Karl Leisner und seine „Begegnung“ mit den Befreiern

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Der Befreier: Die Geschichte eines amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg

Andreas Kilb rezensierte dieses Buch am 31. Mai 2014 in der F.A.Z. unter der Überschrift: Der Papierkorb kennt die Wahrheit – An vorderster Front: Alex Kershaws Buch über einen amerikanischen Offizier und das „Dachauer-Massaker“

 

Dort heißt es u. a.:
Populäre Geschichtsschreibung, zumal aus dem englischen Sprachraum, steht zu Unrecht in Verruf. Sie füllt eine Lücke, besonders in Ländern, in denen wie bei uns das Erzähltalent der akademischen Elite nicht übermäßig ausgeprägt ist. Und doch wird man mit Alex Kershaws „Befreier“ nicht glücklich.
[…]
„Der Befreier“, Kershaws jüngstes Werk, folgt den Spuren von Felix Sparks, der im Zweiten Weltkrieg ein Bataillon der 45. US-Infanteriedivision kommandierte und bis zum Rang eines Colonels aufstieg. Ins Licht der Zeitgeschichte trat Sparks, als er am 29. April mit seiner Einheit das Konzentrationslager Dachau befreite und dabei zum Zeugen und Mitverantwortlichen des sogenannten Dachau-Massakers wurde, der Tötung von gefangenen SS-Wachen und mutmaßlichen Denunzianten durch amerikanische Armeeangehörige und überlebende Lagerhäftlinge.
[…]
Kershaw hat sein Thema nicht nur verschenkt. Er hat es ignoriert.
Denn Felix Sparks, der im Zuge des Vormarschs zum Obersalzberg den Auftrag bekam, mit seinen Männern einen Lagerkomplex nahe München zu besetzen, von dessen Insassen er sich nur vage Vorstellungen machte, hat das Dachau-Massaker – dessen filmische Version Martin Scorsese vor drei Jahren in „Shutter Island“ lieferte – nicht bloß mit angesehen, sondern offenbar Schlimmeres verhindert. Eine Serie von vier Fotografien, die am Anfang des Buches zu sehen ist, zeigt Sparks, wie er mit seiner Offizierspistole in die Luft schießt, um Soldaten seines Bataillons davon abzuhalten, weiter auf die an einer Wand aufgereihten SS-Wachen zu feuern. Dennoch starben an diesem Vormittag im Mai etwa vierzig Menschen als Vergeltung für die Verbrechen, die in Dachau verübt worden waren. Der amerikanische General Linden, Kommandeur einer weiteren Infanteriedivision, der in Begleitung der Kriegsreporterin Marguerite Higgins[1] ins Lager kam und zu den Häftlingen vorzudringen versuchte, wurde von Sparks mit der Waffe in der Hand gezwungen, das Gelände zu verlassen. Auch siebzig Jahre nach Kriegsende ist nicht völlig klar, was genau an jenem Tag in Dachau geschah.
In diesem geschichtlichen Nebel breiteten sich, je länger das Geschehen selbst zurücklag, immer mehr Legenden und Halbwahrheiten aus. Der Revisionist Erich Kern nahm das Massaker in seine Liste alliierter Kriegsverbrechen an Deutschen auf. Der Bataillonsarzt Howard Buechner, der von einer Untersuchungskommission der U.S. Army nach dem Krieg als einer der Hauptverantwortlichen für die Erschießungen benannt worden war, schob die Schuld in seinen Erinnerungen auf Sparks und dessen Untergebene. Kershaw hält Buechners „Märchen“ die Fotos von Sparks und ein Zitat aus dem 1991 wiederentdeckten Untersuchungsbericht entgegen. Aber er macht sich nicht die Mühe, zu untersuchen, in welchem. Meinungsklima der Fall erst in den vierziger und dann in den achtziger Jahren verhandelt wurde. Lieber lässt er den amerikanischen Nationalhelden Patton[2] auftreten, der den Bericht über Sparks mit großer Geste im Papierkorb versenkt. Auch so kann man sich vor einer Aufgabe drücken.
Darin nämlich hätte die Herausforderung dieses Buches gelegen: die Geschichte eines Vorfalls aufzublättern, der in den Augen der Nachwelt in immer neuen Färbungen erscheint. Nicht die eine Wahrheit, sondern die vielen Wahrnehmungen zu schildern, die sich um den dunklen Kern des historischen Geschehens herum anlagern. Statt dessen erzählt uns Kershaw ein Soldatenleben im Landserjargon mit einer besinnlichen KZ-Episode am Schluss. Nichts gegen die populäre Geschichtsschreibung. Aber hier grenzt das Populäre ans Ordinäre.

[1] Marguerite Higgins Hall, genannt Maggie, (* 3.9.1920 in Honkong, † 3.1.1966 in Washing­­ton D. C.) – amerikanische Journalistin und Kriegsberichterstatterin – Heirat 1952 mit Ge­ne­ralleutnant William Hall – Als Kriegskorrespondentin war sie bei den Befreiern des KZ Dachau und erhielt als erste Frau den Pu­litzer-Preis.
[2] Georg S. Patton (* 11.11.1885 in San Gabriel/Kalifornien/USA, † an den Folgen eines als Autounfall getarnten, aber nie offiziell aufgeklärten Attentates 21.12.1945 im US-Militär­hospital in Heidelberg) – General – Befehlshaber der 3. US-Armee im Zweiten Weltkrieg

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Was würde der Zeitzeuge Karl Leisner zu diesem Buch sagen? Vom Krankenbett aus hat er den 29. April 1945 miterlebt:
Morgens in der Bettruhe Ein­schläge schwerer Artillerie in der Nähe. Maschi­nengewehr- und Gewehrfeuer. Die Nacht zuvor schon gute Schieße­rei. Große Hoffnung! „Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an“ – singe ich spaßhaft und doch ernst.[1] Es wird so. Die weiße Fahne auf Komman­dantur etc. – Was wird gesche­hn? Um 17.30 Uhr die ersten amerika­ni­schen Solda­ten. (Vorher Ge­rücht, das Lager sei übergeben). Riesiger Jubel im Lager, Freu­denausbrüche bis an die Grenze des Mögli­chen. Die ameri­kani­schen Sol­daten werden zerdrückt. Polen stür­men Jourhaus, zertram­peln das Hitler­bild, zerschmettern die SS-Ge­wehre. Eine Stimmung, unbeschreib­lich. In zehn Minuten flattern die Fahnen der befreiten Na­tionen.[2] Herr­lich! Ich liege schwer krank da. Höre das alles nur von weitem und vom Erzählen. Ziehe mir die Decke übers Gesicht und weine zehn Minuten vor überwälti­gender Freude. Endlich frei von der ver­dammten Na­zityrannei! Bis auf zehn Tage waren’s fünfein­halb Jahre hinter Git­tern [9.11.1939 bis 29.4.1945]. Ich bin überglücklich. Heil unseren Be­freiern! Die Aufregung auf der Tbc-Sta­tion [im Block 13] ist groß.[3] Jeder Halbge­sunde rennt ins Lager und er­zählt hin­terher. Die Turmbesat­zungen [des Wachturms B] hatten weiße Fah­ne gehißt. Trotz­dem zieht noch einer seine Browning. Alle wer­den prompt um­ge­legt. Das ist Recht![4]
Die Nacht schießt eine schwere amerikanische Batte­rie über’s Lager weg. SS will das Lager wieder erobern, sagt man. Aber alles geht gut! Deo gra­tias!

[1] Es handelt sich um die letzte Zeile der zweiten Strophe des Liedes „Die Fahne hoch“ von Horst Wessel, die Karl Leis­ner auf seine Weise inter­pretiert.
Es war nicht ungewöhnlich, daß auch Gegner des Nationalsozialismus das Horst-Wessel-Lied zitierten, wenn der Inhalt paßte. So schrieb Franz Brocks 1935 an stud. theol. Heinrich Tenhumberg:
Ich weiß: Du „marschierst im Geist in unsern Reihen mit“.
[2] Heinrich Auer:
[…] alle Nationen waren [im Nu] mit ihren Flaggen ver­treten, 26 an der Zahl, nur eine fehlte: denn welche deutsche Flagge hätten wir hissen sollen? (Auer, Heinrich: Meine Erlebnisse im Konzentrati­onsla­ger Dachau (1943–1945), (Typoskript) 1945: 12).
Johann Steinbock:
Die Deutschen waren die einzigen, die in diesen Tagen keine Fahne hat­ten (Steinbock, Johann:  Das Ende von Dachau, Steyr 1995 (Neuauflage der Erstauflage von Salzburg 1948): 44).
Edgar Kupfer-Koberwitz:
Überall im Lager wehen jetzt von den Blocks die Fahnen in den Farben aller Län­der, die hier vertreten sind. – Wo sind sie nur herge­kommen? – Weißer Stoff, – gut: Lei­nentü­cher, Bettlaken, – aber die anderen Farben? – Ob die Kameraden sie in den Ma­gazinen der SS fanden? (Kupfer-Koberwitz, Edgar: Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814, München 1997: 451)
[3] Edgar Kupfer-Koberwitz:
Dann wieder Getöse: „Ein Soldat ist im Re­vier, ein Ame­rikaner, – gleich wird er hier sein!“ – Und gleich darauf ist er da, – ein Hüne im Stahlhelm, lächelnd, ganz ruhig und Gummi kauend. – „Hallo boys!“ – sagt er. – Sie umringen ihn, – jeder gibt ihm die Hand, – wer ein paar Worte englisch kann, sagt sie ihm. – Der kleine ita­lienische Advokat, ein älterer Mann, kriecht aus dem Bett, geht hin, gibt ihm die Hand. – Er steht neben dem Riesen wie ein Zwerg: „I thank you for all what you have done for us“ [Ich danke Ihnen für al­les, was Sie für uns getan ha­ben], – sagt er und schaut mit nassen Augen zu dem großen Sol­daten auf. – Der sagt: „Oh, das war nicht schlimm, nur so ein kleines Ge­fecht.“ – Und er geht durch den Raum, umringt, alle Hände strecken sich ihm ent­gegen. – Er be­ginnt zu singen: „It’s a long way to Tippe­rary, it’s a long way to go …“ – Alle singen mit (Kupfer-Koberwitz 1997: 445f.).
Am 31.1.1912 gegen Mittag komponierte der britische Varietésänger Jack Judge auf Grund einer Wette innerhalb von 90 Minuten dieses Lied und trug es am sel­ben Abend in seinem inzwischen nach ihm benannten Stammlokal im eng­lischen Stalybridge vor. Als eines der Lieblingsmarschlieder der britischen Sol­daten im Ersten Weltkrieg wurde es weltbekannt. Es entwickelte sich zu einem wahren Ohrwurm. Wurde es später von einer Folkgruppe gesungen, klei­dete diese sich nicht selten wie die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
[4] Jürgen Zarusky:
Bei der Einnahme des Schutzhaftlagers wurde, offenbar in zwei kurz nachein­ander stattfindenden Aktionen, die gesamte 17 Mann umfassende Besatzung des Wachturms B getötet, nachdem sie sich ergeben hatte. Dabei wirkten in nicht genau zu bestimmender Weise auch Häftlinge mit, die über den Lager­zaun geklettert waren (Zarusky, Jürgen: Die Erschießung der gefangenen SS-Leute bei der Befreiung des KZ Dachau. In: Wolf­gang Benz u. Angelika Königseder: Das Konzengtrationlager Dachau, Berlin 2008: 122).
Wilhelm Haas:
Dadurch, daß das Wort „Recht“ großge­schrie­ben ist, deutet Karl Leisner an, daß man diese Aktion der Ameri­kaner als rech­tens im Rahmen des Kriegs­rechtes ansehen kann.
Hildegard Niestroj:
Nach meinem Verständnis beziehen sich diese Worte Karl Leisners auf die gesamte Befreiungssituation des Lagers und drücken aus, dass die Befreiung von der ver­dammten Nazityrannei nicht mehr umzukehren war, auch nicht durch Hitlers Schergen, die mit Gewaltakten versuchten, die Befreiungsaktion zu ver­hin­dern.

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Weitere Kommentare zu den Ereignissen am 29. April 1945: siehe: Hans-Karl Seeger, Karl Leisners letztes Tagebuch, Neuausgabe Kevelaer: Butzon & Bercker 2007