Am 9. November 1939 wurde Karl Leisner im Fürstabt-Gerbert-Haus, einem Lungensanatorium in St. Blasien, verhaftet. In Bezug auf diesen Vorgang gibt es unterschiedliche Sichtweisen.
Verhandlungszimmer im Fürstabt-Gerbert-Haus
Oberstudienrat Thomas Mutter, Ortsvorsitzender der CDU, veröffentlichte in der Badischen Zeitung vom 9. November 1981 folgenden Artikel über Karl Leisners Verhaftung vor 42 Jahren.
Badische Zeitung
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Auszug aus dem Artikel
Bei einem Spaziergang teilte er [Karl Leisner] seine Gedanken zum Hitler-Regime einem Begleiter mit, den er für vertrauenswürdig und gleichgesonnen hielt. So äußerte Leisner auch seine Enttäuschung über das mißglückte Attentat auf Hitler. Und damit war die nicht mehr anzuhaltende Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt. Der Vertraute des Spaziergangs erstattete Anzeige bei der Ortsgruppenleitung [Ortsgruppenleiter Adolf Wehrle[1]] und gleichzeitig, als zusätzliche Kontrolle und Absicherung, bei der Kreisleitung [Kreisleiter Benedikt Kuner[2]]. Bei der im Volk bekannten Schärfe des seinerzeitigen Kreisleiters war also an eine Verharmlosung oder gar Vertuschung des Falles nicht mehr zu denken.
[1] Ortsgruppenleiter Adolf Wehrle (* 2.1.1895 in Breitnau, † 21.11.1983 in Freiburg/Br.) – Ortsgruppenleitung u. Kurdirektor in St. Blasien mit Sitz im Rathaus – Umzug nach Freiburg/Br., Sulzburger Str. 1, 3.11.1970
[2] Benedikt Kuner (* 20.3.1889, † Suizid durch Erhängen beim Einzug der Amerikaner 14.5.1945) – Kreisleiter der NSDAP in Neustadt – Laut Pfarrer Stephan Andris, Pfarrer von Gündelwangen im ehemaligen Kreis Neustadt, zeigte sich Benedikt Kuner im Gespräch mit Hermann Gebert am 23.6.1999 als fanatischer Nazifunktionär.
Heinrich Heidegger[1], Pfarrer von St. Blasien, schrieb am 10. November 1981 an Ehepaar Haas in Kleve und bat um Aufklärung.
[1] Pfarrer Heinrich Heidegger (* 31.3.1928 in Meßkirch) – Priesterweihe 30.5.1954 in Freiburg/St. Peter – Pfarrer in St. Blasien 1.10.1971 bis 15.9.1991 – Neffe des Philosophen Martin Heidegger – wohnhaft in Meßkirch
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Nachfolgend der Verlauf der Verhaftung entsprechend der Lebens-Chronik zu Karl Leisner[1]:
[1] Karl Leisner – Tagebücher und Briefe – Eine Lebens-Chronik, 5 Bände, Herausgegeben von Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel im Auftrag des Internationalen Karl-Leisner-Kreises (IKLK) unter besonderer Mitarbeit von Christa Bockholt, Hans Harro Bühler und Hermann Gebert, Kevelaer 2014: Band 3: 1870ff.
Karl Leisner bewohnte, wie auch Johann Krein[1], ein Einzelzimmer, gemeinsam aber teilten sie die Terrasse. Der Chefarzt Dr. Ernst Melzer[2] hatte Karl Leisner den psychisch angeschlagenen Johann Krein eigens als Nachbarn gegeben, weil er sich einen beruhigenden Einfluß auf diesen erhoffte.
[1] Johann Krein (* 21.1.1911 in Karthaus bei Trier als Sohn katholischer Eltern, † 29.6.1947 in Heidelberg) – Er kam im Juni 1939 von Saarbrücken aus in die Lungenheilstätte Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Blasien und war Mitpatient von Karl Leisner und Kaplan Alexander Stein. Unter den drei Patienten herrschte ein reger und vertrauter Gedankenaustausch. Weihnachten 1939 wurde er entlassen. Erst 1946 erfuhr er vom Schicksal Karl Leisners. 1946 wohnte er in Trier, Klosterstr. 22.
[2] Dr. med. Ernst Melzer (* 22.11.1900 in Frankenstein/Schlesien/Ząbkowice Śląskie/PL, † 10.11.1981 in Waldshut-Tiengen, beigesetzt in St. Blasien) – Chefarzt (Obermedizinalrat) – Facharzt für Lungenkrankheiten im Lungensanatorium Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Blasien 1933–1966 – Er behandelte 1939 Karl Leisner. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.
Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ[1] in Rottmannshöhe:
Beide [Karl Leisner und Alexander Stein[2]] kannte ich schon länger vom gemeinsamen Mittagstisch. Wir haben dann manche schöne Wochen und Monate miteinander verlebt und waren richtige Leidensgenossen geworden. Unser Leiden vergaßen wir oft beim Skatspiel, beim Lesen, bei gemeinsamen Spaziergängen, bei gemeinsamen Gottesdiensten und nicht zuletzt bei gemeinsamen religiösen und politischen Aussprachen. Sie hatten sehr schnell erkannt, daß ich, was die großen Fragen des Lebens anbelangt, mit ihnen vollkommen einig ging, daß ich die Kirche bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch Andersgläubigen und Parteigenossen gegenüber mit Nachdruck vertrat und daß ich mir über die Zukunft des nationalsozialistischen Staates in bezug auf Glaubensfragen meine Gedanken machte. Doch muß auch erwähnt werden, daß in Sachen Hitler jeder von uns dreien die Zukunft sich anders vorstellte. Ich war damals ehrlich noch von seiner „Größe“ überzeugt (1939!), ich verwarf offen zwar die Auswüchse, aber ich glaubte fest daran, daß es einen Sieg und eine Glaubensfreiheit geben müßte. Herr Kaplan Stein wich in seiner Auffassung schon etwas ab; immerhin fiel es auch ihm schwer, eine Niederlage herbeizuwünschen, um die Nazis loszuwerden. Herr Leisner (der selige Hochwürdige Herr Leisner) lehnte radikal Hitler ab, ließ sich durch keine Sondermeldungen irre machen und sah das Heil der Kirche nur in einer Niederlage und der Vernichtung des Nazismus. Er sagte schon damals, daß der furchtbare Feind Nazismus nur um den Preis des Sieges (also nur durch eine Niederlage) vernichtet werden könnte. Wie recht hat er behalten! Unsere Gespräche waren monatelang so, daß sie kein vierter hören durfte; aber jeder von uns wußte, daß wir unter uns uns frei über dieses Thema unterhalten durften. Unser Verhältnis wurde immer freundschaftlicher und offener und das, obwohl mir wiederholt von gehässigen Mitinsassen des Hauses mein Verkehr mit den „Schwarzen“ unter verschiedentlichem Hinweis auf meine Parteizugehörigkeit verübelt wurde.
[…]
In jenem furchtbaren November erfuhren wir auf der Terrasse die Nachricht von dem mißglückten Attentat auf Hitler. Ich kann mich erinnern, alles war in Aufregung und ich selbst wie alle ehrlich glücklich, daß Hitler nichts passiert war. In dieser Stimmung trat ich auch in das Zimmer von Herrn Leisner. Ich teilte ihm ohne irgendeinen Hintergedanken das Geschehen mit, mußte jedoch feststellen, daß er bereits unterrichtet war. Er sagte dann: „Schade, daß er nicht dabei gewesen ist.“ Ich vergesse diese Worte nie. Ich weiß auch heute, wie richtig sie waren. Was wäre uns an Leid erspart geblieben, wenn Hitler damals umgekommen wäre. Der Wahrheit die Ehre: Ich weiß aber auch, daß ich mich damals entsetzte; wenn ich auch seine Abneigung gegen Hitler kannte, so hatte ich doch nicht geglaubt, daß er in dieser Situation diesen Wunsch aussprechen würde. Ich verließ erregt das Zimmer.
[1] Pater Dr. Johannes Otto Pies SJ, Deckname im KZ Hans u. Spezi, (* 26.4.1901 in Arenberg, † 1.7.1960 in Mainz) – Eintritt in die Gesellschaft Jesu in ’s-Heerenberg/NL 14.4.1920 – Priesterweihe 27.8.1930 – Letzte Gelübde 2.2.1940 – Am 31.5.1941 wurde er wegen eines Protestes gegen die Klosteraufhebungen verhaftet. Am 2.8.1941 brachte man ihn aus dem Gefängnis in Dresden ins KZ Dachau, wo er die Häftlings-Nr. 26832 bekam. Dort war er eine der ganz großen Priestergestalten. Am 27.3.1945 wurde er ohne Angabe des Grundes und ohne Bedingung entlassen. Bereits im KZ und auch nach seiner Entlassung setzte er sich unermüdlich für Karl Leisner ein. Ohne ihn wäre es vermutlich nicht zur Priesterweihe im KZ gekommen.
[2] Prälat Alexander (Alex) Stein (* 3.1.1911 in Frankfurt-Nied, † 6.7.1980) – Priesterweihe 8.12.1937 in Limburg – Kaplan in Holler bei Montabaur 1.1.1938 bis 31.5.1939 – Aufenthalt in St. Blasien 1.6.1939 bis 30.6.1940 – Mitpatient von Karl Leisner – Krankenhausseelsorger in Geisenheim 1.7.1940 bis 17.8.1946 – Domvikar in Limburg 1.11.1950 – Monsignore 12.6.1957 – Päpstlicher Hausprälat 8.11.1965
Obwohl Johann Krein Karl Leisners Einstellung kannte, war er über dessen Äußerung zum Attentat entsetzt. Etwas später fanden sich einige Zimmernachbarn auf der Terrasse ein und sprachen über das Attentat. Jeder beteuerte auf seine Art, wie verachtenswert diese Tat gewesen sei. Ihnen fiel auf, wie einsilbig Johann Krein blieb.
St. Blasien ca. 7.45 Uhr
Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ in Rottmannshöhe:
Einige Zeit später – ich lag auf der Terrasse – unterhielten sich einige Nachbarn über das Attentat. Jeder – wie es nun damals Mode war – beteuerte in seiner Art, wie verabscheuungswert das Ereignis sei. Ich schwieg lange in meinem ehrlichen Ingrimm über das bei Herrn Leisner vorher Gehörte. Herr Leisner war übrigens nicht anwesend. Schließlich fiel den übrigen meine Nichtteilnahme an der Debatte auf und einer fragte mich auch um meine Meinung. Ich erwiderte ohne lange Überlegung, es seien nicht alle der gleichen Meinung wie sie und auch ich, wobei ich mit dem Kopf nach dem Zimmer von Herrn Leisner wies. Die Eile und die Eindringlichkeit, mit der dann ein Herr aus dem Magdeburgischen[1] – seinen Namen habe ich vergessen, aber der wäre leicht festzustellen – auf mich eindrang, um Näheres zu erfahren, hätte mich warnen müssen. Aber ich gestand diesem schließlich auf sein Drängen hin, was Herr Leisner gesagt hatte. Sofort danach war mir klar, daß ich das Thema unter allen Umständen hätte abbiegen müssen und koste es was es wolle, die Fragen des benannten Herrn nicht hätte beantworten dürfen. Es spielte sich alles dann mit Blitzeseile ab. Der Herr war im Nu von der Terrasse verschwunden, und ich sah in wenigen Minuten ihn unten auf der Straße. Ich rief ihm wiederholt nach, er möge stehenbleiben, aber er ging eilenden Schrittes Richtung St. Blasien. Schließlich lief ich ihm nach, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, und dann als er mir drohte, mich auch anzuzeigen, begleitete ich ihn zur Ortsgruppe. Dort bestätigte ich dann blutenden Herzens, was er vortrug, und ich tat dies auch später gegenüber dem vernehmenden Parteibeamten. Ich stellte Herrn Leisner als einen guten ehrlichen Kameraden hin, daß mir seine Inhaftierung furchtbar war, brauchte ich nicht zu schildern, das sah der ganze Kreis, zu dem auch der Chefarzt des Hauses gehörte.
[1] Schwester Marcella Nold:
Ein anderer Patient, der in Zimmer 204 gelegen hat und ein eifriger Nazi gewesen ist, hat von diesem Wort [schade] auch erfahren (Seligsprechungsprozeß: 1381).
Ernst Melzer:
Am 8.11.1939 wurde auf Hitler ein Attentat verübt, das in weiten Kreisen eine erhebliche Erregung hervorrief und zu einer Fanatisierung von Anhängern der NS‑Partei führte. In dieser Situation entschlüpfte Karl Leisner vor Ohrenzeugen das Wort „schade, daß er nicht dabei war“ (gemeint war Hitler). Zwei Mitpatienten, darunter Herr Grein [Johann Krein][1], haben diese Äußerung beim Ortsgruppenleiter Wehrle in St. Blasien mündlich vorgetragen, ohne mir davon Kenntnis zu geben, andernfalls hätte ich die Sache im Rahmen des Hauses bereinigen können. Herr Wehrle meldete die Sache telefonisch dem Kreisleiter Kuner in Neustadt, der mir als fanatischer NS‑Anhänger und Katholikenfeind bekannt war. (Nach dem Krieg hat er sich selbst erschossen.)[2]
[1] Der zweite Patient war vermutlich der „Herr aus dem Magdeburgischen“.
[2] Seligsprechungsprozeß: 1451
Ernst Melzer:
Zwei Mitpatienten (ich habe mir nur den Namen des einen behalten, der, soweit ich mich erinnere, Krein hiess) gingen, ohne mich zu informieren, zum Ortsgruppenleiter. Dieser telefonierte mit dem Kreisleiter Kuner in Neustadt, der sich sofort auf den Weg machte.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1456
St. Blasien 9.30 Uhr
Der Kreisleiter der Partei in Neustadt, Benedikt Kuner, und Ortsgruppenleiter Adolf Wehrle erschienen im Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Blasien mit zwei Beamten der Polizei.[1] Karl Leisner, noch in Soutane[2], wurde von seinem Zimmer zum Verhör ins Empfangszimmer, welches zugleich Bibliothek für die Kranken war, geholt.[3] Die Parteileute forderten Schwester Marcella Nold[4] auf, das Protokoll zu schreiben, aber die Hausoberin Schwester Zaccaria Fischer[5] hatte den Mut, es ihr nicht zu erlauben. So übernahm schließlich Fräulein Elisabeth Maria Eckfellner, die Sekretärin des Chefarztes Dr. Ernst Melzer, das Protokoll. Das Verhör, das gegen 9.00 Uhr begonnen hatte, dauerte nicht sehr lange. Johann Krein mußte wiederholen, was Karl Leisner gesagt hatte, und Karl Leisner stritt nichts ab, sondern stand zu seiner Aussage. Damit war gegen 10.00 Uhr alles beendet.
[1] Heinrich Heidegger aus St. Blasien am 15.5.1974 an Wilhelm Haas in Kleve:
Die zwei Polizisten waren anscheinend von hier, einer hieß [Andreas] Späth, der auch [am 5.5.1942] gestorben ist, ebenfalls auch seine Frau; an den anderen kann sich niemand erinnern.
[2] Schwester Marcella Nold:
Später ist der Talar (Soutane) der Schwester [von Karl Leisner Elisabeth Haas] zurückgeschickt worden; er sei sehr verschmutzt gewesen, so daß man annehmen muß, daß der DG [Diener Gottes] sich hat erbrechen müssen (Seligsprechungsprozeß: 1382).
Laut Elisabeth Haas bekam ihr Mann nach dem Krieg von ihren Eltern einen Anzug ihres Bruders Karl geschenkt, den man nicht restlos hatte reinigen können. Vermutlich hatte Karl Leisner sich mehrfach übergeben.
[3] Laut Karl Leisners Bruder Willi hatte man vermutlich zuvor von Freiburg/Br. aus in Kleve angefragt und der dortige Kriminalbeamte Gottfried Schotten, ein „Diener“ der Gestapo, hatte nähere Einzelheiten über Karl Leisner und dessen „Sündenregister“ mitgeteilt. (s. Martyrerprozeß: 58)
[4] Schwester Maria Marcella (Johanna) Nold (* 18.1.1905 in Münchenreute/Württemberg, † 29.4.1996) – Eintritt bei den Vinzentinerinnen (Freiburg/Br.) – Einkleidung 30.10.1930 – Profeß 16.11.1932 – Sie hat Karl Leisner in St. Blasien im Fürstabt-Gerbert-Haus gepflegt, wo sie als Laborschwester tätig war. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat sie als Zeugin ausgesagt.
[5] Schwester Zaccaria (Anna) Fischer (* 4.8.1882 in Buchheim bei Freiburg/Br., † 18.3.1968) – Eintritt bei den Vinzentinerinnen (Freiburg/Br.) – Einkleidung 10.2.1904 – Profeß 12.6.1906 – u. a. Oberin in St. Blasien im Fürstabt-Gerbert-Haus August 1932 bis März 1947
Schwester Marcella Nold am 9. November 1974 in St. Blasien:
Zwischen 9.30 Uhr und 10.00 Uhr kam Kreisleiter Kuner von Neustadt mit dem Auto und Ortsgruppenleiter Wehrle mit zwei Polizisten. Die frühere Sekretärin Fräulein Eckfellner, welche seit Anfang des Krieges im Kolleg [der Jesuiten eingesetzt war], welches in dieser Zeit Lazarett war, und dort als Sekretärin arbeitete, wurde geholt, um das Protokoll zu schreiben. Die Verhandlung fand im Empfangszimmer, zugleich Hausbibliothek für die Kranken statt. Anwesend war, soviel mir noch in Erinnerung ist, Kreisleiter Kuner, Ortsgruppenleiter Wehrle, Chefarzt Dr. Melzer, Fräulein Eckfellner und Karl Leisner.
Ernst Melzer:
Kuner und Wehrle kamen noch am Vormittag des 9.11.1939 mit zwei uniformierten Polizisten – für mich völlig unerwartet – in unser Sanatorium. Kuner ließ KL [Karl Leisner] in den Empfangsraum rufen und machte ihm in meiner Gegenwart heftige Vorwürfe, so daß KL überhaupt nicht zu Wort kommen konnte. KL hat nicht abgestritten, die ihm zur Last gelegte Äußerung getan zu haben. Ein entsprechendes Protokoll wurde von Fräulein Eckfellner aufgenommen, die damals zeitweise als Aushilfssekretärin bei uns arbeitete. Kuner hat KL gleich mitgenommen. KL’s Bitte, noch im Hause beichten zu dürfen, lehnte er kategorisch ab.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1451f.
Ernst Melzer:
Am 9. November 1939, am Tage nach dem Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller, erschien bei mir zwischen 10.00 und 11.00 Uhr, für mich ganz unerwartet und unangemeldet, der Kreisleiter aus Neustadt, Benedikt Kuner in Begleitung eines Polizisten. Es wurde mir folgender Sachverhalt eröffnet: Karl Leisner wäre an diesem Morgen auf die Liegehalle gekommen und hätte zu den Mitpatienten u. a. die Äußerung getan „Schade, dass er nicht dabei war“[1].[2]
[1] Karl Leisner äußerte diesen Satz gegenüber seinem Mitpatienten Johann Krein in seinem Zimmer. Er war nicht in der Liegehalle.
[2] Seligsprechungsprozeß: 1456
Ernst Melzer:
Herr Leisner wurde gerufen, und es wurde ihm in meinem Beisein eröffnet, daß er wegen seiner Äusserung verhaftet sei und seine Sachen sofort packen müsste. Ich erhob energischen Einspruch, zu dem ich mich als sein Arzt verpflichtet fühlte und erklärte, dass bei dem jetzigen Stand der Tuberkulose die Verlegung in ein Gefängnis sich verheerend auswirken müsse. Darauf Kuner: „Das lassen Sie meine Sorge sein, für Sie wird die Angelegenheit auch noch Folgen haben.“ Es fiel auch das Wort von dem „klerikalen Nest“, das ausgehoben werden müsse. Karl Leisner bat den Kreisleiter in meinem Beisein, er möchte vor dem Abtransport noch eine Beichte ablegen, was aber Kuner barsch abwies.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1456
Schwester Marcella Nold:
Ich habe gehört, daß der Kreisleiter ihn gefragt habe, ob er mit dem Wörtlein „schade“ Hitler gemeint habe. Der DG [Diener Gottes] habe darauf geantwortet „ja“. Er hatte eben einen aufrechten Charakter, das habe ich sehr gut gefunden. Wenn er nämlich „nein“ gesagt hätte, hätte er ja gelogen.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1382
Ernst Melzer:
Bei seinem [Karl Leisners] Verhör, das ich ja miterlebt habe, war er ruhig und gefaßt. Er hat sich von Herrn Kuner nicht einschüchtern lassen, obwohl dieser ihn in ungehöriger Weise beschimpfte. Es hat mir imponiert, daß KL auch in dieser Situation nicht seine Zuflucht zu einer Notlüge nahm.[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 1453f.
St. Blasien 10.00 Uhr
Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ in Rottmannshöhe:
Es war mir dann noch Gelegenheit geboten, mich von Herrn Leisner allein zu verabschieden. Der Schrecken saß mir, als ich mich ihm in der Vorhalle näherte, dermaßen in den Gliedern, daß ich mich kaum bewegen konnte. Er drückte mir feste die Hand, sagte, als er mich mit totweißem Antlitz sah, ich solle es nicht so sehr zu Herzen nehmen, gab mir jedoch zu verstehen, daß er das Schlimmste befürchte. Ich suchte, damals noch selbst überzeugt, ihn von dieser Meinung abzubringen. Meine Überzeugung bei dem herzlichen Abschied war, daß er die Zusammenhänge und die furchtbare Verkettung der Umstände erfahren hatte, meine schicksalhafte Einbeziehung und meine Seelenqual erkannt hatte und er deshalb nicht in Unfrieden von mir scheiden wollte.
Schwester Marcella Nold in St. Blasien am 9. November 1974:
Zwischen 10.00 Uhr und 10.30 Uhr wurde Karl zwischen zwei Polizisten abgeführt. Auf der Polizei in St. Blasien ist eine Zelle, es ist anzunehmen, daß Karl dort verwahrt wurde, bis er nach Freiburg/Br. kam[1], oder hat ihn Kuner nach Neustadt [mitgenommen], das weiß ich nicht, man hat nie etwas davon gehört. Das Protokoll müßte sich ja in den Akten von Karl Leisner befinden samt dem Arztbericht. Leider ist das Krankenblatt hier nicht auffindbar, denn da könnte man noch Näheres feststellen. Als das Regime sein Ende nahm, wurden die Unterlagen mit allem sicher aus Angst vernichtet.
[1] Aktennotiz vom 22. April 1974:
Rechtspfleger Roland Hagenbucher – AG [Amtsgericht] St. Blasien – hat hier am Freitag, den 19.4.1974 angerufen und in der Sache Leisner mitgeteilt, daß das Gerichtsgefängnis in St. Blasien bereits 1936 geschlossen worden sei. Ein Polizeigefängnis habe es an dem Ort auch nicht gegeben. Somit dürfte feststehen, daß sich Leisner nicht in St. Blasien in Haft befunden hat. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß L. direkt in die VA [Vollzugsanstalt] Freiburg von der Gestapo aus eingeliefert worden ist.
Günter Böhler, Stadt St. Blasien, am 6.2.2012 an Hans-Karl Seeger:
1939 hatte St. Blasien kein Gefängnis mehr, aber eine Zelle im Rathaus, die heute noch existiert.
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Oberstudienrat Thomas Mutter veröffentlichte in der Badischen Zeitung vom 6. November 1989 erneut einen Artikel über Karl Leisners Verhaftung am 9. November 1939.
Badische Zeitung
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Auszug aus dem Artikel:
Das Scheitern des von Georg Elser auf Hitler geplantes Attentats im Münchener Bürgerbräukeller am Abend des 8. November 1939 wird von Leisner anderntags bei der Liegekur „auf dem Bock“ bedauert. Innerhalb weniger Stunden beginnt das Räderwerk aus Anzeige (durch einen Mitpatienten), politischem Orts- und Kreisapparat, Verhaftung und Einlieferung ins Gefängnis Freiburg zu greifen.
Ergänzung
Karl Leisner befand sich nicht unter den Patienten der im Artikel erwähnten „Liegekur“.