Vor 75 Jahren: Karl Leisner wird aus dem KZ-Dachau „geschmuggelt“

Die Befreiung des KZ Dachau am 29. April 1945 bedeutete für Karl Leisner noch keine Freiheit. Am 4. Mai 1945 gelang es Pater Otto Pies SJ mit Hilfe von Pfarrer Friedrich Pfanzelt von der Pfarrei Sankt Jakob in Dachau, Karl Leisner aus dem unter Quarantäne stehende Lager herauszuschmuggeln. Nach einem kurzen Aufenthalt im Pfarrhof von St. Jakob ging es weiter.
Ziel: das Waldsanatorium bei Planegg.
Es befindet sich in der Trägerschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul. Es begannen dort für Karl Leisner die letzten 100 Tage seines Lebens – in Freiheit.

Das Titelbild wurde im Krankenzimmer, in dem Karl Leisner gepflegt wurde, gegenüber seinem Bett aufgehängt.

Zitationshinweis zum Foto:
Madonna im Rosenhag (auch Muttergottes in der Rosenlaube)
Krischel, Roland, Stefan Lochner, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: http://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/stefan-lochner/DE-2086/lido/57c9424fcabc37.79045597 (abgerufen am 03.05.2020)

Pater Otto Pies SJ berichtet von dem Ereignis am 04.Mai 1945:
Karl wurde im Revier in äußerster Erregung, aber auch in tiefer Verlassenheit vorgefunden. Die amerikanische Lagerleitung hatte ihre Bestimmungen und durfte ihren Anweisungen gemäß die Kranken nicht entlassen. Diese sollten im Militärlazarett verpflegt werden bis zu einer späteren Zeit, da die Überführung in Krankenhäuser und Sanatorien möglich sein würde. Solange zu warten, war aber unmöglich. Karl hatte genug von militärischer Verpflegung, und nach ein paar Wochen wäre er bestimmt nicht mehr am Leben gewesen. Da musste gehandelt werden. Der Stadtpfarrer [Friedrich Pfanzelt] von Dachau, der den Neupriester bisher nur indirekt kannte und für die Feier der Priesterweihe und Primiz so wesentliche Hilfe geleistet hatte, fand sich sofort bereit, alle nur mögliche Unterstützung zu leisten. Es gelang nach einigen Schwierigkeiten und Verhandlungen, wieder ins Lager hineinzukommen und bis ins Revier vorzudringen. Dort wurde dem schwerkranken Primizianten nach der ersten gerührten Begrüßung kurzerhand eröffnet, er werde jetzt das Lager verlassen: er solle sich schnell anziehen, die allernotwendigsten Sachen einpacken, alles andere zurücklassen und dann entschlossen mit seinen Freunden das Revier und das Lager verlassen. Pater Pies hatte in einem Karton schwarze Priesterkleidung für Karl mitgebracht. Wer das Lager und Lagerleben nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, welch ungeheuerliche Vorstellungen und sogar Schreckensempfindungen sich eines alten Häftlings bemächtigen, wenn er von Flucht hörte und sich die Folgerungen vorstellte, die sich aus der Flucht notwendig ergeben mussten. Selbst Karl, der beherzte Draufgänger, erbleichte. Er wies den Gedanken energisch von sich, hielt den Plan einfach für unmöglich. Ein kurzes, eindringliches Zureden musste ihn erst überzeugen, dass alles gut vorbereitet sei und dass ihm keine andere Wahl mehr bleibe. Die Freiheit war zu verlockend, sein Zustand zu ernst, das Vertrauen zu seinen Freunden unbegrenzt, und der Entschluss war gefasst. Mit dem Pass[ierschein] des Stadtpfarrers von Dachau ausgerüstet, in den Kleidern seiner Freunde, schritt er durch das Revier, über den Appellplatz, schaute sich wie einer der vielen fremden Besucher mit innerlichem Interesse die geschmückten Baracken und die gewaltige Freiheitstribüne mit dem Riesenkreuz an und verließ dann seelenruhig und unerkannt das große eiserne Tor, durch das er vor fünf Jahren diesen Ort des Grauens, aber auch der reichsten Gnaden betreten hatte. Im Revier war sein Name durch den absolut treuen Oberpfleger, einen Barmherzigen Bruder [Wenzel Schulz] aus Prag, aus der Liste gestrichen worden. Es gab keinen Häftling Nr. 22356 mehr; der Neupriester Karl Leisner war frei. Vor dem Tor stand das Auto bereit. Es gehörte Pater Franz von Tattenbach SJ (Spiritual in Freiburg), der Karl Leisner und Pater Otto Pies SJ zunächst zum Pfarrhaus von Dachau und dann weiter nach Planegg gefahren. Mit der größten Sicherheit stieg man ein. Da aber ließ sich die Erregung nicht mehr halten. Der Schwerkranke musste sich vor lauter Aufregung und Schwäche erbrechen, aber was bedeutet das! Er ist frei, gerettet und in der Hut seiner Freunde. In rührender Weise sorgt der Stadtpfarrer [Friedrich] Pfanzelt in seinem Pfarrheim für den Schwerkranken. Dann geht die Fahrt in den dämmernden Abend und in die Freiheit hinein. Es war das Fest der heiligen Monika.

Der vorstehende Text sowie der nachfolgende Tagebucheintrag entstammen der Lebens-Chronik Band III 1940–1946 (Seite 2624 bis 2628 herausgegeben von Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel (Verlag BUTZON&BERCKER).

In seinem Tagebuch notierte Karl Leisner:

Dachau, Freitag, 4. Mai 1945, Heilige Monika [Tgb. 27, 7–9]
Herz-Jesu-Freitag im Marienmonat. Habe großes Vertrauen grad’ wegen der absoluten Not und Schlappheit. Bete mit Mutter Monika und meiner Mutter um baldige Wende. (Holo­caustum [Ganzhingabe]!)
18.00 Uhr abends [kommt] Otto mit Pfarrer von Dachau [Friedrich Pfanzelt]. Tiefe Rührung bei der Begegnung mit Geistlichem Rat Pfanzelt. Otto nimmt mich mit. Schnell Verband bei Wenzel [Schulz]. Lokus. Anziehen. Allernötigstes gepackt. Los! Otto muß mich durchs Revier führen. Schlapp bin ich! Über den Appellplatz. – Abschied. Das Riesenkreuz und der Altar mit den Fahnen stehn noch da. Abschied vom Lager!
Gut durchs Tor [des Jourhauses] und Entlassung. – Ins Auto!
Deo gratias!!!! Keine Autokontrolle. Der Heiland bei uns!

Etwas gebrochen nach der Aufre­gung und Anstrengung. Nach Dachau [zum Pfarrhof von St. Jakob]. Der gute Pfarrer [Friedrich Pfanzelt] läßt mir Weiheurkunde rahmen. Traubensaft, Rotwein, Hautöl, Schal. Rührend besorgt!
Morgen Dankmesse. Prächtiger Mann! An großen Anlagen, Apfelblüte vorbei, über Ampersteg. (Die große Brücke durch SS gesprengt!) Richtung München. Allach. Zerstörte Straßen. O – weites Land! Freiheit!! Abends beim Dämmerschein im Waldsanatorium gelandet. (Maria Eich vorbei. Zerstörte OT [Organisation Todt]-Wagen) Bombentrichter. Da!! Freundliche Auf­nahme durch Oberin [Schwester Virgilia Radlmair] und Chefarzt [Dr. Bernhard Cramer]. Zimmer 76. Im Bett. Oh – – !
Tct-Opii [Tinctura Opii]. Kleiner Tee mit Ei. Überglücklich!! Danken, danken, Eucharistia! [Danksagung] Otto mit mir! Er und [Fr.] Bernhard Kranz [SJ] bleiben über Nacht da. – Allein in einem eigenen Zimmer. Welche Seligkeit!

Nachfolgend können Sie nachlesen, was Karl-Heinz Seeger vor acht Jahren, am 03.05.2012 auf unserer Homepage dazu veröffentlicht hat. Bitte LINK anklicken.
Sowie ein weiterer Beitrag, der das Sterbezimmer im Waldsanatorium beschreibt.

Die Tuberkulose war nach der Befreiung Leisners Anfang Mai 1945 schon so weit fortgeschritten, dass die Schwestern im Waldsanatorium ihm nur mehr einen menschenwürdigen Aufenthalt und ein Sterben in christlicher Fürsorge ermöglichen konnten.

In einem eindrucksvollen Bericht, der am 07.12.2016 auf der Homepage veröffentlicht wurde, hat Hans-Karl Seeger die Krankengeschichte (Offene Tbc) von Karl Leisner dokumentiert.
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Hier noch ein Gastbeitrag von Pfarrer i. R. Oskar Bühler, Koblenz-Metternich. Pfarrer Bühler betreut die Homepage vom Priester- und Bildungshaus „Berg Moriah“.
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