Unter der Überschrift „Menschen statt Bücher – Warum Zeitzeugen im Geschichtsunterricht eine Chance, aber auch ein Problem sein können“ entfaltete Heike Schmoll in der F.A.Z. vom 20. April 2017 die Vor- und Nachteile der Aussagen von Zeitzeugen gegenüber schriftlichen Quellen.
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Foto Joachim Albrecht / medienflotte.de
In der F.A.Z. erschien nach dem 2. Oktober 2000 ein Leserbrief von Prof. Dr. Peter Schade aus Freudenstadt als Antwort auf den im F.A.Z.-Feuilleton vom 2. Oktober 2000 erschienenen Artikel „In ihrem alten Dieselton“ über den 43. Deutschen Historikertag von Ulrich Raulff. Prof. Dr. Peter Schade schreibt:
„Denn kein noch so aufwendiges Forschungsvorhaben zur Auswertung vergilbter Akten und meterlanger Nachlässe schützt uns davor, so wahrzunehmen, wie wir es in unserem Gehirn konstruieren. Das war der Kern des Eröffnungsvortrages von Wolf Singer.“
Historiker stützen sich auf ihnen zur Verfügung stehende Mittel, vorwiegend auf schriftliche Dokumente, darunter auch Berichte von Zeitzeugen. Diese sind besonders kritisch zu betrachten; denn es gibt sehr verschiedene Arten von Wahrnehmung. Man denke nur an die unterschiedlichen Aussagen von Augenzeugen zu ein und demselben Vorfall. Nur äußerst selten gelingt ein unvoreingenommenes Wahrnehmen; normalerweise ist unsere Wahrnehmung geprägt von unseren eigenen Emotionen und auf Grund dessen nicht objektiv; denn unser Erinnerungsvermögen geht vorwiegend auf unsere eigenen Erlebnisse und Erfahrungen zurück und ist daher mit einer kritischen Distanz zu beurteilen. Dabei hilft zum Beispiel das Hinzuziehen anderer Quellen, die ihrerseits allerdings nicht selten auch Lücken aufweisen.
Es gibt Berichte über den Reichsarbeitsdienst in der NS-Zeit, die nach 1945 aus der Erinnerung aufgeschrieben wurden. Dabei gilt es zu beachten, daß unser Gedächtnis weder mit einem Computer zu vergleichen ist, mit dem sich abgespeicherte Dateien abrufen lassen, noch mit einem DVD- oder Videorecorder; denn unsere Erinnerung ist ein dynamischer und auch kreativer Prozeß. So ergänzt nicht selten das, was wir gelesen, gehört oder gesehen haben, unsere Erinnerung. Von Karl Leisner gibt es Notizen, die er sich direkt während des Arbeitsdienstes gemacht hat und nicht erst später aus der Erinnerung aufgeschrieben hat; daher sind diese für Historiker besonders wertvoll.
Was für die Erinnerung an den Arbeitsdienst gilt, läßt sich diesbezüglich auch auf Kriegserlebnisse übertragen. Zeitzeugen bekunden nicht selten sehr anrührend ihre am eigenen Leib erfahrenen Schicksale. Diese zum Teil traumatisierenden Erlebnisse lassen sich nicht mit den Ereignissen selbst gleichsetzen; denn eine entscheidende Leistung des Gedächtnisses ist auch das Vergessen.
Die minutiöse Erforschung eines bestimmten Zeitraumes durch Wissenschaftler zahlreicher Fachrichtungen und eine umfassende Anhäufung von Daten und Fakten spiegeln relativ objektiv das Bild der jeweiligen Zeit wider. Dieses läßt sich durchaus mittels Hinzuziehung von in der jeweiligen Epoche geschriebenen Tagebüchern ergänzen. Losgelöst von historischen Untersuchungen und Statistiken geben sie Einblick in Leid und Not der Menschen während einer bestimmten Epoche. Die historische Forschung begleitend, manifestieren solche Aufzeichnungen ein ureigenes „kulturelles Gedächtnis”.
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Die Probleme, die bei der Quellenarbeit im Geschichtsuntericht und in der Geschichtswissenschaft auftreten, bestanden auch bei der Erstellung der Lebens-Chronik zu Karl Leisner. Die nachfolgenden Ausführungen sind diesem Werk entnommen.[1]
[1] Karl Leisner – Tagebücher und Briefe – Eine Lebens-Chronik, 5 Bände, herausgegeben von Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel im Auftrag des Internationalen Karl-Leisner-Kreises (IKLK) unter besonderer Mitarbeit von Christa Bockholt, Hans Harro Bühler und Hermann Gebert, Kevelaer 2014: 36-38
[Es bestand die Absicht], Karl Leisners Leben so darzustellen, wie es wirklich war, gemäß dem Motto des modernen Kaisers Friedrich II. (1194–1250), dessen besonderes Interesse den Naturwissenschaften galt: „Manifestare ea, quae sunt sicut sunt. – Das, was ist, so zeigen, wie es ist.“[1]
Die ganze Wirklichkeit eines Menschen objektiv zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Jeder sieht den anderen mit seinem persönlich geprägten Blick. Es gilt der Grundsatz: „Quidquid recipitur in aliquo, est in eo per modum recipientis, et non per modum suum. – Alles was aufgenommen wird, wird aufgenommen in der Weise des Aufnehmenden, nicht in der Weise des Seins.“[2]
[1] Friedrich II. von Hohenstaufen in seinem Falkenbuch
[2] Thomas von Aquin: De veritate [Die Wahrheit], q. 12a. 6 arg. 4
Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist immer auch Konstruktion einer bestimmten Vorstellung. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die Aussagen im Seligsprechungsprozeß bezüglich Karl Leisners nasser Rippenfellentzündung von 1936, die laut der Zeugen 1937 nach dem Reichsarbeitsdienst eingetreten sein soll. Im Seligsprechungsprozeß berichten seine Mutter Amalia Leisner, seine Schwestern Maria und Elisabeth, Elfriede Mütter und Paul Dyckmans von dieser Krankheit, ordnen sie aber alle zeitlich zu spät ein.
Samstag, 28. November 1936
Abschied von meiner lieben Mutter. Letzte Ermahnung für den Rippenfellgenesenden.
Karl Leisner war bereits in den Semesterferien nach dem Sommersemester 1936 an Rippenfellentzündung erkrankt. Dies geht aus den an Karl Leisner gerichteten Briefen hervor, die die Gestapo ab Oktober 1936 abgefangen, abgeschrieben und in der Gestapo-Akte 9619 in Düsseldorf gesammelt hat.
Man sieht und erinnert sich lediglich an das, was die eigene These bestätigt, in diesem Fall „Adolf Hitler hat unseren Karl im Reichsarbeitsdienst krank gemacht“.
Aber auch schriftliche Urkunden sind nicht immer zuverlässig: Karl Leisners wirkliches Firmdatum am 20. Juli 1927 in der Stiftskirche St. Mariä Himmelfahrt in Kleve stimmt nicht mit den Einträgen in den Kirchenbüchern überein.
Karl Leisner trug selbst falsche oder unterschiedliche Daten an verschiedenen Stellen zu ein und demselben Ereignis ein. Nicht selten machte er nur ungefähre Angaben.
Bei allem ist zu bedenken: Was immer über ein Ereignis festgestellt oder ausgesagt wird, bleibt gebunden an die sprachliche Vermittlung. Diese ist nicht unbedingt identisch mit dem eigentlichen Ereignis.
[…]
Die ersten Heiligen der Kirche waren die Martyrer; über sie gibt es viele Legenden. Legendenbildung ist ein untrüglicher Beweis dafür, daß ein Erlebnis tief in das Bewußtsein eines großen Kreises von Menschen eingedrungen ist und deren Seele und Geist ergriffen und bewegt hat.
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Erstaunlich ist, daß sich, obwohl noch Zeitzeugen leben, auch schon um den seliggesprochenen Karl Leisner Legenden gebildet haben. Die eindrucksvollste rankt sich um sein Zingulum, einen Gürtel zum Schürzen der Albe, des weißen liturgischen Untergewandes der Geistlichen.
Früher sprach der Priester Gebete beim Anlegen der Meßgewänder.
Joseph Lechner, Ludwig Eisenhofer:
Das Gebet, welches bei der Anlegung gesprochen wird, faßt das Zingulum, weil es die Lenden, den Sitz der Begierlichkeit, einschnürt, als Symbol der Keuschheit auf.[1]
[1] Liturgie des römischen Ritus, Freiburg 1953: 117
Das Gebet lautet:
Praecinge me, Domine, cingulo fidei et virtute castitatis lumbos meos, et exstingue in eis humorem libidinis; ut jugiter maneat in me vigor totius castitatis. – Umgürte meine Lenden, Herr, mit dem Gürtel des Glaubens und der Tugend der Keuschheit, und lösche in ihnen die Glut der Begierde, damit die Kraft der vollkommenen Keuschheit immer in mir bleibt.
Während seiner Außensemestern in Freiburg hatte Karl Leisner sich in Elisabeth Ruby, die älteste Tochter seiner Wirtsleute, verliebt. Er wußte, wenn er Priester werden wollte, mußte er auf die Erfüllung dieser Liebe verzichten. Aber Verzicht heißt nicht, nicht mehr lieben. Vermutlich hat ihn gerade diese Liebe bei all dem hochgehalten, was er in seinem Leben noch durchmachen mußte.
Wenn diese Liebe für ihn eine Kraftquelle war, so fand sie ihren symbolischen Ausdruck in dem Zingulum, das Elisabeth Ruby für ihn gewebt und ihm zu seinem Namenstag am 4. November 1939, dem Fest des hl. Karl Borromaeus, ins Lungensanatorium nach St. Blasien geschickt hatte. Es erreichte ihn aber erst im Gefängnis von Freiburg. Dort befand er sich auf Grund seiner Äußerung zum mißglückten Attentat von Georg Elser auf Adolf Hitler am 8. November 1939.
Karl Leisner führte vom 12. Lebensjahr an Tagebuch. Im Gefängnis hatte er aber nur sein Missale (Meßbuch) und sein Brevier (Stundenbuch) zur Verfügung. Am Donnerstag, dem 23. November 1939, schrieb er auf freie Seiten in sein Missale:
Elisabeth schickte mir ein Zingulum zum Namenstag. Es kam mit aus St. Blasien. Soviel Freude!
Sonntag, 26. November 1939
Elisabeths Zingulum beschaute und erprobte ich. Gott, wie gute Menschen hast Du mir geschenkt.
Karl Leisner am 1. November 1941 aus Dachau an Familie Ruby in Freiburg:
Verehrte, liebe Mutti Ruby und liebe Elisabeth!
Zu Euerm Namenstag [am 19. November] möchte ich Euch aus frohem Herzen Glück und allen Segen Gottes wünschen. Zwei Jahre sind’s her, daß Dein Zingulum, Elisabeth, mir zur Johannisstraße [Johanniterstraße ins Gefängnis nach Freiburg] nachgesandt wurde. Im Geiste des Sichgürtens [vgl. Ex 12,11; Joh 21,18; Eph 6,14] hab’ ich die Zeit gut genützt und danke Euch immer wieder für den Trost und die Freude, die Ihr mir schenktet. Gebe der Herr Euch die Kraft, Seine Opfer zu tragen.
Es ist verständlich, daß sich zahlreiche Legenden gerade um dieses Zingulum gebildet haben. Die Legendenbildung beginnt bereits in der von Pater Otto Pies SJ 1950 verfaßten Biographie über Karl Leisner[1]:
Eben die Seele [Elisabeth Ruby], deretwegen er vor Jahren so heftige Kämpfe um den Beruf und den Verzicht auf irdische Liebe und Familienglück durchgefochten hatte, schickte ihm in das Gefängnis als Zeichen des Gedenkens und Verstehens ein Weihnachtsgeschenk. Nicht war darin ein Tannenzweig oder Gebäck oder Sonstiges, was man zu solcher Zeit schenkt. Nein! Karl hielt in seinen Händen ein Cingulum, einen zu den priesterlichen Gewändern gehörenden Gürtel, auf den die Worte gestickt waren: vinctus Christi = Gefangener Christi.[2]
[1] Otto Pies: Stephanus heute – Karl Leisner, Priester und Opfer, Kevelaer 11950
[2] ebd. 104 – es erschienen noch folgende Auflagen: 21950, 31951, 41953, 51958, 61962, 7. Auflage 2008 kommentiert von Hans-Karl Seeger
Pater Otto Pies kannte die Begebenheit vermutlich aus Karl Leisners eigenen Erzählungen, hatte aber nicht mehr Karl Leisners Namenstag als Anlaß für das Geschenk präsent.
Heinrich Tenhumberg, Bischof von Münster und Kursgenosse von Karl Leisner, sagte in einer Ansprache im Bayrischen Rundfunk zum Sonntag, dem 19. März 1978, unter dem Titel: KATHOLISCHE WELT – Gefangener für Christus – Das Zeugnis des Diakons Karl Leisner:
Sieben Jahre später schickt sie [Elisabeth Ruby] ihm ein handgearbeitetes Zingulum ins Freiburger Gefängnis. Ein Zingulum, das ist ein Strick, mit dem der Priester sich für den Dienst am Altar gürtet. Darauf hatte sie die Worte gestickt „Vinctus in Domino – Gefesselter für den Herrn!“ Zwei junge Menschen opfern ihre junge Liebe dem Herrn.
Das klingt beeindruckend, wenn man bedenkt, wie sehr Karl Leisner gerungen hat, ob er Elisabeth heiraten und mit ihr eine Familie gründen solle. Doch statt sich an sie zu binden, blieb er dem Ruf zum Priestertum treu und band sich an Christus, wurde sein „Gefangener“.
Elisabeth Ruby hat Karl Leisner in seinem Wunsch, Priester zu werden, unterstützt.
Am 8. Mai 1974 schrieb Pfarrer Josef Perau an Dr. Emil Spath vom Informationszentrum Berufe der Kirche in Freiburg:
Ein Schwager Karl Leisners, Herr Rektor [Wilhelm] Haas, hat in den Osterferien in Freiburg und St. Blasien unmittelbare Zeugen der Verhaftung und Haftzeit besucht und festgestellt, daß einiges nicht genau stimmt, was Otto Pies S.J. in seiner Biographie: Stephanus heute, wahrscheinlich nach Erzählungen K. L. berichtet. So auf Seite 104. Die beteiligte Dame [Elisabeth Ruby] weiß sicher, daß sie die Worte „vinctus Christi“ nicht auf das Zingulum gestickt hat. Wohl haben beide die Symbolik des Geschenkes so verstanden.
René Lejeune erwähnt in seiner Biographie über Karl Leisner[1] zwar keine Stickerei, verwechselt aber, vermutlich gestützt auf das Buch von Pater Otto Pies, ebenfalls den Anlaß für das Geschenk:
An Weihnachten bekam er ein Päckchen mit einem kostbaren Geschenk, das einen großen Symbolwert hatte: Ein geflochtener Stoffgürtel für das priesterliche Gewand: das Zingulum. Elisabeth hatte dieses Zingulum angefertigt.[2]
[1] René Lejeune, Wie Gold im Feuer geläutert“, Hauteville 1991
[2] ebd. 210
Die Legende verbreitete sich weiter und erweiterte sich noch. Das „Informationszentrum Berufe der Kirche“ in Freiburg hat 1996 im Heft 34 „Berufung – Zur Pastoral der geistlichen Berufe“ auch über Karl Leisner berichtet. Dort heißt es unter anderem:
Später – Leisner ist Diakon – kreuzen sich die Wege [von Elisabeth Ruby und Karl Leisner] nochmals. Der Ort der Begegnung ist das Freiburger Gefängnis. Zu Weihnachten überreichte sie ein Zingulum mit den aufgestickten Worten „Vinctus Christi“. Und er ist wirklich ein „Gefangener Christi“, der seine Berufung und Entscheidung bis in die letzte Konsequenz durchträgt…[1]
[1] Berufe der Kirche, Freiburg 1996, Heft 34: 50
Nach Ausbruch des Krieges lebte Elisabeth Ruby in Radolfzell. Dort webte sie ein Band, aus dem zwei Zingula gefertigt wurden; das Webholz ist noch im Besitz der Familie. Ein Zingulum sollte ihr Bruder Bernhard zur Priesterweihe bekommen (Dezember 1939) und eines schickte sie als Geschenk zum Namenstag an Karl Leisner nach St. Blasien. Das Zingulum ist noch erhalten, es befindet sich darauf keine Stickerei.
Elisabeth Ruby im Seligsprechungsprozeß:
Es gelang meiner Mutter, nachdem sie erfuhr, dass Karl im Gefängnis in Freiburg war, Karl dort zu besuchen. Meine Schwester Gertrud müsste Näheres berichten können, wie Mutter KL im Gefängnis angetroffen hat. Karl schrieb mir, das Zingulum, das ich ihm während meines Aufenthaltes in Radolfzell gewebt und wohl zu seinem Namenstag (4. November) nach St. Blasien geschickt hatte, sei ihm in die Johanniterstrasse in Freiburg, also ins Gefängnis, nachgeschickt worden. (Es trifft nicht zu, dass ich einen Spruch auf das Zingulum gewebt oder gestickt hatte, wie in dem Buch von P. Pies „Stephanus heute“ behauptet wird.)[1]
[1] Seligsprechungsprozeß: 911
Es ist bemerkenswert, daß die Pfingsten 1943 gegründete Schönstattgruppe im KZ Dachau in der Fastenzeit 1944 den Namen „Victor in vinculis“ annahm und diese Worte auch in den Bischofsstab geschnitzt sind, den Karl Leisners Mithäftling im KZ Dachau, Bischof Gabriel Piguet, bei dessen Priesterweihe verwendet hat.