„Die Jahreszahl 1968 ist zur Chiffre geworden. Angeblich steht sie für eine historische Zäsur. […] Gemeint sind vielmehr eine Jugendbewegung und ihre politischen Erwartungen.“ schrieb Jürgen Kaube in der F.A.Z. vom 17. Januar 2018 unter der Überschrift „1968“.
FAZ.Net vom 18. Januar 2018 – Die Zeiten konnten nicht finster genug sein
Karl Leisner wurde in einer Zeit geboren, als es auch eine Jugendbewegung gab, diese hatte 1913 auf dem Hohen Meißner begonnen (s. Aktuelles vom 12. Oktober 2013 – Beginn der Jugendbewegung vor 100 Jahren). Hinsichtlich der Zeitströmungen war es die Jugendbewegung in Deutschland, die auch Karl Leisners Leben eine charakteristische Ausrichtung gab.
Ihre Entstehung fällt fast mit seinem Geburtsjahr 1915 zusammen. In Kleve erfaßte sie das Kreuzbündnis, in deren Jugendabteilung Jungkreuzbund und dem zum Teil daraus hervorgegangenen Katholischen Wandervogel Karl Leisner als Junge neben Familie, Freunden und Kirche eine weitere Heimat fand.
Die aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts ausbrechende Jugend machte Front gegen das gesellschaftliche Kastendenken und den Materialismus ihrer Väter. Unter preußischer Führung war Deutschland bis in die Beamtenschaft uniformiert, das Militär gab den Ton an, und der Mensch begann so recht erst beim Offizier. Entsprechend war das Leben in den Marianischen Kongregationen und Jünglings- und Jungfrauenvereinen. Den ersten Schritt in eine neue Gesellschaftsordnung wagten die Wandervögel. Man vertraute mehr auf das Wachsen der Bewegung als auf Organisation und klare Ziele.
Der Wandervogel war die erste Gruppenbildung in der deutschen Jugendbewegung und entstand 1896 aus einer Schülerwandergruppe am Berlin-Steglitzer Gymnasium. Eine wichtige Person war Karl Fischer, der Erste Vorsitzende des 1897 gegründeten Stenographenvereins am Steglitzer Gymnasium.
Die Bewegung erstreckte sich über ganz Deutschland und die deutschsprachigen Nachbarländer. Der „Wandervogel“ bildete einen eigenen Lebensstil aus mit Volkstanz, Volkslied, Volksmusik, Führerauslese, besonderer Kleidung, Lagerleben und Wanderfahrten. Er strebte Selbsterziehung und Lebensgestaltung in den jugendlichen Gemeinschaften an. Völlig neu war es, das Gruppenleben ohne Erwachsene zu gestalten und Jugend durch Jugend zu führen.
1907 kamen in Jena und Heidelberg eigene Mädchengruppen hinzu, die allerdings nicht mit den Jungen gemeinsam tagten oder auf Fahrt gingen. Die Jugendbewegung befreite die Frau von modisch einengenden Zwängen.
Die in die Geschichte eingegangene sogenannte Meißner Formel lautet:
„Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung und Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Tagungen sind alkohol- und nikotinfrei.“
Dieses Aufbrechen der Jugend wurde jäh durch den Ersten Weltkrieg gestoppt, in dem viele junge Menschen, die sich freiwillig für den Kampf gemeldet hatten, ihr Leben ließen.
1919 knüpften junge Menschen erneut an den Aufbruch vom Beginn des Jahrhunderts an. Um 1923 kam der Begriff Bündische Jugend auf, eine Sammelbezeichnung für die politisch und konfessionell nicht gebundenen Bünde der Jugendbewegung im Sinne der Meißner Formel. Als eigenständige Selbsterziehungsgemeinschaft stand sie im Gegensatz zu den Jugendpflegeverbänden.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Jugendbewegung entstand auch eine Katholische Jugendbewegung. Sie wollte eine konkrete Antwort aus der vorgegebenen religiös-kirchlichen Wirklichkeit heraus geben.
Die in den Jahren 1871–1875 vom Reichskanzler Otto Graf von Bismarck erlassenen Kulturgesetze trafen nicht nur die Aktivitäten der katholischen Kirche allgemein, sondern auch die religiöse Schülerarbeit und die außerschulische Jugendarbeit: 1872 kam das Jesuitengesetz mit der Ausweisung der Jesuiten und der jesuitenähnlichen Orden aus dem Deutschen Reich, dazu das Verbot aller religiösen Vereine an höheren Schulen in Preußen. Bis zum Kulturkampf gab es an vielen höheren Schulen von den Jesuiten geleitete Marianische Kongregationen. Auch als 1904 das Verbot der religiösen Schülervereinigungen aufgehoben wurde, blieb deren Gründung genehmigungspflichtig und an die staatliche Schulaufsicht gebunden. Gefördert wurde interkonfessionelle Jugendarbeit. Jugendpfleger, die vorwiegend aus der Lehrerschaft und dem Militär kamen, wurden hauptamtlich vom preußischen Kultusministerium eingesetzt. Für diese Jugendarbeit stellte man öffentliche Mittel bereit, wohingegen konfessionelle, vor allem aber die katholische Jugendarbeit vom Staat benachteiligt und beschnitten wurde. Das führte zur Entwicklung der Jugendbewegung, deren Parole die sogenannte Meißner Formel wurde. Die katholische Jugend blieb von dem allgemeinen Aufbruch der Jugend nicht unberührt. Sie fühlte sich in ihrem Wollen solidarisch mit der freien Bewegung, obwohl sie auch eigene Wege ging.
Als begnadeter Jugendführer stieg Karl Leisner vom Gruppenmitglied über Gruppenführer und Bezirksjungscharführer zum Diözesanjungscharführer auf. Ab 1936 stand er unter Beobachtung der Gestapo, die ihn letztendlich ins KZ Dachau brachte.
Was war so neu an der Art, in der Karl Leisner Jugendarbeit gestaltete? Er nahm die Elemente der Jugendbewegung auf, wobei ihn sein Mentor und Religionslehrer Dr. Walter Vinnenberg anregte und unterstützte. Vielen Pfarrern, die, als sie Pfarrer wurden, in der Regel ihr silbernes Priesterjubiläum bereits hinter sich hatten, gefiel das nicht; daher beschwerte sich Karl Leisner darüber bei seinem Bischof Clemens August Graf von Galen. Laut Überlieferung soll dieser sich dazu wie folgt geäußert haben: „Ich kann sie doch nicht alle versetzten.“ Getragen wurde die Katholische Jugendbewegung vorwiegend von den Kaplänen.
In die Zeit der Jugendbewegung fiel auch die Liturgische Bewegung (s. Aktuelles vom 16. September 2017 – 100 Jahre „Vom Geist der Liturgie“), deren Ergebnisse sich bestimmend im II. Vatikanischen Konzil 1962-1965 auswirkten.
P. Anselm Schott OSB, ab 1868 im Kloster Beuron, hat 1884 mit seinem lateinisch-deutschen Meßbuch der röm.-kath. Kirche, kurz Schott genannt (s. Aktuelles vom 23. September 2017 – Karl Leisner und der „Schott“), einen tragenden Pfeiler der Liturgischen Bewegung geschaffen. Mit Hilfe des Schotts konnten die Gläubigen auch ohne Lateinkenntnisse mühelos den Gebeten des Priesters folgen und mitbeten.
Die übliche „Stille Messe“ unterschied sich von einer „Gemeinschaftsmesse“ dadurch, daß die Gläubigen Privatgebete oder eine Kommunionandacht verrichteten. In der Gemeinschaftsmesse betete die Gemeinde die Meßtexte z. B. mit Hilfe eines Schott-Meßbuches mit, zum Teil auch laut, während der zelebrierende Priester den lateinischen Text leise las. Romano Guardinis Anliegen in der Liturgischen Bewegung war: „Nicht in der Messe beten, sondern die Messe beten“ (Papst Pius X.). Dabei war der Schott eine große Hilfe.
Im Nachlaß von Karl Leisner befindet sich ein Handzettel mit dem „Äußeren und inneren Aufbau der heilige Messe“. Der letzte Satz auf diesem Zettel lautet:
Nur dann ist Dir der Geist des heiligen Meßopfers aufgegangen, wenn Du nicht „in der Messe“, sondern wenn Du „die Messe“ betest.
Auch die Katholische Jugendbewegung griff die wesentlich durch das Kirchengebet[1] geprägte Erneuerung der Liturgie auf. Diese Form nannte man Gemeinschaftsmesse. Karl Leisner bezeichnet sie in seinem Tagebuch sogar einmal als „Guardini Messe“.
[1] Das Kirchengebet (Kirchengebet 1930: 12–38) enthält den Verlauf der Eucharistiefeier in lateinischer und deutscher Sprache sowie Hinweise auf das, was der Priester zu beten hat und auf das, was die Mitfeiernden laut mitbeten.
Paul Hellraeth und Jakob Küppers, Pfarrer in Kleve, haben den Jugendlichen verboten, Gemeinschaftsmessen in den Pfarrkirchen zu feiern, wohingegen Karl Leisners damaliger Religionslehrer Walter Vinnenberg diese Messe mit den Jungen in der Hauskapelle der Münze feierte, deren Hausgeistlicher er war.
Wo ist heute die Jugend, die eine Bewegung im christlichen Geist anstößt und fortsetzt?
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Noch bis zum 28. Januar 2018 zeigt das „Kulturgut Haus Nottbeck – Museum für Literatur“ eine interessante Ausstellung über die 68er mit dem Titel „1968 – Pop, Protest und Provokation“.
Link zur Ausstellung
Impressionen von der Ausstellung
Quelle der nicht ausgewiesenen Fotos: Gabriele Latzel