Vor 85 Jahren zog Karl Leisner ins Collegium Borromaeum in Münster ein

Karl Leisner hatte sein Abitur sehr gut bestanden, aber das Abiturzeugnis berechtigte noch nicht zum Studium. Dazu brauchten die Abiturienten die Zuerkennung der Hochschulreife. Auch diejenigen, die Theologie studieren woll­­ten, wußten noch nicht, was auf sie zukam. Eventuell würde der Bischof sie von der Zuerkennung der Hochschulreife befreien.

Hinzu kam noch, daß Karl Leisner sehr jung war und, was heute verwundert, sich zu viele Abiturienten zum Theologiestudium meldeten. Daher war fraglich, ob er genommen würde.

Zeit der Vorbereitung

Notiz in einer Kladde
Bis zum 24.3.1934
Herrn Direktor Dr. [Robert] Melcher, Münster, Collegium Borromaeum, Domplatz 8
/9.
Auch Abiturienten ohne Hochschulreifezeugnis.
Jeder Bewerber muß daher, sobald ihm die Entscheidung über seine Zulas­sung zum Universitätsstudium zugestellt wird, unverzüglich zu seinen schon eingereichten Papieren auch noch diese Entscheidung einreichen in Origi­nal oder beglaubigter Abschrift.
Arbeitsdienst nicht verlangt.
Die einzureichenden Schriftstücke sind folgende:
1. ein in lateinischer Spr. [Sprache] abgefaßtes curriculum vitae [Lebens­lauf], aus welchem der Geburtsort des Bewerbers, der jetzige Wohnort der El­tern, sowie deren Namen und Stand zu ersehen ist;
2. ein Taufzeugnis, woraus die eheliche Geburt erhellt[1];
3.
ein Firmzeugnis;
4.
eine beglaubigte Abschrift des Reifezeugnisses oder in Ermangelung eines solchen vorläufig die letzte Zensur.
5.
Ein verschlossenes Sittenzeugnis des bisherigen Religionslehrers und des Heimatpfarrers.
6.
Ein von einem beamteten Arzte (Kreisarzt oder Stadtarzt) ausgestelltes ärztli­ches Gesundheitszeugnis, aus welchem hervorgeht, ob der Unter­suchte an organischen Fehlern, chronischen oder akuten Krankheiten ge­litten hat oder noch leidet.
7.
Eine handschriftliche Verbürgung des Vaters, Vormundes oder anderer für die regelmäßige Entrichtung des Kostgeldes (zur Zeit 400,00 RM pro Jahr) zu den festgesetzten Terminen, verbunden mit der Be­scheinigung des zuständigen Pfarrers, daß die Unterzeichner die Zah­lung zu leisten vermögen.
[1] Uneheliche Geburt war damals ein Weihehindernis, s. CIC 1917, Can. 983.

Außerdem befindet sich im Nachlaß von Karl Leisner folgender Notizzettel ohne Datum:
Münster-Papiere:
1.) Abschrift der „Zensur“.[1]
2.) Versicherung von Vater, vom Pastor [Jakob Küppers] unterschreiben lassen.
3.) Tauf-
4.) Firmschein. (Um 14.00 Uhr zu Pastor [Paul] Hellraeth Firmzeugnis: 1926)[2]
[1] Karl Leisner hatte sein Abiturzeugnis zu dem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht in Händen.
[2] Das Datum der Firmung ist falsch; sie war am 20.7.1927.

Offensichtlich hatte Karl Leisner ebenso wie Heinrich Tenhumberg folgendes Schreiben erhalten.

[Collegium Borromaeum Münster, Domplatz 8/9]
Sie werden wahrscheinlich vom Arbeitsdienst (Hauptmeldestelle des Arbeits­gaues) eine Aufforderung bekommen, sich zum Diensthalbjahr für Studenten zu melden, weil Sie sonst Ihr Studium nicht beginnen könn­ten.
Letzteres gilt nicht für das Studium der katholischen Theologie.
Wenn Sie also nicht etwa freiwillig das Diensthalbjahr ableisten wollen, so können Sie die Aufforderung unbeantwortet lassen. Die Hauptstelle in Düsseldorf sprach allerdings den Wunsch aus, über Ihre Studienabsicht unterrichtet zu werden. Ich halte es für zweckmäßig, diesem Wunsch zu entsprechen: Sie füllen die Rückantwortkarte auf der Vorderseite und auf der Rückseite oben aus, durchstreichen die folgenden 4 Abschnitte und unterschreiben nicht, sondern bemerken auf der Karte oder besser in einem Begleitschreiben, daß Sie katholische Theologie studieren wollten und das Diensthalbjahr nicht mitmachen würden.
Dr. Melcher, Direktor des Collegium Borro­maeum

Nachträglich schrieb Karl Leisner am 22. Juli 1935 in sein Tagebuch:
Ja und dann ging’s zur Uni [Westfälischen Wilhelms-Universität] nach Mün­ster. Zunächst war Absage vom Colle­gium Borromaeum gekommen. Ich hatte mich schon für den Arbeits­dienst gemeldet, war untersucht und bereit, über­morgen ins Lager Fried­richsfeld abzureisen, da kommt von Münster der bischöfliche Bescheid, sofort kommen, wenn Hochschulreife erhalten – und schon war ich stud. theol. Zu Beginn, am Start zum großen Lebensziel, das ich mir in manch harter, banger, stiller und ernster Stunde mit meinem Hei­land allein – lang­sam und still keimend und wachsend vom Wunsch zur Tat – vorgenommen habe. Und es kam noch so viel Leben, Wachsen, Fallen und Wiederaufstehn, soviel Freude und Wonne, soviel Sonne und Licht – ach, ich bin ganz über­voll davon – ich kann Ihm, dem All­gütigen nur sagen: Dank Dir und Preis für all Deine gütige Führung und Schenkung.

Inzwischen war Karl Leisner am 18. März 1934 Bezirksjungscharführer geworden.

Kleve, Dienstag, 1. Mai 1934
Seit den so „interessanten“ Tagen der Reifeprüfung habe ich manch Gro­ßes und Feines mitgemacht. Eine ganze Fülle von Arbeit häufte sich auf mei­nen Schultern zusammen. Manchmal drohte ich ein Betriebsmensch zu werden – und doch – es war eine rassige Zeit, so zu schaffen und zu wühlen.
[…]
Ja – und heute, wo ich dies schreibe, – da hab’n „wir Bonzen“ ihn schon![1] Ha, ha! – „Ja, es gibt noch einen guten und gerechten Gott“, so sagte ich kurz drauf zu Manes [Hermann Mies], „das haben wir dieses Jahr gemerkt“. – Und dann nach der bestandenen [Abitur-]Prüfung die frische Ar­beit im Bezirk [Kleve als Bezirksjungscharführer]. Heute hier – morgen da! Wie ein „rasendes Ungeheuer“ fizte ich durch den gan­zen Kreis. Eine Scharstunde nach der andern. Heute bei den Prä­sides in Goch, bei Kaplan [Josef] Bühren[2], bei Kaplan [Bernhard] Worm­land[3]. Mor­gen Führerbesprechung in Pfalzdorf, in Kranenburg … – Alles klappt! Feine Führer, frische Jungens, Begeisterung! Höhepunkte. Bren­nende Herzen für Christus, unsern und mei­nen Führer, strahlende Jungen­augen, glänzende Bubengesichter! – Das wer­den einmal Heilige! – „Laßt die Banner wehen!“ – Wir halten die Treue. – Alles wird überwunden: Heiser­keit, Erkältung, Schlappheit! Wie ein müder Hund falle ich manchmal kurz vor oder auch nach Mitternacht in die Klappe, in der Willi schon see­lenru­hig pennt! – „Es macht viel Arbeit, aber noch mehr Freude!“ – Man wächst, trotzdem man sich immer mehr ausgibt. Chri­stus in der heiligen Eu­charistie gibt Glut, Kraft, Sieg! Alles kann man, was man will, das ist wahr!
Nur zum Schluß, da packte mich eine seelische Müdigkeit, die wohl körper­lich mitbedingt war – und es ging bergab! Aber so wurde abgestoppt im Hin­blick auf den heiligen Beruf, den Gott mir – wenn seine Gnade hilft – schen­ken will!
Zudem, inzwischen hatte ich mich zum DAD [FAD – Freiwilligen Arbeitsdienst] ge­meldet – untersucht – und am 25.4.[1934] hatte ich Bescheid, nach Fried­richsfeld bei Wesel zu kom­men! Da – am 30.4. – kommt ein Brief von Mün­ster von Dr. Mel­cher, die wegen ihres jugendlichen Alters zurück­gesetzten Bewerber könn­­ten doch zum Stu­dium schon dieses Jahr zugelas­sen werden, wenn sie die Berechtigung zum Hochschulstudium hätten. – Beim Arbeitsamt erkun­digt, ob die FAD-Meldung und Verpflichtung rück­gängig gemacht werden kann – positiven Bescheid er­halten! Brief nach Mün­ster [an Dr. Melcher]: „Komme am 7. Mai“.[4] – Also – es ist Gottes heili­ger Wille, daß ich dieses Jahr schon das Studium der Gottes­gelehrtheit be­ginne! Drum auf, mit heili­gem Mut, stolzer Kraft, tiefer Demut, ganzer glän­zender Reinheit, festem Glauben, starker Hoffnung und glühender Liebe ans hohe, heilige Werk. Fleißig, sparsam, tüchtig, strebsam ran an die Arbeit! Gott hilft gern! Es gilt meine Zukunft, mein Leben, mein Beruf!

[1] ihn bezieht sich vermutlich auf das Abiturzeugnis, auch Waldbeerschein ge­nannt.
[2] Josef Bühren war vom 10.8.1933 bis 8.7.1939 Kaplan in Goch, Rektoratskirche Liebfrauen.
[3] Bernhard Wormland war vom 8.1.1934 bis 1946 Kaplan in Goch, St. Maria Mag­dalena.
[4] Anreise ins Collegium war bereits am 5.5.1934, Semesterbeginn am 7.5.

Einzug ins Collegium Borrmaeum

Am 5. Mai 1934 zo­gen 87 junge Männer ins Collegium Borromaeum in Münster ein, um Priester zu werden. 65 wur­den geweiht, unter ihnen auch Karl Leisner. Er teilte sein Zimmer mit Jakob Lomme.

Münster, Sonntag, 6. Mai 1934
Nun, mein liebes Tagebuch, ich habe dir allerlei Neues zu berichten. Seit gestern abend stecke ich im Collegium Borromaeum zu Münster. – Nach aller muntern Arbeit im Clever Jungscharbezirk habe ich mich in einen „Ka­sten“ verirrt, wo alles fein nett und geregelt zugeht. Was, da staunst du! – Nun es ist aber ein guter „Kasten“, in den ich mich gesteckt habe. Er ist für werdende Priester, für Studenten der katholischen Gottesgelehrtheit. Ich hoffe, daß ich mit Gottes starker Hilfe es mal soweit bringe als Gesalbter des Herrn am Altare Gottes das heilige Opfer darbringen zu dürfen. Gott hat sich meine Schwachheit auserkoren, wie ich inständig hoffe und worum [ich] täg­lich beten will.
Gestern kam ich um 17.30 Uhr mit dem D-Zug in Münster an.[1] Mein lieber Walter, mein ehemaliger Religionslehrer in Kleve, mein Grup­penführer, dem ich so vieles Gute und Schöne zu verdanken habe, holte mich ab und beglei­tete mich zum Collegium Borro­maeum.[2] Etwas un­gewohnt kam mir das Ganze noch vor. Etwas verwirrt oder zerstreut und auch wohl etwas müde von der langen Fahrt kommt mir alles etwas „Spa­nisch“ vor.[3] Ich ver­laufe mich gleich zu Privatdozent Dr. [Johannes] Qua­sten, statt ich in mein Zim­mer I,3[4] gehe. – Eine toffte Bude! – Um 18.15 Uhr hält uns unser neuer Direktor Schmäing[5] – ein ganz feiner Mensch – seine kurze Ein­füh­rungsan­sprache. Anschlie­ßend erstes Abend­essen – es geht etwas schnell. – Um 20.15 Uhr in der Kapelle, die mir einzig gefällt, eine feine Predigt des Direk­tors über das Wort des Philipper­briefes: „Ich ver­gesse, was hinter mir liegt, und strecke mich aus (oder „jage nach“) auf das, was vor mir liegt [Phil 3,13]“.
Feine Gedanken! Wir verlassen Heimat, Eltern, Freunde, Kameraden – liebe und traute „Gewohnheiten“. – Jetzt geht’s mit Macht auf’s große Ziel: das Priestertum. Wir vergessen auch Sünden der Vergangenheit. So schrei­ten wir mutig, mit Reue im Herzen, aber doch frohen, starkmütigen Her­zens unse­rm hohen Beruf entgegen, jetzt gleichsam schon ein priesterliches Leben füh­rend!
Ruhig und sicher habe ich von 21.50 Uhr bis 6.00 Uhr gepennt. Schwung­haft aus dem Bett! – Schlipsbinden klappt![6] – 6.30 Uhr heilige Messe c. C. [cum communione – mit Kommunionempfang] – 7.30 Uhr Kaffee. – 8.15 Uhr Einführender Vortrag über Verhalten im Haus – Belegen von Vorlesungen [an der Uni­versität] usw. – 9.00 Uhr zweites Frühstück – bis 9.30 Uhr Karten an Theo Derk­sen. 9.30 Uhr Hochamt im Dom.[7] – Nachher Karten an Kaplan [Heinrich] Brey – Zu Hause – Hein Wennekers – Hs. [Hans] Seeger. 12.30 Uhr Mittagessen. 13.30 Uhr zu Wal­ter [Hammerstraße 16]! – Angetroffen! – Bis 14.50 Uhr Erzählen über Borro­maeum – Jugendfrage. – 15.00 Uhr im Josefs­haus Maian­dacht. An­schlie­ßend Kaffeetrinken dort. Bis 16.45 Uhr noch bei Wal­ter, vorher im Garten spazieren. 17.00 Uhr Vortrag unseres Herrn Direktors über die Tages­ordnung und die Statuten[8]. Von 18.00 bis 19.00 Uhr Silentium, 19.00 Uhr Abendbrot. Anschließend Plätzever­teilen in der Kapelle.[9] Da­nach eben bis 20.00 Uhr auf dem Domplatz.[10] 20.00 Uhr An­dacht mit Abend­­gebet und sakramentalem Segen.

[1] Karl Leisner war von Kleve vermutlich über Xanten-West, Menzelen-West, Wesel und Haltern nach Münster gefahren.
[2] Walter Vinnenberg war von 1934 bis 1937 Studienassessor am Ma­rienober­lyze­um in Münster.
[3] Diese Redensart hat ihren Ursprung im 16. Jh., als der spanische König Carlos I. (15001558) zum deutschen Kaiser Karl V. wurde. Spanischer Einfluß und spani­sche Sitten verbreiteten sich in etlichen Lebensbereichen der Deutschen. Daher war vieles für sie neu und fremd, es kam ihnen eben spanisch vor. Empfin­det ein Spanier etwas als unverständlich, seltsam oder fremdartig, so sagt er: „Esto me suena a chino – Das kommt mir chinesisch vor.“
[4] Zimmer Nr. 3 im Parterre im Ostflügel. Dort wohnten damals auch die Repeten­ten und Dr. Johannes Quasten. Später bewohnte Karl Leisner vermutlich Zimmer 456 im 4. Stock.
[5] Franz Schmäing begann mit dem Sommersemester 1934 seinen Dienst als Direk­tor des Collegium Borro­maeum.
[6] Auf dem Abiturfoto ist Karl Leisner als einziger mit dem Schillerkragen, einem offenen Hemd ohne Krawatte, zu se­hen.
Im Collegium Borromaeum war das Tragen einer Krawatte vorgeschrieben.
[7] Neben der Frühmesse im Collegium Borromaeum, in der kommuniziert wurde, gingen die Studenten sonntags auch ins Hochamt in den Dom.
[8] Die von Bischof Johann Georg Müller am 20.10.1856 erlassenen Statuten umfas­sen 15 Paragraphen.
[9] Die Studenten hatten sowohl in der Kapelle als auch im Speisesaal in alphabe­tischer Reihenfolge angewiesene Plätze.
[10] Die Studenten hatten bis in die 1960er Jahre keinen Haustürschlüssel. Nach dem Abendessen war ein Spaziergang auf dem Domplatz möglich.

Karl Leisner war zum ersten Mal in seinem Leben längere Zeit von Kleve getrennt, verfolgte aber mit Interesse, was dort geschah. Das Wichtigste über die Ereignisse in seiner Heimat ist im Tagebuch seines Bruders Willi dokumentiert.