Vor 50 Jahren starb Werner Bergengruen

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Porträt von Emil Stump (* 17. März 1886 in Neckarzimmern; † 5. April 1941 in Stuhm, Westpreußen) 1929

Foto Wikimedia Commons. de

Werner Bergengruen (* 16. September 1892 in Riga, † 4. September 1964 in Baden-Baden) – Schrift­steller – Er konvertierte 1936 zum Katholizismus.

 

 

Karl Leisner schreibt in sein Tagebuch:
Münster, Mittwoch, 17. November 1937, Buß- und Bettag
Nach­mit­tags bis 14.45 Uhr gelesen in Werner Bergengruen „Der Großtyrann und das Ge­richt“.

Aus der Zeitschrift Der Jungführer:
Nach einer langen Zeit des Schweigens tritt der baltische Dichter Werner Bergengruen mit einem neuen dichterischen Werk: „Der Groß­ty­rann und das Ge­richt“, an die deutsche Öffent­lichkeit. […] Es ist ein Vorzug seines neuen Ro­mans, daß eine ungemein spannende und erregende Handlung in einer dichte­rischen Form Ausdruck fand (Jungführer 1936: 187).

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Werner Bergengruen
Der Großtyrann und das Gericht
Hamburg 1935[1]

 


[1] Die Quellenangaben von Christa Bockholt beziehen sich auf die Ausgabe der Deutschen Buchgemein­schaft Berlin und Darmstadt von 1953 (zit: Bergengruen 1953).

Kommentierung von Karl Leisners Tagebuchnotizen zu Werner Bergengruens „Der Großtyrann und das Gericht“ von Christa Bockholt[1]:

[1]  Siehe: Rundbrief des IKLK Nr. 56 – Februar 2010: Karl Leisners Bibliothek: S. 161 – 167.

Nachdem ich Karl Leisners Notiz vom 17. November 1937 in den Tagebuchabschriften gelesen hatte, entdeckte ich einige Wochen später auf einem Flohmarkt das Buch und war neugierig genug, es zu erstehen. Bis dahin hatte der Name Bergengruen für mich den Beigeschmack des über­holten Konservativen oder wie Marcel Reich-Rani­cki auf die Frage, warum es um Werner Bergen­gruen, der noch in den sechziger Jahren einen festen Leserkreis hatte, still geworden ist, antwor­tet: „Weil seine Zeit vorbei ist.“[2]
Um es vorweg­zunehmen: Die Lektüre dieses Romans hat sich gelohnt. „Ein Dichter, der dem Heutigen und Gegenwärtigen, unseren Erfahrungen, den hohen und bitteren, unseren Ahnungen, den dunklen und den hellen, unseren Ängsten und unse­ren Hoffnungen leidenschaftlich und offen verbun­den ist, der, wiewohl er ein Bewahrer und Hüter alter und ewiger Ordnung ist und seine Dichtung in der Gestalt überlieferter Fügung erscheint, Aus­druck unseres Augenblicks und unserer Weltstunde ist, auch dort, wo in den erzählenden Dichtungen Begebnisse aus vergan­genen Zeiten … erschei­nen.“[3] Obwohl dieses Zitat aus einer Rede von Prof. Dr. Kunisch anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Uni­ver­si­tät München an Werner Bergengruen vom 24. Juni 1958 ist, trifft der Inhalt auch heute noch zu. Man spürt die Menschenkenntnis, das Wissen um unser vorder­gründiges Gutsein verbunden mit unse­ren Abgrün­den. Bergengruen hatte als Freiwilli­ger im Ersten Weltkrieg gedient, an­schlie­ßend geheiratet, war als Journalist und Chefredak­teur tätig, ab 1927 freier Schriftsteller. 1936 kon­vertierte er zum katholischen Glauben.
Ein Jahr vorher erschien der Roman „Der Groß­tyrann und das Gericht“. Die Präambel ist über­schrieben mit dem Satz: ‚Ne nos inducas in tentati­o­nem’[4] (und führe uns nicht in Versu­chung). ‚Das im Christlichen wurzelnde Paradox, daß der Mensch ganz werde, wenn er seine Unvoll­kommen­heit annimmt und austrägt, läßt den doppel­ten Grund der Weltansicht Bergengruens erkennen.’[5] Mit diesem Appell beginnt auch der Roman[6]; er schildert die Diktatur während der Renaissance in dem fiktiven Stadtstaat Cassano in Oberitalien. Der Mönch Fra Agostino wird erdolcht im Garten des Großtyrannen aufge­funden. Dieser beauftragt Massimo Nespoli, den Leiter der Sicher­heitsbe­hörde, innerhalb von drei Tagen den Täter zu fin­den. Nespoli versagt trotz Frist­verlängerung und der Androhung von dras­tischen Strafen. In seiner Not bezichtigt Nespoli eine kürzlich ver­storbene Frau, die schwanger war, was der Groß­tyrann aber schnell als Lüge entlarvt. Nespoli bringt nun den kranken Gatten seiner jungen Geliebten Vittoria, Pandolfo Confini, als Verdächtigen ins Spiel. Nach dessen Tod findet man ein schriftliches Geständnis in seinem Bett. Der Sohn des Verstorbenen, Diomede Confini, will seinen Vater rehabilitieren und konstruiert ein Alibi, welches, veranlasst durch die Schwester von Pandolfo Confini, widerrufen wird. Der Großtyrann bedrängt sogar den Beicht­vater von Pandolfo, Don Luca, der aber am Beicht­geheimnis festhält. Der Sach­verständige, der die Echtheit des Geständ­nisses prüft, versucht die Witwe Vittoria zu erpressen. Durch Bespitzelung und gegenseitige Anschul­digungen herrscht in der Stadt ein Klima der Angst und des Misstrauens, dem ein äußerst schwüles Wetter entspricht, das die Menschen hindert, rational zu denken. Schließlich nimmt der Färber Sperone, ein jesusgleicher Mann Anfang dreißig, den Mord freiwillig auf sich. Der Großtyrann hält Gericht: „Nun aber habe ich gese­hen, daß der Mensch nur in Versuchung geführt zu werden braucht, um in Schuld zu fallen.“[7] Die Ver­dächtigen nehmen alle Schuld auf sich, doch sogar die Selbst­anschuldigung Sperones entlarvt der Großtyrann als eitlen Versuch, Christus ähnlich zu werden. Schließlich bekennt er, aus Gründen der Staats­räson den Mord selbst begangen zu haben.

Am 18. November 1937 schreibt Karl Leisner:
Lese in Werner Bergen­gruen „Der Großtyrann und das Gericht“. Erschütternd die letzte Szene, wo der Großtyrann den Mord eingesteht und seine Versuchung (die Versu­chung „zu sein wie Gott“, wie Don Luca sagt, die schlimmste aller Versu­chungen!) Ein Roman von Format. Wun­der­­voll durchgeführt. Die Fülle verwirrt nicht! Ein Ganzes aus einem Guß! Vittoria, Diomede, Sperone – großartig gezeichnet, auch Nespoli.

Vielleicht helfen einige Zitate zu den oben ge­nannten Personen, den Grund für Karl Leisners Begeisterung deutlich zu machen.
Der Großtyrann zu Nespoli über Sperone: „Mich dünkt, er übertreibt, und Übertreibung ist ja, hier weiß ich mich mit der Kirche einig, das Wesen der Ketzerei; eine Wahrheit, eine in sich löbliche Übung dadurch fälschen, daß sie auf Kosten aller anderen Wahrheiten und Übungen eine Stelle er­hält, die ihr nicht zukommt. Damit wird heilsame Wahrheit in schädlichen Irrtum gewandelt.“[8]

Zu Beginn seiner Zeit im Reichsarbeitsdienst (RAD) in Dahlen/Sachsen schreibt Karl Leisner am 7. April 1937:
Vom Dienst weg läßt der Chef [Oberfeldmeister Walter Franz] mich in die Kan­tine holen. Dort sitzt er mit dem Dahlener Orts­grup­penleiter, einem Forst­meister. – Ein zweistündi­ges Ge­spräch ent­spinnt sich. Man will mich aus­hor­chen. „Was halten Sie von konfessionel­ler Schule? Judenfrage? Kirche und Staat etc.“ Ich gebe ehr­lich und freiweg ohne jede Hemmung Bescheid. – Etwas zu sehr will ich imponieren und lasse mich dadurch zu weit aus. Die Klug­heit und das Maß fehlen noch. – Sonst ist’s wohl recht geworden.

Das Resümee Nespolis über den ermordeten Fra Agostino: ‚Er [Nespoli] wußte, daß der Mensch nicht aus Eigenschaften besteht, sondern aus Kräf­ten und Strebungen, die miteinander im Wider­streit liegen.’[9]
Der Großtyrann zu Nespoli, nachdem dieser die schwangere Frau zu Unrecht beschuldigt hat: „Ich weiß wohl, daß du mich nicht hast täuschen wollen, Massimo. Du hast dich selber getäuscht, aber ich will dich deswegen nicht tadeln. Denn es ist mir ja bekannt, daß in jedem Menschen gleichzeitig zwei Gedankenbahnen laufen; eine, welche sich nährt von den unanfechtbaren Erkenntnissen seiner Ur­teilskraft, und jene zweite, welche ihren Ausgang hat und ihr Ziel sucht in dem, dessen er zum Lebenkönnen bedarf. Und ich glaube, daß in dieser Doppeltheit der Gedanken die Ursache alles dessen liegt, was man Unwahrheit oder Lüge nennt, und nicht in einer Schlechtigkeit des Gemüts, von der die Sittenlehrer reden.“’[10] „Ich sage dir ja, es ist mir bekannt, daß der Mensch manchmal das Leben nicht bestehen kann ohne einen Selbstbetrug.“[11] „Halte deine Zeit zu Rate. … Ob du nun das Rich­tige tust oder nicht – handle. Es ist ja nicht daran das meiste gelegen, daß ein Mensch das Richtige tue, sondern daran, daß, was er tut, ihn zu Kräften nötige, die er zuvor nicht gehabt hat.“[12]
Wie gut konnte Karl Leisner diese Zwie­spältig­keit im Menschen nachvollziehen, die Selbst­über­schätzung, das sich wiederholende Nicht­einhalten von Vorsätzen, die Gefahr des bequemen Weges. Allerdings besaß er eine beeindruckende Gabe, oder war es Folge der immer wieder geübten und praktizierten Einhaltung des dreifachen Liebes­gebotes aus seinem Glauben? Er scheute sich nicht, sein Gewissen zu erforschen, seine sich wieder­holenden Fehler zu erkennen und dazu zu stehen. Nur so konnte es ihm gelingen, authentisch seiner Berufung zu folgen. Am 30. November 1935 schrieb er:
In diesem Jahr [dem neuen Kirchenjahr] nun sei eins mein großes Ziel: Innere Freiheit durch Klarheit und Wahrheit gegen mich selbst und größte Demut und Liebe zu Gott und allen Men­schen. Tap­ferste Geduld und straffste starke Selbstzucht! Ausschaltung jeder Selbst­sucht. …Ich vergesse, was hinter mir liegt, und spanne mich aus auf das vor mir Liegende [vgl. Phil 3,13]“ (neue Jahr).

Bergengruen schreibt über Vittoria, die am Kran­ken­bett ihres Mannes Pandolfo darüber nach­denkt, wie sie ihrem Geliebten Nespoli helfen kann: ‚Und es gelangte nicht in ihr Bewußtein, daß sie doch Nespoli nicht nur retten, sondern auch ihn für sich selber erhalten, ja auf immerwährende Zeit erwer­ben wollte. Selbstlos und eigensüchtig, opfer­willig und besitzgierig in einem – was gibt es Viel­förmige­res als die Liebe? Allein was ist viel­förmi­ger als alles Wollen und Denken der Menschen?’[13]
Was tun wir aus Liebe und wie rein ist die Liebe, wenn wir dem anderen oder uns selbst Scha­den zufügen? Karl Leisner hatte sich während sei­ner Außensemester in Freiburg in die Tochter sei­ner Gasteltern, Elisabeth Ruby, verliebt. Er war hin- und hergerissen zwischen dieser Liebe und seiner Berufung zum Priestertum. Die Tage­buch­einträge während seiner RAD-Zeit spiegeln seine große Sehnsucht und sein Ringen um den richtigen Weg wider. Im Mai 1938 entscheidet er sich endgültig, Priester zu werden und schreibt Elisabeth am 21. Mai 1938:
Es war entsetzlich schwer. Glaube und Ver­nunft, Kopf und Herz hätte ich dabei verloren, wenn mir nicht die himmlische Mutter geholfen hätte. Eine furchtbare Mattigkeit und ein noch schlimmerer Zweifel am Sinn meines Lebens überfielen mein so selbstsicheres, stolzes Herz. … Dir danke ich viel, und Christus ist mir in Dir be­gegnet, wie Er mir noch nie entge­gentrat. … Kannst Du mir verzeihen? Halte Dich für frei von mir!

Zwei Tage später notiert er:
„Und heute … ihr [Elisabeth Rubys] erstaun­lich gnaden­voller Brief. Am Abend desselben Tages muß sie ihn geschrieben haben. Im Heili­gen Geist wußten wir von­einander. O göttliche Liebe! … Ich war erschüttert.

Don Luca, der gegenüber dem Großtyrannen das Beichtgeheimnis verteidigt, fürchtet dessen ange­drohte Folter und zweifelt, ob es nicht auch fehlbar ist, auf die Ungefährdung des eigenen Gewissens bedacht zu sein, alle anderen Dinge jedoch ihren Lauf nehmen zu lassen.[14] ‚Er erschrak bei diesen Überlegungen. Es schien ihm hier wirklich jenes zuzutreffen, davon der Großtyrann, ob auch in einer anderen Meinung, gesprochen hatte: daß nämlich der Teufel das leichteste Spiel hat, wenn er sich seine Überredungsmittel aus dem Rüsthause der Kirche entlehnt.’[15] ‚Don Luca hätte sterben wollen im Gehorsam gegen die Stimme Gottes; nun aber hatten die Stimmen sich verwirrt, und es war keine Unterscheidung zwischen der Stimme Gottes und der Stimme des Widersachers. Was er auch tat, was er auch unterließ, er mußte, dies fühlte er, schuldig werden, und er war es bereits.’[16]
Karl Leisner war die Beichte, heute nennen wir es das Sakrament der Versöhnung, wesentlich. Er beichtete, wenn er sein Gewissen belastet spürte, unabhängig von dem Ort oder den Priestern. Da er selbstkritisch und ehrlich genug war, gelang ihm die Unterscheidung der Geister. Es ging ihm um die Vergebung der Sünden, das Versöhntsein mit der Vergangenheit, um anschließend einen neuen An­fang wagen zu können. Im RAD in Georgsdorf/Emsland schreibt er am 7. August 1937:
Obertruppfüh­rer [Ernst] Füll­grabe (neuer Quar­tiermeister) braucht Mann nach Hoog­stede. Schnell gemeldet. … 14.00 Uhr aus dem Lager. In Hoogstede bei Pastor [Bernhard] Purk heilige Beicht. Ha, tut das gut wie­der nach vier Wochen!

Nach seiner Verhaftung schreibt er am 28. Novem­ber 1939 aus dem Gefängnis in Freiburg an seine Familie:
Ich trage diese mir zuverordnete Haft in größter Ruhe und Geduld. Denn ich bin mir nach ern­ster Gewis­sens­erfor­schung keiner Ge­sinnungs­­lumperei bewußt. Und wer vor Gott bestehen kann, der darf mit Ruhe dem Spruch des irdi­schen Richters entge­gensehen.

Der Großtyrann sagt zu Diomede, nachdem er über die großen Zweifel der Staatsmänner gesprochen hat, daß sie aber dennoch nach dem Unmöglichen streben und vielleicht sogar nach dem, das Gott nicht will: „Und doch, Diomede, gibt es nichts Herrlicheres und Manneswürdigeres auf dieser Erde als die Macht! Dazu sind wir geschaffen, nach ihr zu greifen und sie auszuüben!“[17] Bergengruen hat diesen Roman bereits 1926 begonnen, so dass nicht eindeutig ist, ob er auf die möglichen Folgen des Nationalsozialismus hinweisen wollte. Anfänglich meinten sogar einige Nationalsozialisten, dass er ihr Regime durch die Figur des Großtyrannen unter­stützen wolle, aber bereits 1937 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer mit der Begründung aus­geschlossen, er sei durch schriftstellerische Ver­öffent­lichungen nicht geeignet, am Aufbau der deutschen Kultur mitzuarbeiten.
Diomede rückblickend auf die Worte des Groß­tyrannen zu seinem mit Lug und Trug behafteten Agieren, die Unschuld seines Vaters Pandolfo Confini nachzuweisen: „So ist es denn wahr, … daß reine Hände nicht handeln, handelnde aber nicht rein bleiben können und keine Gerechtigkeit auf Erden ist?“ Und er fand sich die Antwort: Das Brot der Engel erfährt an seinem göttlichen Adel keine Einbuße, wenn es im Altarssakrament zum Brote der Menschen wird. Die Gerechtigkeit, die in einem ewigen Himmel wohnt, nimmt, wenn sie zur Erde niedersteigt, die Weise der Erde an, und sie bleibt doch, die sie war. Denn es bestehen wohl sämtliche Dinge aus einem göttlichen Gedanken und einem irdischen Leibe. Alle Rechts- und alle Staatskunst, will sie mehr sein als ein hand­werksmäßiges Ver­walten vorgefun­dener Gegen­stände, wird immer von neuem den einen Versuch zu wagen, ja an ihm zu zerschellen haben: den Versuch, die Macht mit der Gerech­tigkeit, die Stärke der Hände mit der Reinheit der Hände zu versöhnen. Und auch jeder einzelne Mensch hat ja seine tägliche Aufgabe in einer ähnlichen Versöhnung. Die Kleinheit der Erde aber mag ebenso ihr Recht und ihren Raum haben in der Ordnung des Weltalls wie die Größe Gottes und seiner himmlischen Gerechtigkeit![18]
Diese Versöhnung, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Andersdenkenden, ja sogar feind­lich Gesinnten, übte Karl Leisner immer wieder.
Der Großtyrann sagt zu Sperone nach der Auf­klärung des tatsächlichen Sachverhaltes: „Sperone, du hast mir vorgestern gesprochen von einem Un­terschiede zwischen der unvollkommenen und der vollkommenen Vergebung. Ich weiß, wir Menschen können um unserer Schwäche willen einander nur unvoll­kommen vergeben. Aber wir wollen versu­chen hierin unser höchstes Maß zu erreichen und zugleich uns jener anderen Ver­gebung zu versehen, welche vollkommen ist, nicht nur nach dem Willen, sondern auch nach der Wirkung.“[19]
Karl Leisners Versöhnungswille gipfelt in sei­nem letzten Tagebucheintrag: Segne auch, Höch­ster, meine Feinde!
In dem Gerichtsverfahren richtet sich der Großtyrann an Sperone, der im Gegensatz zu den anderen Hauptbeteiligten seinen verschiedenen Versuchungen nicht erlegen ist und die Schuld auf sich genommen hat, die folgenden denkwürdigen Worte: „Einer anderen [Versuchung] aber bist du erlegen. … Du hast Gott dienen müssen nach deiner Bestimmung mit deinem Wandel, und du hast eine große Sehnsucht gehabt, ihm stattdessen zu dienen mit einer Tat. Unter dem Wandel verstehe ich ein Leidendes, das unermeßliche Geduld fordert, unter der Tat ein Handelndes, das eines unermeßlichen Heldentums bedarf. Der Wandel ist ohne Ende, die Tat einmalig. Der Wandel begreift Taten ein, nicht die Tat. Und so erblicke ich in der Tat den Versuch, sie im einmaligen Aufschwung der dauernden Not­wen­digkeit des Wandels zu entziehen und sich ihr zu entziehen durch eine Steigerung, welche den Wandel hinter sich läßt. Es hat dich verlangt, und dies begreife ich wohl, einen einmaligen helden­haften Aufschwung zu wählen, dem die Ruhe in Gott folgen sollte, statt eines ständigen Auf­schwunges, der schwer, streng und immer gegen­wärtig ist, so wie ja mancher aus dem Getreide dem stillen, alltäglichen und getreuen Brot den Korn­branntwein vorzieht, der rasch und beflügelnd in den Kopf aufsteigt. Und so hast du dich von dem Glanz der Tat verblenden lassen und hast deinem mühseligen täglichen Gottesdienst auf Erden ent­fliehen wollen durch die sturmhafte Erhebung einer Tat, die dich jählings gen Himmel reißen sollte.“[20]
Passiv Gott dienen und sich von ihm wandeln lassen ohne tatkräftig etwas leisten zu können, war Karl Leisner während seines KZ-Aufenthaltes be­stimmt; er lag überwiegend im Krankenrevier. An das Bett gefesselt, konnte er nur ohnmächtig das Geschehen im Lager, die Entwicklungen in Deutschland und darüber hinaus verfolgen. Dabei nicht zu verzweifeln, sondern in dem Gegebenen den möglichen Wirkungskreis zu entdecken und zu gestalten, sei es durch ein aufmunterndes Wort oder das Teilen der wenigen Lebensmittel, mutet uns schon übermenschlich an.
Es folgt die letzte Szene, über die Karl Leisner schreibt:
Erschütternd die letzte Szene, wo der Groß­tyrann den Mord eingesteht und seine Versu­chung (die Versu­chung „zu sein wie Gott“, wie Don Luca sagt, die schlimmste aller Versu­chun­gen!)

Wie hat der Großtyrann nun sein eigenes Handeln bewertet? Nach seiner Mitteilung, Fra Agostino wegen Verrats geheimer Staatsangelegenheiten selbst getötet zu haben[21], sagt er: „Und da ich mir dieses Recht nahm, das mir niemand abstreitet, so nahm ich ein anderes von der gleichen Unabstreit­barkeit: nämlich dasjenige, mir einen Erweis zu gewähren von der Gesinnung und der Gewissens­stärke derer, mit denen ich zu schaffen habe als mit meinen Dienern und Untertanen. Und ich habe sie alle unterliegen sehen vor jeder Versuchung.“[22] Don Luca entgegnet: „Bist du nicht der Versuchung erlegen wie alle?“[23] „Welcher?“ fragt der Groß­tyrann.[24] „Der ärgsten von allen“, antwortete Don Luca. „Der des Gottähnlichseinwollens. Der Ver­suchung der Schlange im Paradiese, welche unsern Voreltern sagte: ‚Ihr werdet sein wie Gott, indem ihr wissen werdet das Gute und das Böse.’[25] Und der Großtyrann gesteht die Lockung, die Hand­lungen der Menschen so klar vor sich zu sehen, wie sie vor dem Auge Gottes liegen.[26] Er sagt zu Sperone: „Du hast … noch ein Wort gesprochen, das sich in mir festsetzte, wenn ich dich auch dies nicht habe merken lassen. Nämlich du sprachst davon, daß du dich dieser Tat bezichtigt hast aus einer Liebe zu den Menschen. Und hier möchte ich dich noch etwas fragen … an wen hast du gedacht, da du dich aus deiner großen Liebe hast opfern wollen?“ „Ich habe dem Taumel ein Ende machen wollen, um alle die Einwohner von Cassano her­auszuführen, die sich in ihn verstrickt hatten. Und ich habe das tun wollen, weil ich eine Liebe zu ihnen hatte.“ … „Du hättest also eine solche Liebe gehabt auch für den Mörder des Fra Agostino, wel­chen du ja nicht kanntest? Und habe ich Anlaß zu glauben, du habest auch für mich dich aufopfern wollen“? Sperone errötete und bejahte mit einem Nicken des gesenkten Kopfes. … Der Großtyrann sagte: „Es ist also einer gewesen in Cassano, der aus Liebe hat sterben wollen auch für mich.“ Er wollte noch sprechen, aber es versagte ihm die Stimme. … Endlich ließ er die Hände sinken. „Ver­gebt mir“, sagte er in die Stille hinein. „Denn ich bin der Schuldige.“ … Nespoli durchlief es glühend wie die Ahnung vom Dasein einer anderen Welt, einer Welt außerhalb all jener Ursachen und Fol­gen, an welche er geglaubt hatte, und doch in jeder von ihnen gegenwärtig.[27] Der Großtyrann sagt: „Ich merke wohl, welch eines Gewissens ich be­darf.“ Er beauftragt Diomede, das Gewissen seiner Gerechtigkeit zu sein.[28]
Der Roman schließt mit der Aufforderung des Großtyrannen an die Versammelten: „Geht jetzt ruhig in eure Häuser. Es wird manches sein, das ihr noch untereinander werdet in seine Ordnung zu bringen haben. Dies mögt ihr in der Stille tun, jeder nach seinem Gewissen. Und auch ihr sollt euch je gegenseitig vergeben. Morgen werden wir mitein­ander den göttlichen Leib nehmen und danach den Herrn Confini zu seiner Ruhe bestatten. Und dann werden wir trachten, unser Leben weiterhin zu ertragen, ein jeder nach seiner Weise. Denn dies wird ja von uns gefordert.“[29]
Karl Leisner schließt den Tagebucheintrag vom 18. November 1937 mit dem Satz: Ein Roman, der zu uns heute spricht!

[1] Siehe: Rundbrief des IKLK Nr. 56 – Februar 2010: Karl Leisners Bibliothek: S. 161 – 167.
[2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12.10.2008
[3] Hermann Kunisch, Der andere Bergengruen, Zürich 1958, S. 9f (zit.: Kunisch).
[4] Bergengruen, S. 6.
[5] Kunisch, S. 13.
[6] Siehe: Bergengruen, S. 6.
[7] Ebd., S. 284.
[8] Ebd., S. 21.
[9] Ebd., S. 32.
[10] Ebd., S. 66.
[11] Ebd., S. 67.
[12] Ebd., S. 73.
[13] Ebd., S. 96.
[14] Siehe: Ebd., S. 235.
[15] Ebd.
[16] Ebd., S. 236.
[17] Ebd., S. 216.
[18] Siehe: Ebd., S. 276.
[19] Ebd., S. 298.
[20] Ebd., S. 286.
[21] Ebd., S. 290.
[22] Ebd., S. 292.
[23] Ebd., S. 293.
[24] Siehe: Ebd.
[25] Ebd.
[26] Siehe: Ebd., S. 295f.
[27] Vgl. ebd., S. 296ff.
[28] Vgl. ebd., S. 300.
[29] Vgl. ebd., S. 301.

„Die Tagespost“ brachte am 4. September 2014 einen Artikel von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz unter dem Titel „Magie und Erlösung – Erinnerungen an einen großen Schriftsteller: Zum heutigen 50. Todestag des ‚christlichen Heiden’ Werner Bergengruen.“
Link zum Artikel der Tagespost vom 4. September 2014

„Die Tagespost“ brachte am 16. September 2014 einen Artikel von Michael Karger unter dem Titel „‚Das Los des Nachhutreiters’ – Er benennt das Böse, aber denunziert die Schöpfung nicht – Tagung der Katholischen Akademie München zum 50. Todestag von Werner Bergengruen.“
Link zum Artikel der Tagespost vom 16. September 2014