Interpretation einer Verhaftung

verhandlungsraum

 

Am 9. November 1939 wurde Karl Leisner im Für­st­abt-Gerbert-Haus, einem Lun­gensanatorium in St. Blasien, verhaftet. In Bezug auf diesen Vorgang gibt es unterschiedliche Sichtweisen.

 

Verhandlungszimmer im Fürstabt-Gerbert-Haus

 

 

Oberstudienrat Thomas Mutter, Ortsvorsitzender der CDU, veröffentlichte in der Badischen Zeitung vom 9. November 1981 folgenden Artikel über Karl Leisners Verhaftung vor 42 Jahren.

Badische Zeitung

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Auszug aus dem Artikel
Bei einem Spaziergang teilte er [Karl Leisner] seine Gedanken zum Hitler-Regime einem Begleiter mit, den er für vertrauenswürdig und gleichgesonnen hielt. So äußerte Leisner auch seine Enttäuschung über das mißglückte Attentat auf Hitler. Und damit war die nicht mehr anzuhaltende Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt. Der Vertraute des Spaziergangs erstattete Anzeige bei der Ortsgruppenleitung [Ortsgruppenleiter Adolf Wehrle[1]] und gleichzeitig, als zusätzliche Kontrolle und Absicherung, bei der Kreisleitung [Kreisleiter Benedikt Kuner[2]]. Bei der im Volk bekannten Schärfe des seinerzeitigen Kreisleiters war also an eine Verharmlosung oder gar Vertuschung des Falles nicht mehr zu denken.

[1] Ortsgruppenleiter Adolf Wehrle (* 2.1.1895 in Breitnau, † 21.11.1983 in Freiburg/Br.) – Ortsgruppenleitung u. Kurdirektor in St. Blasien mit Sitz im Rathaus – Umzug nach Frei­burg/Br., Sulzburger Str. 1, 3.11.1970
[2] Benedikt Kuner (* 20.3.1889, † Suizid durch Erhängen beim Einzug der Amerikaner 14.5.1945) – Kreisleiter der NSDAP in Neu­stadt – Laut Pfarrer Stephan Andris, Pfarrer von Gündelwangen im ehemaligen Kreis Neustadt, zeigte sich Benedikt Kuner im Gespräch mit Hermann Gebert am 23.6.1999 als fanatischer Nazifunktionär.

Heinrich Heidegger[1], Pfarrer von St. Blasien, schrieb am 10. November 1981 an Ehepaar Haas in Kleve und bat um Aufklärung.

[1] Pfarrer Heinrich Heidegger (* 31.3.1928 in Meßkirch) – Priesterweihe 30.5.1954 in Frei­burg/St. Peter – Pfarrer in St. Blasien 1.10.1971 bis 15.9.1991 – Neffe des Philosophen Martin Heidegger – wohnhaft in Meßkirch

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Nachfolgend der Verlauf der Verhaftung entsprechend der Lebens-Chronik zu Karl Leisner[1]:

[1] Karl Leisner – Tagebücher und Briefe – Eine Lebens-Chronik, 5 Bände, Herausgegeben von Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel im Auftrag des Internationalen Karl-Leisner-Kreises (IKLK) unter besonderer Mitarbeit von Christa Bockholt, Hans Harro Bühler und Hermann Gebert, Kevelaer 2014: Band 3: 1870ff.

Karl Leisner be­wohnte, wie auch Johann Krein[1], ein Einzelzim­mer, gemein­sam aber teilten sie die Ter­rasse. Der Chefarzt Dr. Ernst Melzer[2] hatte Karl Leis­ner den psy­chisch ange­schlagenen Johann Krein eigens als Nach­barn gegeben, weil er sich einen beru­higenden Einfluß auf diesen er­hoffte.

[1] Johann Krein (* 21.1.1911 in Karthaus bei Trier als Sohn katholischer Eltern, † 29.6.1947 in Heidelberg) – Er kam im Juni 1939 von Saarbrücken aus in die Lungen­heilstätte Fürst­abt-Gerbert-Haus in St. Blasien und war Mitpatient von Karl Leisner und Ka­plan Alexan­der Stein. Unter den drei Patienten herrschte ein reger und vertrauter Gedan­ken­austausch. Weih­nach­ten 1939 wurde er entlassen. Erst 1946 erfuhr er vom Schicksal Karl Leisners. 1946 wohnte er in Trier, Klosterstr. 22.
[2] Dr. med. Ernst Melzer (* 22.11.1900 in Frankenstein/Schle­sien/Ząbkowice Śląskie/PL, † 10.11.1981 in Waldshut-Tiengen, beigesetzt in St. Blasien) – Chefarzt (Obermedizinalrat) – Facharzt für Lungen­krankheiten im Lungensanatorium Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Bla­sien 1933–1966 – Er behandelte 1939 Karl Leis­ner. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat er als Zeuge ausgesagt.

Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ[1] in Rott­manns­höhe:
Beide [Karl Leisner und Alexander Stein[2]] kannte ich schon länger vom ge­meinsamen Mit­tagstisch. Wir haben dann manche schöne Wochen und Monate mit­einan­der verlebt und wa­ren richtige Leidensgenossen gewor­den. Unser Leiden vergaßen wir oft beim Skatspiel, beim Lesen, bei ge­meinsamen Spazier­gän­gen, bei gemeinsamen Gottesdiensten und nicht zuletzt bei gemeinsa­men religiösen und politischen Aussprachen. Sie hat­ten sehr schnell er­kannt, daß ich, was die großen Fragen des Lebens an­belangt, mit ihnen vollkommen einig ging, daß ich die Kir­che bei jeder sich bieten­den Gele­genheit auch An­dersgläubigen und Parteigenossen ge­genüber mit Nach­druck vertrat und daß ich mir über die Zu­kunft des nationalsozia­listi­schen Staates in bezug auf Glaubensfragen meine Ge­dan­ken machte. Doch muß auch erwähnt werden, daß in Sachen Hit­ler jeder von uns dreien die Zu­kunft sich anders vor­stellte. Ich war damals ehrlich noch von seiner „Größe“ überzeugt (1939!), ich ver­warf offen zwar die Auswüchse, aber ich glaubte fest daran, daß es einen Sieg und eine Glau­bens­freiheit geben müßte. Herr Kaplan Stein wich in seiner Auf­fas­sung schon etwas ab; im­merhin fiel es auch ihm schwer, eine Nie­der­lage her­beizuwün­schen, um die Nazis loszuwer­den. Herr Leisner (der selige Hochwürdige Herr Leis­ner) lehnte radikal Hitler ab, ließ sich durch keine Sondermel­dungen irre machen und sah das Heil der Kirche nur in einer Nie­der­lage und der Ver­nichtung des Nazis­mus. Er sagte schon damals, daß der furchtbare Feind Na­zismus nur um den Preis des Sieges (also nur durch eine Nieder­lage) vernichtet werden könnte. Wie recht hat er behal­ten! Unsere Ge­spräche waren monate­lang so, daß sie kein vierter hören durfte; aber je­der von uns wußte, daß wir unter uns uns frei über dieses Thema unterhalten durften. Unser Verhält­nis wurde immer freund­schaftli­cher und offener und das, obwohl mir wie­derholt von gehässigen Mitin­sassen des Hauses mein Ver­kehr mit den „Schwar­zen“ unter ver­schie­dentlichem Hinweis auf meine Parteizugehö­rigkeit verübelt wurde.
[…]
In jenem furchtbaren No­vember erfuhren wir auf der Terrasse die Nach­richt von dem mißglück­ten Attentat auf Hitler. Ich kann mich erinnern, alles war in Auf­regung und ich selbst wie alle ehrlich glücklich, daß Hitler nichts pas­siert war. In die­ser Stimmung trat ich auch in das Zimmer von Herrn Leisner. Ich teilte ihm ohne irgendeinen Hintergedanken das Ge­schehen mit, mußte jedoch feststellen, daß er be­reits unterrichtet war. Er sagte dann: „Schade, daß er nicht dabei gewesen ist.“ Ich vergesse diese Worte nie. Ich weiß auch heute, wie richtig sie waren. Was wä­re uns an Leid erspart geblieben, wenn Hitler da­mals umgekommen wäre. Der Wahr­heit die Ehre: Ich weiß aber auch, daß ich mich damals entsetzte; wenn ich auch seine Abnei­gung gegen Hitler kann­te, so hatte ich doch nicht geglaubt, daß er in die­ser Si­tuation diesen Wunsch aussprechen würde. Ich verließ erregt das Zimmer.

[1] Pater Dr. Johannes Otto Pies SJ, Deckname im KZ Hans u. Spezi, (* 26.4.1901 in Arenberg, † 1.7.1960 in Mainz) – Eintritt in die Gesell­schaft Jesu in ’s-Heeren­berg/NL 14.4.1920 – Priester­weihe 27.8.1930 – Letz­te Gelübde 2.2.1940 – Am 31.5.1941 wurde er wegen eines Protestes gegen die Klo­steraufhebungen verhaftet. Am 2.8.1941 brachte man ihn aus dem Ge­fängnis in Dresden ins KZ Dachau, wo er die Häftlings-Nr. 26832 be­kam. Dort war er eine der ganz großen Prie­sterge­stalten. Am 27.3.1945 wurde er ohne Angabe des Grundes und ohne Be­dingung entlassen. Bereits im KZ und auch nach seiner Entlassung setzte er sich unermüdlich für Karl Leisner ein. Ohne ihn wäre es vermutlich nicht zur Priesterweihe im KZ gekommen.
[2] Prälat Alexander (Alex) Stein (* 3.1.1911 in Frankfurt-Nied, † 6.7.1980) – Priesterweihe 8.12.1937 in Lim­burg – Kaplan in Holler bei Montabaur 1.1.1938 bis 31.5.1939 – Aufent­halt in St. Blasien 1.6.1939 bis 30.6.1940 – Mitpatient von Karl Leisner – Kranken­haus­seelsorger in Geisenheim 1.7.1940 bis 17.8.1946 – Domvikar in Limburg 1.11.1950 – Monsignore 12.6.1957 – Päpstlicher Hausprälat 8.11.1965

Obwohl Johann Krein Karl Leis­ners Einstellung kannte, war er über dessen Äußerung zum Attentat entsetzt. Etwas später fanden sich einige Zimmer­nachbarn auf der Terrasse ein und sprachen über das Attentat. Jeder beteuerte auf sei­ne Art, wie verach­tenswert diese Tat gewe­sen sei. Ihnen fiel auf, wie einsil­big Johann Krein blieb.

St. Blasien ca. 7.45 Uhr

Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ in Rott­manns­höhe:
Einige Zeit später – ich lag auf der Terrasse – unterhielten sich einige Nachbarn über das Attentat. Jeder – wie es nun damals Mode war – be­teu­erte in seiner Art, wie verabscheuungswert das Ereignis sei. Ich schwieg lange in meinem ehrlichen Ingrimm über das bei Herrn Leisner vorher Ge­hörte. Herr Leisner war übrigens nicht anwesend. Schließlich fiel den übrigen meine Nichtteilnahme an der Debatte auf und einer fragte mich auch um meine Meinung. Ich erwiderte ohne lange Überle­gung, es seien nicht alle der gleichen Mei­nung wie sie und auch ich, wo­bei ich mit dem Kopf nach dem Zimmer von Herrn Leisner wies. Die Eile und die Ein­dringlichkeit, mit der dann ein Herr aus dem Magdebur­gischen[1] – sei­nen Namen habe ich vergessen, aber der wäre leicht festzu­stel­len – auf mich eindrang, um Näheres zu erfahren, hätte mich warnen müssen. Aber ich ge­stand die­sem schließlich auf sein Drängen hin, was Herr Leis­ner ge­sagt hatte. Sofort danach war mir klar, daß ich das Thema unter allen Um­stän­den hätte abbiegen müssen und koste es was es wolle, die Fragen des be­nannten Herrn nicht hätte beantworten dürfen. Es spielte sich alles dann mit Blitzeseile ab. Der Herr war im Nu von der Terrasse verschwun­den, und ich sah in wenigen Minuten ihn unten auf der Straße. Ich rief ihm wiederholt nach, er möge stehenbleiben, aber er ging eilen­den Schrittes Rich­tung St. Blasien. Schließlich lief ich ihm nach, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, und dann als er mir drohte, mich auch anzuzeigen, begleitete ich ihn zur Ortsgruppe. Dort bestätigte ich dann blutenden Her­zens, was er vortrug, und ich tat dies auch später gegen­über dem ver­neh­menden Parteibeamten. Ich stellte Herrn Leisner als ei­nen guten ehrli­chen Kameraden hin, daß mir seine Inhaftierung furchtbar war, brauchte ich nicht zu schildern, das sah der ganze Kreis, zu dem auch der Chefarzt des Hauses gehörte.

[1] Schwester Marcella Nold:
Ein anderer Patient, der in Zimmer 204 gelegen hat und ein eifriger Nazi ge­wesen ist, hat von diesem Wort [schade] auch erfahren (Seligsprechungs­pro­zeß: 1381).

Ernst Melzer:
Am 8.11.1939 wurde auf Hitler ein Attentat verübt, das in weiten Kreisen eine erhebliche Erregung hervorrief und zu einer Fana­tisierung von An­hängern der NS‑Partei führte. In dieser Situation ent­schlüpfte Karl Leisner vor Ohrenzeugen das Wort „schade, daß er nicht dabei war“ (ge­meint war Hitler). Zwei Mitpatienten, darunter Herr Grein [Johann Krein][1], haben diese Äußerung beim Ortsgruppenleiter Wehrle in St. Blasien mündlich vorgetragen, ohne mir davon Kenntnis zu geben, andern­­falls hätte ich die Sache im Rahmen des Hauses berei­nigen können. Herr Wehrle meldete die Sache telefonisch dem Kreisleiter Kuner in Neu­stadt, der mir als fanatischer NS‑Anhänger und Katholiken­feind bekannt war. (Nach dem Krieg hat er sich selbst er­schossen.)[2]

[1] Der zweite Patient war vermutlich der „Herr aus dem Magdebur­gischen“.
[2] Seligsprechungsprozeß: 1451

Ernst Melzer:
Zwei Mitpatienten (ich habe mir nur den Namen des einen behal­ten, der, soweit ich mich erinnere, Krein hiess) gingen, ohne mich zu informie­ren, zum Ortsgruppenleiter. Dieser telefonierte mit dem Kreis­lei­ter Kuner in Neustadt, der sich sofort auf den Weg machte.[1]

[1] Seligsprechungsprozeß: 1456

St. Blasien 9.30 Uhr

Der Kreisleiter der Partei in Neustadt, Benedikt Kuner, und Orts­gruppenleiter Adolf Wehrle er­schienen im Fürstabt-Gerbert-Haus in St. Blasien mit zwei Beam­ten der Polizei.[1] Karl Leisner, noch in Sou­tane[2], wurde von sei­nem Zimmer zum Ver­hör ins Empfangs­zimmer, welches zugleich Bi­bliothek für die Kranken war, geholt.[3] Die Parteileute forderten Schwester Mar­cella Nold[4] auf, das Protokoll zu schrei­ben, aber die Hausobe­rin Schwe­ster Zacca­ria Fischer[5] hatte den Mut, es ihr nicht zu er­lauben. So übernahm schließlich Fräulein Elisa­beth Maria Eck­fell­ner, die Se­kretä­rin des Chefarztes Dr. Ernst Melzer, das Protokoll. Das Verhör, das gegen 9.00 Uhr begonnen hatte, dau­erte nicht sehr lange. Johann Krein mußte wiederholen, was Karl Leis­ner gesagt hatte, und Karl Leis­ner stritt nichts ab, sondern stand zu seiner Aus­sage. Damit war gegen 10.00 Uhr alles beendet.

[1] Heinrich Heidegger aus St. Blasien am 15.5.1974 an Wilhelm Haas in Kleve:
Die zwei Polizisten waren anscheinend von hier, einer hieß [Andreas] Späth, der auch [am 5.5.1942] ge­storben ist, ebenfalls auch seine Frau; an den ande­ren kann sich niemand erin­nern.
[2] Schwester Marcella Nold:
Später ist der Talar (Soutane) der Schwester [von Karl Leisner Elisabeth Haas] zurück­geschickt worden; er sei sehr verschmutzt gewesen, so daß man annehmen muß, daß der DG [Diener Gottes] sich hat erbre­chen müssen (Seligsprechungsprozeß: 1382).
Laut Elisabeth Haas bekam ihr Mann nach dem Krieg von ihren El­tern einen An­zug ihres Bruders Karl ge­schenkt, den man nicht restlos hatte reinigen können. Vermutlich hatte Karl Leisner sich mehrfach übergeben.
[3] Laut Karl Leisners Bruder Willi hatte man vermutlich zuvor von Freiburg/Br. aus in Kleve angefragt und der dortige Kriminalbeamte Gottfried Schotten, ein „Diener“ der Ge­stapo, hatte nä­here Einzelheiten über Karl Leisner und dessen „Sündenregister“ mit­geteilt. (s. Martyrerprozeß: 58)
[4] Schwester Maria Marcella (Johanna) Nold (* 18.1.1905 in Münchenreute/Württemberg, † 29.4.1996) – Eintritt bei den Vinzentinerinnen (Freiburg/Br.) – Einkleidung 30.10.1930 – Profeß 16.11.1932 – Sie hat Karl Leisner in St. Blasien im Fürstabt-Gerbert-Haus ge­pflegt, wo sie als Laborschwester tätig war. Im Seligsprechungsprozeß für Karl Leisner hat sie als Zeugin ausgesagt.
[5] Schwester Zaccaria (Anna) Fischer (* 4.8.1882 in Buchheim bei Freiburg/Br., † 18.3.1968) – Eintritt bei den Vinzentinerinnen (Freiburg/Br.) – Einkleidung 10.2.1904 – Profeß 12.6.1906 – u. a. Oberin in St. Blasien im Fürstabt-Gerbert-Haus August 1932 bis März 1947

Schwester Marcella Nold am 9. November 1974 in St. Blasien:
Zwischen 9.30 Uhr und 10.00 Uhr kam Kreisleiter Kuner von Neu­stadt mit dem Auto und Orts­gruppenleiter Wehrle mit zwei Polizisten. Die frü­here Sekretärin Fräu­lein Eckfellner, welche seit An­fang des Krieges im Kolleg [der Jesuiten eingesetzt war], welches in dieser Zeit Lazarett war, und dort als Sekretärin arbei­tete, wurde geholt, um das Protokoll zu schrei­ben. Die Verhandlung fand im Empfangs­zimmer, zu­gleich Haus­bib­lio­thek für die Kranken statt. An­we­send wa­r, soviel mir noch in Erinnerung ist, Kreisleiter Kuner, Orts­grup­pen­leiter Wehrle, Chefarzt Dr. Mel­zer, Fräulein Eck­fell­ner und Karl Leisner.

Ernst Melzer:
Kuner und Wehrle ka­men noch am Vormittag des 9.11.1939 mit zwei uni­formierten Polizi­sten – für mich völlig unerwartet – in unser Sanatorium. Kuner ließ KL [Karl Leisner] in den Em­pfangs­raum rufen und machte ihm in meiner Gegen­wart heftige Vorwürfe, so daß KL überhaupt nicht zu Wort kommen konnte. KL hat nicht abge­strit­ten, die ihm zur Last gelegte Äuße­rung getan zu haben. Ein ent­sprechen­des Protokoll wurde von Fräulein Eck­fellner aufge­nommen, die damals zeitweise als Aus­hilfssekretärin bei uns arbei­tete. Kuner hat KL gleich mitge­nommen. KL’s Bitte, noch im Hause beichten zu dürfen, lehnte er kategorisch ab.[1]

[1] Seligsprechungsprozeß: 1451f.

Ernst Melzer:
Am 9. November 1939, am Tage nach dem Attentat auf Hitler im Bür­ger­bräukeller, erschien bei mir zwischen 10.00 und 11.00 Uhr, für mich ganz unerwartet und unangemeldet, der Kreisleiter aus Neustadt, Bene­dikt Kuner in Begleitung eines Polizisten. Es wurde mir folgender Sach­verhalt eröffnet: Karl Leisner wäre an diesem Morgen auf die Lie­ge­halle gekom­men und hätte zu den Mitpatienten u. a. die Äuße­rung getan „Schade, dass er nicht dabei war“[1].[2]

[1] Karl Leisner äußerte diesen Satz gegenüber seinem Mitpatienten Johann Krein in seinem Zimmer. Er war nicht in der Liegehalle.
[2] Seligsprechungsprozeß: 1456

Ernst Melzer:
Herr Leisner wurde gerufen, und es wurde ihm in meinem Beisein er­öff­net, daß er wegen seiner Äusserung verhaftet sei und seine Sachen sofort packen müsste. Ich erhob energischen Einspruch, zu dem ich mich als sein Arzt verpflichtet fühlte und erklärte, dass bei dem jetzigen Stand der Tu­berkulose die Verlegung in ein Gefängnis sich verheerend auswir­ken müsse. Darauf Kuner: „Das lassen Sie meine Sorge sein, für Sie wird die Angelegenheit auch noch Folgen haben.“ Es fiel auch das Wort von dem „klerikalen Nest“, das ausgehoben werden müsse. Karl Leisner bat den Kreisleiter in meinem Beisein, er möchte vor dem Abtransport noch eine Beichte ablegen, was aber Kuner barsch ab­wies.[1]

[1] Seligsprechungsprozeß: 1456

Schwester Marcella Nold:
Ich habe gehört, daß der Kreisleiter ihn ge­fragt habe, ob er mit dem Wörtlein „schade“ Hitler ge­meint habe. Der DG [Diener Gottes] habe darauf geant­wortet „ja“. Er hatte eben einen aufrechten Cha­rakter, das habe ich sehr gut gefunden. Wenn er nämlich „nein“ gesagt hätte, hätte er ja gelogen.[1]

[1] Seligsprechungsprozeß: 1382

Ernst Melzer:
Bei seinem [Karl Leisners] Verhör, das ich ja miterlebt habe, war er ruhig und gefaßt. Er hat sich von Herrn Kuner nicht ein­schüchtern lassen, obwohl dieser ihn in ungehöriger Weise beschimpfte. Es hat mir imponiert, daß KL auch in dieser Situation nicht seine Zuflucht zu einer Notlüge nahm.[1]

[1] Seligsprechungsprozeß: 1453f.

St. Blasien 10.00 Uhr

Johann Krein aus Trier am 12. März 1946 an P. Otto Pies SJ in Rott­manns­höhe:
Es war mir dann noch Gelegen­heit geboten, mich von Herrn Leis­ner allein zu verab­schieden. Der Schrecken saß mir, als ich mich ihm in der Vor­halle nä­herte, dermaßen in den Gliedern, daß ich mich kaum be­wegen konnte. Er drückte mir feste die Hand, sagte, als er mich mit tot­weißem Antlitz sah, ich solle es nicht so sehr zu Herzen nehmen, gab mir jedoch zu verste­hen, daß er das Schlimmste befürchte. Ich suchte, damals noch selbst überzeugt, ihn von die­ser Meinung abzubringen. Meine Über­zeu­gung bei dem herzlichen Abschied war, daß er die Zusam­menhänge und die furchtbare Verkettung der Um­stände erfahren hatte, meine schick­sal­hafte Einbeziehung und meine Seelenqual erkannt hatte und er deshalb nicht in Unfrieden von mir schei­den wollte.

Schwester Marcella Nold in St. Blasien am 9. November 1974:
Zwischen 10.00 Uhr und 10.30 Uhr wurde Karl zwischen zwei Polizisten abgeführt. Auf der Polizei in St. Blasien ist eine Zelle, es ist an­zuneh­men, daß Karl dort verwahrt wurde, bis er nach Freiburg/Br. kam[1], oder hat ihn Ku­ner nach Neustadt [mitgenommen], das weiß ich nicht, man hat nie et­was davon gehört. Das Protokoll müßte sich ja in den Akten von Karl Leisner befinden samt dem Arztbericht. Leider ist das Kran­kenblatt hier nicht auf­findbar, denn da könnte man noch Näheres feststellen. Als das Regime sein Ende nahm, wurden die Unterlagen mit allem sicher aus Angst ver­nichtet.

[1]  Aktennotiz vom 22. April 1974:
Rechtspfleger Roland Hagenbucher – AG [Amtsgericht] St. Blasien – hat hier am Freitag, den 19.4.1974 angerufen und in der Sache Leisner mitge­teilt, daß das Gerichtsgefängnis in St. Blasien bereits 1936 geschlossen wor­den sei. Ein Polizeigefängnis habe es an dem Ort auch nicht gegeben. Somit dürfte festste­hen, daß sich Leisner nicht in St. Blasien in Haft befunden hat. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß L. direkt in die VA [Voll­zugs­anstalt] Frei­burg von der Gestapo aus eingeliefert worden ist.

Günter Böhler, Stadt St. Blasien, am 6.2.2012 an Hans-Karl Seeger:
1939 hatte St. Blasien kein Gefängnis mehr, aber eine Zelle im Rathaus, die heute noch existiert.

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Oberstudienrat Thomas Mutter veröffentlichte in der Badischen Zeitung vom 6. November 1989 erneut einen Artikel über Karl Leisners Verhaftung am 9. November 1939.

Badische Zeitung

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Auszug aus dem Artikel:
Das Scheitern des von Georg Elser auf Hitler geplantes Attentats im Münchener Bürgerbräukeller am Abend des 8. November 1939 wird von Leisner anderntags bei der Liegekur „auf dem Bock“ bedauert. Innerhalb weniger Stunden beginnt das Räderwerk aus Anzeige (durch einen Mitpatienten), politischem Orts- und Kreisapparat, Verhaftung und Einlieferung ins Gefängnis Freiburg zu greifen.

Ergänzung
Karl Leisner befand sich nicht unter den Patienten der im Artikel erwähnten „Liegekur“.