Wie roch der Erste Weltkrieg?

Tolaas

 

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Die norwegische Geruchsforscherin Sissel Tolaas, geboren 1961, las Tagebücher, um zu erfahren, wie die Gräben und wie der Tod im Ersten Weltkrieg gerochen haben. Bei Karl Leisner wäre sie nicht fündig geworden, ganz abgesehen davon, daß er nicht über den Ersten Weltkrieg berichten konnte. In seinen Tagebüchern ist nur einmal, und das im übertragenen Sinn, von „riechen“ die Rede, und zwar am Beginn des Arbeitsdienstes in Dahlen. Ansonsten spielen Gerüche in seinen Tagebüchern und Briefen keine Rolle.

Dahlen, Sonntag, 4. April 1937, Weißer Sonntag
6.00 Uhr weckt uns das Horn. Raus! Riesentam­tam, Frühsport – oh, es geht mit Dampf los. – Ich denke an daheim, an die kirchliche Feier [zur Erstkom­munion] und an alles Schöne. Aber sonst ist Betrieb: Sachenfassen den gan­zen Tag![1] Das erste „Sichberiechen“ be­ginnt. Gutes Futter! Ich bete kurz dazu wie da­heim.[2]

[1] Rolf von Gönner:
Der Arbeitsmann wird im Reichsarbeitsdienst vom Kopf bis zu den Füßen eingekleidet. Er ist verpflichtet, die Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke, die er von der Kammer zum Gebrauch erhält, auf das sorgfältigste zu behandeln und zu pflegen (von Gönner, Rolf:  Spaten und Ähre. Das Hand­buch der deutschen Jugend im Reichsarbeits­dienst, Heidel­berg 1936: 172).
[2] Im Gespräch mit Hans-Karl Seeger am 25.6.1999 berichtete Willi Väth, laut Erzäh­lungen seiner Mutter Paula Väth habe Karl Leisner im RAD immer ein Kreuz­zeichen vor den Mahlzeiten ge­macht.

Es ist erstaunlich, daß der sinnenfreudige Karl Leisner sicherlich die verschiedensten Gerüche in der Welt wahrgenommen hat, aber nie in seinen Tagebüchern darüber berichtet.

Unter dem Titel „Der Dunst von Schießpulver und versengtem Fleisch“ leitete die F.A.S. am 6. Juli 2014 einen Artikel von Andrea Walter wie folgt ein:
Wie der Erste Weltkrieg roch, wie die Schützengräben, die Leichen – das kann man nicht in Archiven finden. Aber man kann es rekonstruieren, sagt die Geruchsforscherin Sissel Tolaas.

Andrea Walter berichtet in ihrem Gespräch mit Sissel Tolaas u. a.:
Der Erste Weltkrieg riecht modrig. Dunkel. Nach feuchter Erde. Er riecht nach Schießpulver, Blut, bandagierten Wunden, nach Pferdekadavern und lehmigem Boden. Krieg riecht nicht gut.
Krieg, sagt Sissel Tolaas, sei heute nur noch Ästhetik. Die Bilder, die wir aus Filmen und dem Fernsehen kennen, berührten uns schon längst nicht mehr. Zu oft hätten wir sie gesehen. Zu fern seien sie uns. Gerüche aber kommen uns nah, weil sie so unumwunden auf uns wirken.
[…]
Vor allem dann, wenn man gerade Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ noch einmal gelesen hat. Es riecht, als wäre man unmittelbar dabei. Als höre man den Protagonisten Paul Bäumer sprechen: „Erde – Erde Erde! Erde, mit deinen Bodenfalten und Löchern und Vertiefungen, in die man sich hineinwerfen, hineinkauern kann! Erde, du gabst uns im Krampf des Grauens, im Aufspritzen der Vernichtung, im Todesbrüllen der Explosionen die ungeheure Widerwelle gewonnenen Lebens! … Man kann es nicht erklären. Man geht und denkt an nichts – und plötzlich liegt man in einer Bodenmulde und über einem spritzen die Splitter hinweg; aber man kann sich nicht entsinnen, die Granate kommen gehört oder den Gedanken gehabt zu haben, sich hinzulegen. Hätte man sich darauf verlassen sollen, man wäre bereits ein Haufen verstreutes Fleisch.“
Es ist ein heftiger Geruch, der Geruch der Schlacht, räumt Tolaas ein. Aber darum geht es ihr auch: die Welt abzubilden in Molekülen. Die Realität, so wie sie ist. Wir seien viel zu sehr auf unseren Sehsinn fixiert, findet die Norwegerin. Wir sollten den Geruchssinn ernster nehmen. Und die vielen Informationen, die in Gerüchen stecken.
[…]
Den Geruch des Ersten Weltkriegs gab es nun einmal – glücklicherweise – nicht mehr. Die Geruchsforscherin recherchierte also in Büchern und Archiven, wie es damals in den Schützengräben etwa in Frankreich und Belgien wohl gewesen sein mag und was dort in der Luft lag. Sie las in Tagebüchern damaliger Soldaten, sprach mit Generälen der Bundeswehr und mit Veteranen und fragte sie: Wie riechen die Gräben? Wie riecht der Tod? Wie riechen Kadaver? Anderthalb Jahre lang arbeitete sie an der richtigen olfaktorischen Mischung, die sie chemisch aus den unterschiedlichsten Elementen zusammenstellte.
Heute kann man eine Vorstellung davon bekommen – in dem ohnehin beeindruckenden Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, das darauf setzt, zu zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Schon von außen kann man es sehen. Der Architekt Daniel Libeskind hat einen riesigen stählernen Keil in das Gebäude hinein getrieben, der die Fassade durchdringt. Man kann den Keil sogar betreten, keine Wand ist dort gerade, auch der Boden nicht. Es soll zeigen, wie sehr ein Krieg alles aus den Angeln hebt.
Wenn Hauptmann Martin Nagel heute mit den Besuchern durch die Ausstellung geht und ihnen vom Geruch des Ersten Weltkrieges erzählt, zeigt sich anfangs oft Skepsis in den Gesichtern, erzählt er. Und wenn sie dann eine Prise davon nehmen, „merkt man, wie es in ihren Köpfen arbeitet. Wie sie überlegen, was das genau sein könnte, was sie da riechen.“ „Riecht wie feuchter Boden“, sagen dann viele. Oder: „Wie ein nasser Lappen.“ Manche finden es eklig und zeigen Abwehr.
Wie stark die Reaktion ausfällt, hängt sicher auch davon ab, wie sehr man sich mit dem Krieg auseinandergesetzt hat – mit den jungen Männern, die damals vielfach freiwillig in den Krieg marschierten, bevor sie später in den Schützengräben zu Hunderttausenden starben oder die Kameraden qualvoll verenden sahen und nach Kriegsende gebrochen nach Hause kehrten.
Die meisten Besucher zeigen sich beeindruckt, wenn sie den Geruch der Schlacht gerochen haben, erzählt Hauptmann Nagel. Man erkenne Betroffenheit. Krieg von einer Abstraktion in einen Sinneseindruck zu verwandeln: Keine ganz geringe Leistung für – einen Geruch.

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