelsorge der Kriegsgefangenen, insbeson­dere der in schwerer Erkran­kung befindlichen. Wenn ich den Bericht der Komman­dantur des Konzen­trationslagers Buchenwald d. d. Weimar-Bu­chenwald d. 3. Februar 1940 über die Krankheit und das Ende des früher zu meiner Diözese ge­hören­den Erzpriesters Paul Polednia lese, wirkt es ge­radezu er­schütternd zu den­ken, wie ein Greis in so entsetzlichem Krankheitszu­stande selbst alles seelsorglichen Trostes entbehren mußte.
Meine Bitte geht dahin, das Reichskirchenmi­ni­sterium wolle gütigst ver­mitteln, daß

  1. wenn nicht regelmäßiger, doch periodischer Gottesdienst und Seel­sorge in Konzentrations­lagern gestattet werden möge;
  2. bei lebensgefährlicher Erkrankung das zuständige Pfarramt, bezw. ein von staatlicher Seite zugelassener benachbarter Geistlicher rechtzei­tig zwecks Spendung der Sterbesakra­mente verständigt werde;
  3. den inhaftierten Geistlichen die stille Per­solvierung [Verrichtung] des Brevier­ge­bets gestattet bleibe und nicht behindert werde, aus der sie ge­rade in see­lisch schweren Stun­den Kraft zu geduldiger Ausdauer und see­lisches Gleich­gewicht schöp­fen; und
  4. die Erdbestattung für die Leichen derjeni­gen Inhaftierten gestattet bleibe, die vor ihrem Ende, oder in deren Vertretung die Angehörigen sol­che verlangen.

Es würde angesichts der schweren Prüfung, die das Konzentrations­la­ger jedem Inhaftierten bringt, versöhnend und für die Angehörigen be­ru­hi­gend wirken, wenn wenigstens in diesen Stücken aus Gründen huma­ner Behandlungs­weise Entgegenkommen geübt würde.
gez. A. Card. Bertram[1]
[1] Erzbischöfliches Archiv Freiburg Nr. 4288

Hanns Kerrl am 9. November 1940 an Adolf Kardinal Bertram:
Berlin W 8, den 9. November 1940, Leipziger­straße 3
II 5431/40.
An den Herrn Erzbischof von Breslau Kardinal Bertram in Breslau.
Betrifft: Behandlung der Geistlichen in Konzen­trationslagern.
Dortiges Schreiben: C. A. 1925 vom 26. März 1940.
Nach einer Entscheidung des Reichsführers-SS und Chefs der Deut­schen Poli­zei [Heinrich Himmler] werden nunmehr sämtliche bisher in ver­schie­denen Konzentrationslagern unterge­brachten Geistlichen im K. L. Dachau zusam­mengefasst werden. Dort werden sie nur mit leichten Ar­beiten be­schäftigt. Auch wird ihnen Gelegenheit gegeben, täglich die Messe zu lesen oder zu besuchen. Die erforderlichen Meß­geräte nebst Zubehör ste­hen zur Verfügung.
Wie mir der Chef der Sicherheitspolizei und des SD weiterhin mitteilt, kann jedoch von der Einäscherung der Leichen von im Konzentrations­la­ger verstor­benen Geist­lichen wie bei allen ande­ren Schutzhäftlingen aus grundsätzlichen Erwägungen nicht abgese­hen werden.
Im Auftrage, gez. [Josef] Roth.[1]
[1] Erzbischöfliches Archiv Freiburg Nr. 15154

Im Archiv der Pfarrei St. Jakob Dachau (Nr. 28/12–1) befindet sich ein Brief vom 9. November 1940, in dem Bischof Heinrich Wienken, Breslau, Wich­mannstraße 14, an Domkapitular Johannes Neuhäusler in München schrieb, auf die Eingabe der Fuldaer Bischofs­konfe­renz vom 26. März 1940 die Ver­günstigungen für Geistli­che im KZ betreffend sei eine Antwort erteilt wor­den. Danach seien nun sämtli­che Geistlichen im Lager Da­chau zusam­men­­zu­fassen. Sie würden dort mit leichte­ren Ar­beiten beschäftigt und dürften täg­lich die hei­lige Messe lesen. Die Meßutensilien seien, wie es be­sonders be­tont wird, vorrätig.

Wie wenig die Situation danach „Tausend und einer Nacht“ vergleichbar war, zeigt sich schon daran, daß die Möglichkeit für die Priester, eine Messe zu feiern, zwar im KZ Sachsenhausen bereits bestand, im KZ Dachau aber erst später erfolgte.

Montag, 5. August 1940
Im KZ Sachsenhausen wurde eine Kapelle in Block 57 eingerichtet[1], so daß die Häftlinge ab Montag, dem 5. August 1940, dem Fest Ma­ria Schnee, dort jeden Mor­gen die heilige Messe feiern konnten. Einen Meßkof­fer hatte die Kommandantur des KZ zur Verfü­gung ge­stellt.[2] Karl Leisner durfte als Dia­kon die Kommunion austeilen.
Bisher ist noch kein Dokument über die An­ordnung aus Berlin zur Errich­tung einer Kapelle im KZ Sachsenhau­sen aufgetaucht. Es gibt lediglich zahl­reiche Berichte darüber, daß eine Kapelle eingerichtet und Gottesdienste ge­feiert wurden. Im Dezember 1940, als alle Priester ins KZ Dachau verlegt wurden, löste man die Kapelle wieder auf.
[1] Wilhelm Haas aus Kleve am 13.9.1975 an Kazimier Majdański in Włocławek:
Wir […] entdeckten, daß Karl einen Ehrenplatz im Fenster des internationalen Museums hat. Wo die Kapelle stand, liegt heute ein Gedenkstein Nr. 57.
[2] s. Lenz, Johann: Christus in Dachau oder Christus der Sieger. Ein religiöses Volksbuch und ein kirchen­geschichtliches Zeugnis (mit 100 Bildern). Für Priester und Volk, Wien 61957: 77 u. 85 (zit. Lenz 1957)

Im Januar 1941 änderte sich die Situation der Priesterhäftlinge durch die Ein­richtung einer Lagerkapelle auf Block 26. Vermut­lich sollte sie wie im KZ Sachsenhausen bereits im August 1940 geschaffen werden, wurde aber erst auf Grund des ange­kündigten Besuches von Heinrich Himmler realisiert. Sie wurde zum Schaustück der Lagerleitung für Besucher des KZ.[1]
[1] s. Rundbrief des IKLK 2005 – Nr. 50

KZ-Priester P. Johann Lenz:
Ein ähnlicher Befehl [wie im KZ Sachsenhausen] muß wohl seit Anfang August 1940 schon dagewe­sen sein. Am 5. August 1940 wurde nämlich in Sachsenhausen schon die erste heilige Messe gefeiert. Wir [Priester] aber in Dachau kamen noch bis zum Dezember [1940] in die Strafkompanie.[1]
[1] Lenz 1957: 79

KZ-Priester P. Hugo Montwe OFMCap:
Schon lange sollte eine Kapelle kommen und sie war auch von Berlin be­fohlen. Aber [die Lagerführer Franz] Hofmann und [Egon] Zill wehr­ten sich dagegen, solange es ging. Als dann im Januar 1941 Himmler gemeldet wurde, war die Kapelle in einigen Stunden fertig.[1]
[1] Montwe, Hugo: Erinnerungen an Dachau [1945 aufgeschrieben]. In: Assisi-Glöcklein. Familien­nach­rich­ten der Rhein.-Westfäl. Kapuzinerprovinz Nr. 29–40 (1952–54) 1945 VIII: 28

KZ-Priester Hans Carls:
Auf Block 26 gab es seit 1941 einen Gottesdienstraum. Dieser mußte da­mals auf Befehl Himmlers plötzlich in ein paar Tagen einge­richtet werden.[1]
[1] Hans Carls in: Stimmen von Dachau, 15. Dezember 1947 – Nr. 12: 43

Im September 1941 war das Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ vorbei.

Freitag, 19. September 1941
Alle reichsdeutschen Priester im KZ Dachau kamen auf Block 26, die polni­schen auf Block 28 und 30. Diese beiden Blöcke wurden wieder „Ar­beits­blöcke“, d. h., die Insassen wurden in Arbeitskommandos eingeteilt.

Anonymus:
Am 20. [19.] September 1941 fing neuerdings eine schlechte Epoche für uns Geistliche an. Nachmittags erschien plötzlich der Lagerführer (Egon) Zill in unserer isolierten Abteilung.[1] Er kam mit einem ganzen Stab der SS. Der Befehl lautete: „Alle zu Block 26!“, er war derjenige, in dem sich die Kapelle befand. Wir beeilten uns und standen unbeweglich in langen Rei­hen vor der verfinsterten Miene des Lagerführers. Der war klein von Wuchs und ließ sich eine Tribüne bringen. Mit bösem Blick betrachtet er die lange Reihe der Fremdlinge. Jeden kann er mit seinem Geisterblick durchboh­ren. Dann schreit er: „Reichsdeutsche nach rechts raustreten!“
Ungefähr 200 Priester stellen sich auf die rechte Seite. Nun stellt sich Zill auf die Zehen, überblickt diese ausländische Menge mit bösem Blick und gröhlt: „Wer von euch bekennt sich zum Volksdeutschtum?“
Wir stehen unbeweglich wie ein Mann. Zill zieht die Brauen zusam­men und schreit abermals: „Ich frage zum zweiten Mal, wer von euch be­kennt sich zum Volksdeutschtum?“
Wir bewegen uns nicht von der Stelle. Die Frage verhallt wie unge­hört. Voll Wut wiederholt er nochmals: „Ich frage zum dritten Mal, wer von euch bekennt sich zum Volksdeutschtum? Heraustreten!“ Er wartet und schaut böse drein. Niemand rührt sich. Doch auf einmal traten zwei vor: einer aus Warschau und einer aus Krakau. Sie wußten nicht, worum es ging – denn sie hatten ihn gar nicht verstanden. – Zill aber brüllt auf uns los: „Ab heute sind alle Lagervergünstigungen aufgehoben. […] Die fremd­­­völkischen Geistlichen sind wie alle anderen Strafgefangenen zu behandeln! Wegtreten!“[2]
[1] Am 10.3.1941 waren die Priesterblöcke 26, 28 und 30 durch Drahtgitter und Tor vom restlichen Lager isoliert worden.
[2] Bericht im Karmel von Dachau